Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 3. August 2019 FEUILLETON 33


EinAltmeister an der Schwelle zur Moderne:


William Turners Schaffen ist in Luzern zu sehen SEITE 34


Thomas Ostermeier klammert sich in der Inszenierung von


«Jugend ohne Gott» zu sehr an dieRomanvorlage SEITE 35


Das Gesicht spricht seine eigene Sprache

Im Spiegel erkennen wi r uns selbst. Und tr otzdem wüssten wir nicht zu sagen, woran wir uns wiederer kennen.Von Andrea Köhler


Immer schon hat es mich fasziniert, dass
man in den Gesichtern vonFremden zu-
weilen die Zügeeinesvertrauten Men-
schen wiedererkennt.Das Einzigartige
und das Überindividuelle liieren sich
dann zu einerentstellten Ähnlichkeit
wie imTraum.«Die sieht aus wie Hanna
mit schwarzen Haaren», sagen wir etwa,
oder: «Das ist Christian, nur zehnJahre
jünger.» Nicht selten meint man auch
ein Gesicht von einem alten Gemälde
in Fleisch und Blut vor sich zu haben –
Frauengesichter wie vonVermeer oder
da Vinci gemalt.
Was es ist, das solch eine frappie-
rende Ähnlichkeit produziert, ist mit-
unterschwerer zu sagen. Eine objektive
Gle ichheit der Züge? Ein Archetypus,
der sich durchJahrhunderte hält? Oder
doch nur unsere immer nachVerglei-
chen lechzende Einbildungskraft?
Auf der griechischen Insel,auf der
wir seit vielenJahren unsereFerien ver-
bringen, gibt es einen Mann, den haben
wir «das Gesicht» genannt.Das Gesicht
dieses Mannes ist mit der Zeit älter ge-
worden, doch merklich verändert hat es
sich nicht. Es ist ein langes Gesicht mit
archaischen Zügen, so unbewegt, dass
man meint,eine Maske vor sich zu se-
hen.Vielleicht sind auch deshalb die
Spuren desAlters an ihm vorübergegan-
gen – oder besser gesagt:Sie fallen nicht
ins Gewicht.
Dieses Gesicht ist einRätsel, nicht
eigentlich in Stein gehauen oder aus
Holz geschnitzt,sondern etwas dazwi-
schen, fest und ätherisch zugleich.Das
Rätselhafte an dem Gesicht aber ist,
dass es immer denselbenAusdruck zu
tragenscheint, jahraus, jahrein die glei-
che melancholische, ja tragischeMiene.
Auch kommt es mir vor, als sei das Ge-
sicht immer allein.Aber dieser Eindruck
resultiert vermutlich aus der Singularität
dieser seltsamen Physiognomie.


Was an dem Mann freilich am meis-
ten auffällt,sindnicht unbedingt die
markanten Züge als vielmehr der Um-
stand, dass zwei tiefeKerben dieWan-
gen spalten.Sie sehen aus, als hätten sich
zwei Rinnsale unbarmherzig in sein Ge-
sicht gegraben. Zugleich verführt dieses
spezifische Merkmal dazu, das Antlitz
aufzuteilen und Stirn, Nase, Kinn und
Wangen getrennt wahrzunehmen. Ob-
schon es eigentlich andersherum sein
müsste, ist es , als ob das Gesicht unse-
ren Blick dekonstruiert.

Lebensspurenwerdenlesbar


Was alles arbeitet mit an derWahr-
nehmung eines Gesichts? Stereotype
sicher, allem voran dievon Schönheit,
Alter, Geschlecht.Natürlich ist die Be-
urteilung eines Gesichts auch epochen-
abhängig. Über dieWangen von jungen
Mädchen etwa ist früher manches ge-
schrieben worden,zu einer Zeit,als man
sich noch an der Lieblichkeit errötender
Unschuld ergötzte. Das ist Äonen her.
Aber dieWangenpartie von Männern?
AllenfallsPausbacken finden zuweilen
Erwähnung – also eine Entstellung.
Beim männlichen Geschlecht sind es
traditionell vor allem Stirn oder Nase,
die bei derKonturierung derWahr-
nehmung die Hauptrolle spielen. Der
Mann, den wir «das Gesicht» genannt
haben,sticht ausser durch seineWan-
genfurchen insbesondere durch das
Kinn hervor. Es ist ein Kinn,das das Ge-
sicht noch mehr in dieLänge zieht – ein
ovales, kein kantiges, männliches Kinn.
Ein markiger Kiefer signalisiert gemein-
hinVirilität,die in derPolitik,besonders
der amerikanischen, als Statement von
Autorität und Entschlossenheit gilt.Da-
von ist das Kinn dieses Mannes weitent-
fernt. Doch die Irrtümer, ja Verbrechen,
die daher rühren,dass man von der Phy-

sio gnomie auf den Charakter schliesst,
sind bekanntlich Legion.
Das Gesicht sei ein «Irgendetwas»,
schreibt Emmanuel Levinas,«das weder
Subjekt noch Substantiv ist».Vielleicht
kann man das auf einer kleinen Insel
auch deshalb so gut studieren, weil der
Kosmos so überschaubar ist. Mankennt
die Gesichter, ohne die Menschen zu
kennen – nicht das Subjekt, aber das
Substantiv. Und wenn man nicht immer
da ist, aber oft wiederkommt, hat man
genügend Abstand, um die Spuren, die
das Alter oder das Schicksal graben, im
«Irgendetwas» zuregistrieren.
Mitunter sind es dann weder Al-
ter noch Schicksal, sondern die Schön-
heitschirurgie, die ein Gesicht verän-
dert und dabei nicht nur dieJahre oder
die Schicksalsschläge, sondern auch die
individuellen Zügeauslöscht.So traf ich
unlängst beim Gang durch die abend-
lichen Gassen auf eine Norwegerin, die
seit vielenJahren die Sommer auf der-
selben Insel verbringt.Ich hätte sie nicht
wied ererkannt, wären nicht ihre weiss-
blonde Mähne und die gleichfalls flachs-
blonden Zwillingstöchter gewesen.

GespenstischeVeränderungen


Nach den Standards der Schönheits-
industrie sah sie phantastisch aus. Und
doch hat michihr Anblick unwillkürlich
gegraust. Sie glich vollkommen einem
Klischee – als ob ihr Gesicht aus Plas-
tikgefertigtsei.DasBefremdlichsteaber
war, dass jede Herzlichkeitnicht allein
ausihrenZügen,sondernauchausihrem
Verhalten gewichen war. Im Nachhinein
kommt es mir vor, als könne dies nicht
dieselbePerson gewesen sein.
Vielleicht war sie sich aber auch nur
der gespenstischenWirkung ihrerVer-
änderungen bewusst. In meinem weib-
lichen Bekanntenkreis wird über die

Möglichkeit einer Schönheitsopera-
tion gern mit einer Mischung aus leisem
Neid, Geringschätzung und unterdrück-
ter Bewunderungdiskutiert. Doch wird
man den Eindruck nicht los, dass die
meisten sich vor einem solchen Schritt
zu allererst fürchten. Zu gross ist die
Gefahr, dass man sich beim Blick in den
Spiegel nicht wiedererkennen würde.
Aber will man das überhaupt? Nicht
nur das Alter verändert das Bild, das
man von sich hat. Der Sprechakt des
eigenenGesichts wirdjal ängst von den
Posen undPerspektiven der Selfie-Kul-
tur überbestimmt.Unser Gesicht gehört
uns schon lange nicht mehr.

«Im Spiegel: derFeind»


Das «Märchen vomgestohlenen Ge-
sicht»wird heutefreilichvoralleminden
Datenbanken der grossen Internetkon-
zerne wahr. Forschungseinrichtungen,
Firmen und Sicherheitsdienste greifen
unsere Gesichter systematisch von Sei-
ten wieFacebook,Instagram oderTwit-
ter ab. Sie speichern sie in riesigen digi-
talen Depots,die dann mitRegierungen
und privaten Unternehmen geteilt wer-
den, um wiederum Algorithmen zu trai-
nieren,diedieTechnologiederGesichts-
erkennungvorantreiben sollen.Dass es
dabei nicht bleibt,ist b ekannt. Handkes
Satz «Im Spiegel: derFeind» bekommt
einen ganz neuen Sinn, wenn das eigene
Gesicht zumVerräter wird.
Dass es leicht ist, mit Gesichtserken-
nungsprogrammen wie «Find Face»
einen Menschen ausfindig zu machen,
ist vonDatenschutzaktivisten inzwi-
schen oft genug demonstriert wor-
den; die gleichnamigeApp, die einen
Schnappschuss mit Bilddatenbanken
und den sozialen Netzwerken abgleicht,
kann jeder herunterladen. DieTreffer-
quote bei der Gesichtserkennungssoft-

ware liegt derzeit bei mindestens achtzig
Prozent;selbst die Identifizierung ein-
eiiger Zwillinge ist für die Software ein
leichtes Spiel.

Odysseus’ Hund


Da ist man fast froh, wenn dem Irr-
tum in der Natur noch eine Chance ge-
geben wird. EinFreund,Teil eines ein-
eiigen Zwillingspaars, erzählte neulich,
wie dieAnwesenheit des Bruders seinen
Hund durcheinandergebracht habe.Als
der Freund ins Zimmer trat, dachte der
Hund,der wahre Besitzer sei bereits da
und bellte seinen Herrn an.
NunidentifizierteinHundeinenMen-
schen vermutlich nicht in erster Linie
übers Gesicht, obschon auchTiere uns
in dieAugen schauen,um unsereAbsich-
ten einzuschätzen. Der Irrtum des Hun-
des aber lässt die rührende Geschichte
von Odysseus’ Heimkehr in neuem
Lichte erscheinen.Als Homers Held zu-
rücknachIthakakam,abgerissenundum
zwanzig Jahre älter geworden, war sein
Hund Argos der Einzige, der ihn wie-
dererkannte. Der Hund meinesFreun-
des war dagegen durch die Ähnlichkeit
der beiden Brüder so irritiert,dass er sei-
nenBesitzerverwechselte.Esgibtzuden-
ken, wenn selbst der Instinkt eines Hun-
des von derTrefferquote der Biometrie
übertroffen wird.
Apropos: Ich kenne Kinder, die ihren
Eltern nicht im Geringsten ähneln.
Doch manchmal huscht ein vertrau-
ter Ausdruck überihr kleines Gesicht,
ein Hauch von Ähnlichkeit – wie eine
Brise. Und vielleicht ist es nicht zuletzt
das, was wir in fremden ebenso wie in
vertrauten Gesichtern wiedererkennen:
den Ausdruck eines «Irgendetwas», die
entstellteÄhnlichkeit,die mit den Kara-
wanen der Generationen durch unsere
Gesichter zieht.

Jedes Gesicht bleibt ein Rätsel.Wir erkennen bloss,was wir bereits zu kennen glauben. STEVEN SENNE / AP
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