Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

34 FEUILLETON Samstag, 3. August 2019


Einer nur kann die Unendlichkeit malen


Ihm gefiel Luzern,er malte die Rigi. Aber auf seine Art: Tu rner war der letzte Altmeister– und ein Visionärder Moderne


MARIA BECKER


Das Meer und der Himmel, die Berge
und die Silhouetten der Städte –Joseph
MallordWilliamTurner, 1775 als Sohn
einesBarbiers in London geboren, ist
der letzte Grossmeisterder Landschafts-
und Panoramamalerei.Viele der ande-
ren Grossen,die nach ihm kamen,haben
von seinerKunst gelernt und mit deren
Virtuosität gewetteifert.Für jeden, der
im 19.Jahrhundert die Malerei als Male-
rei ins Zentrumseiner Kunst stellte,
mussteTurner zum Angelpunkt wer-
den. Noch Claude Monet,er v or allem,
hat sich von dem englischen Meister
herausfordern lassen.Triumphierend
stellte derFranzosenach dem Erfolg sei-
nerThemse-Ansichten fest,dass es gran-
dios war, London so einen entscheiden-
den Schlag versetzt zu haben.
Turner:Er war einrastloserKünstler,
enorm produktiv und immer auf der Su-
chenach Motiven.DievielenReisen,die
er bis wenigeJahrevor seinemTod 1851
unternahm, waren essenziell. Ein Hun-
ger nach spektakulärenLandschaften
und neuen Szenerien, nach berühmten
Kulturstätten und nicht zuletzt nach den
Zen tren derKunstgeschichte trieb ihn
an.Zunächst innerhalb Englands,dann
ab 1802 in Richtung Süden unterwegs,
hatteTurner schon bald den Louvre be-
sucht undTizian,Raffael, Rembrandt,
Poussin und Lorrain skizziert und sich
für sein künstlerisches Gedächtnis ange-
eignet.Ermasssichselbstverständlichan
den Grossen derVergangenheit, ebenso
wiesichNachkommendeanseinerKunst
messen sollten.Ihm war bewusst, dass er
seineHeimatinseldazuverlassenmusste.
Gleichwohl blieb er London und dessen
Institutionen eng verbunden.


Ein Unternehmer


Ein Wunderkind, wie man heute sagen
würde, war der aus kleinenVerhältnissen
stammendeMaler.Von seinemVater ge-
fördert,kamTurner früh zu Lehrern und
Gönnern, die dasTalent erkannten. Mit
vierzehnJahren wurde er zum Studium
an derRoyal Academy zugelassen, mit
Anfang zwanzig war er finanziell unab-
hängig. Schon1804 besass er so vielVer-
mögen, dass er eine eigene Galerie an
seinem Haus anbauen liess. Potenzielle
Kundenkonnten dortAquarelle und
Gemälde bestellen. AlsArchitektur-
zeichner undLandschaftsmaler versiert,
sorgteTurner ausserdem durch Zusam-
menarbeit mitKupferstechern undVer-
legern gezielt für dieVerbreitungseiner


Motive. Sein Erfolg als Geschäftsmann
ist nicht zuletzt derkonstanten Liefe-
rung für Druckwerke geschuldet.
Turner war der Unternehmer seiner
Kunst und an beständiger Innovation
interessiert. Nicht nur die Suchenach
Motiven trieb ihn an, sondern ebenso
die experimentelle Entwicklung in der
Malerei. In der Rastlosigkeit seines
Wesens, in seinem Leben für dieKunst
zeigt sich der Drang nachForschung.
Dass er schon bald in Sphären vorstiess,
die seine Zeitgenossen nicht mehr gou-
tierenkonnten, schadete zwar seinem
Ruf, nicht aber seinem Selbstbewusst-
sein .In seiner Einschätzung war er –
niemand würde dies heute bezweifeln –
der grösste unter den lebenden Malern.
Auf dieser Höhe war es ihm völlig egal,
dass er auch Anfeindungen ausgesetzt

war. Seine Zeit war noch nichtreif für
die Entgrenzungen seiner Malerei.Das
wusste er und nahm es gelassen.
Heute sehen wirTurner gern als letz-
ten Altmeister an der Schwelle zur Mo-
derne. Sein Werk erscheintkostbar wie
ein Kronschatz, seineVirtuosität in der
Erfassung der Elemente auch abgeklär-
ten Kunstbetrachtern noch immer ver-
blüffend. Einmal mehr kann man das
in der grossenAusstellung desKunst-
museums Luzern bewundern.Für den
Maler war das Gebiet um Luzernein
Anziehungspunkt seiner Schweiz-Tou-
ren. Hier fand er die Silhouette der Rigi
und malte sie in Serien wie später Hod-
ler denMont Salève am Genfersee:sanft
rot im Abendlicht, blauim Sonnen-
aufgang, unwirklich im grausilbernen
Schein des Mondes. Schwebend steht

das Bergmassiv über derWasserfläche,
seine Schwere ist aufgelöst in der Farbe.
Ein klassischerLandschaftsmaler?
Turner hat die niedere Gattung, die in
seiner Heimat auf guterTradition f usste,
in Höhengetrieben wiekeiner vor ihm
und auch lange nach ihm. Er suchte die
Elemente der Natur, das Wasser, die
Wolken, das Licht, den Sturm. Bewe-
gungsenergie ist die Essenz seiner Male-
rei.Die enormeDynamik seiner Motive


  • selten gibt es beschauliche Ansich-
    ten, und auch sie leben von sphärischer
    Spannung – liegt darin begründet. Die
    Energie desFeuers und der modernen
    Technik gehört selbstverständlich dazu:
    Der Brand des LondonerParlaments-
    gebäudes, die Dampfschiffe, die Eisen-
    bahn – sie verkörperten für ihn elemen-
    tare Gewalt.Turners Lebenszeitragte in


die beginnende industrielle Moderne,
die ihn ebenso faszinierte wie die Natur.
Die Diskussion umTurners Abstrak-
tion zieht sich durchdieForschung,sogar
Ausstellungen wurden ihr schon gewid-
met.Viele seiner späten Seestücke und
Landschaften grenzen an vollkommene
Unlesbarkeit. Das Auge erkenntvage
Wolken- undWasserformen und etwas
Figurenstaffage, aber so schemenhaft,
dass sie nur mit phantasierender Einbil-
dungskraft zu dechiffrieren sind.Eben
auf diese kam esTurner an. Er bekannte
sich in seinenVorlesungen als Professor
der RoyalAcademy programmatisch zur

Undeutlichkeit als Mittel der poetischen
Einbildung und offenbarte sich damit als
Schüler der sogenannten Fleckentrakte
des 18.Jahrhunderts. Seine artifizielle
Technik war nicht so grundlegend neu,
wie man später dachte.Allerdings hatte
kein Maler seiner Zeit dieseFarbschleier
und-wirbelzuroffiziellenKunsterhoben.

NeueDimensionen


Ja,Turner gehört zu den alten Meis-
tern und zurModerne gleichermassen.
Seine Malerei hältsich treu an die Gat-
tungen, die in England besonders ge-
schätzt wurden– das Seestück und die
Landschaft. Der Heroismus der Seefah-
rernation spielt beiseinen Schiffsbildern
mit,unddieStürme,diedieSegelblähen,
sindLebensstürme.ErwarTraditionalist
und Neuerer in einerPerson.Niemand
neben ihm – weder in England nochauf
dem Kontinent – hat damals solche Bil-
dergemalt.ZweifelloswardieAuflösung
des Gegenstands nicht das Ziel seiner
Malerei.Aber ist das eigentlichrelevant
angesichts der an Hexerei grenzenden
Virtuosität dieserFarbwirbel?Da ist das
Meer, da ist die Luft,da ist der Schemen
der Rigi.Wo beginnt ein abstraktes Bild,
und wannist dieAuflösung vollständig
gegeben?FürTurner war die Erschei-
nung alles. Die Transzendierung ins Un-
greifbare ist das, was uns vor seinen Bil-
dern noch immerins Staunen bringt.

Luzern, Kunstmuseum, bis 13.Oktober, Kata-
log Fr. 39.–.

Der Genozid an den Armeniern bewegt die Menschen bis heute


Die deutsch-russischeAutorin KaterinaPoladjanwidmet der Erinnerungandie Verfolgungder armenischen Christeneinen aufwühlendenRoman


PAULJANDL


Manche Gebiete der inneren und äus-
seren Landkarten bleiben wohl auf
immer Niemandsländer. Wir wissen
nicht viel über sie. Es sind weisse Fle-
cken, über die die Kartografen früher
geschrieben haben: «Hic sunt leones»,
«Hier sind Löwen».Soheisstnichtohne
Grund der neueRoman der deutsch-
russischen Schriftstellerin KaterinaPo-
ladjan. Die Erzählerin macht sich von
Deutschland aus auf, um die Ursprungs-
länder ihrerVorfahren zu bereisen.Da-
bei aber entfernt sie sich auch von allem,
was sie über sich selbst wusste.
Als Buchrestauratorin macht sieein
PraktikumineinemstaatlichenArchivin
derarmenischenHauptstadtErewan.Sie
bindet alte Evangeliare neu undreko n-
struiert ihre stockfleckigen, rissigen Bil-
der,bis sie wiederein Ganzes ergeben.
AberwasistdasGanze?IndenBüchern
finden sich auch die Gebrauchsspuren
der früheren Besitzer. Aus Jahrhunder-
ten stammende Notizen, Namen, Ge-
bete. GanzeLabyrinthe, die indieVer-
gangenheit hinunterführen und sich mit
dem ungewohnten Leben in der kauka-
sischen Grossstadt verbinden.


«Hier sind Löwen» ist einraff inier-
ter Roman der Beschleunigung, in dem
die Sprache mit gemächlichsterLakonie
daherkommt.Vielleicht lässt sich nur so
zusammenbringen, was sonstrett ungs-
los auseinanderstreben würde. Denn das
Buch der1971 in Moskau geborenen
Autorin erzählt eineFamiliengeschichte
und eineAufbruchsgeschichte. Es be-
wegt sich mit tastender Neugier zwi-
schen denKulturen,Religionen und
Zeitaltern. Seine die deutsche Litera-
tur jetzt bereichernde Gegenwart ist die
Armeniens. EinesLandes, von dem es
heisst, dass man sich hier «mehr Sor-
gen um dieVergangenheit als um die
Zukunft macht».

AllgegenwärtigeKatastrophe


Helen ist noch jung, hat einen armeni-
schen Nachnamen und einenFreund
in Deutschland, den sie für ein Aben-
teuer mitdem Sohn einer Archiva-
rin für ein paarWochen vergisst. Die
Frau wird insFamilienleben der neuen
Freunde hineingezogen und in die schil-
lernden Nächte Erewans mit seinen
Bars und seinem Hunger nach Moder-
nisierung. Helen ist dabei, sich in die-

sem Geschiebe aus Erfahrungen und
Gefühlen zu verlieren. Neben alledem
schweben die Engel und die Heiligen
der Bücher. Und derTod. DerKurzzeit-
geliebtekommt bei einem Militäreinsatz
ums Leben. Die grosse, ein Jahrhundert
zurückliegende Katastrophe des Geno-
zids an den Armeniern ist immer noch
allgegenwärtig.
KaterinaPoladjan hält ihrenRoman
in der Schwebe zwischen dem Histori-
schen und der Fiktion. Sie weiss, dass
die Erinnerung immer neueVarian-
ten desFaktischen hervorbringt, und
gerade daraus ist «Hier sind Löwen»
gemacht.Aus Familienmythen und aus
derenVariationen.Aus Traumatischem
und Beschönigendem.Je mehr die Er-
zählerin sich ins geografischeKern-
gebiet ihrer Vorfahren hineinbegibt,
umso brüchiger scheint dasWissen der
Mutter zu werden. DieTelefonate mit
der BerlinerKonzeptkünstlerinwer-
den immer verworrener, während sich
in Armenien und Anatolien neue Ge-
schichtenauftun.
In einem kleinen Ort in der Nähe von
Erewan öffnet ein junger Mann im ge-
bügeltenTrainingsanzug die Haustür.
Er hat den gleichen Nachnamen und

könnte einVerwandter sein,aber das
erweist sich schnell alsTrugschluss. Man
hat einfach die Namen zweier Städte
verwechselt.Artaschatund Aschtarak.
Am Ende fährt die Erzählerin noch
nach Anatolien, um nach Spuren der
Familie zu suchen. Eine abenteuerliche
Fahrt durch das armenisch-türkische
Grenzgebiet zeigt, wie sehr dieVergan-
genheit dort noch lebt.

Wie ein grausamesMärchen


Überall Zeichen in derLandschaft, dass
der Kampf zwischenArmeniern,Türken
und Kurden um die Deutungshoheit der
Geschichte bis in die Gegenwartreicht.
KaterinaPoladjan vermeidet allerdings,
ihrenRoman zurVorlesung über eines
der grausamsten Kapitel des 20.Jahr-
hunderts zu machen.Währenddes Ers-
ten Weltkriegs kamen bis zu 1,5 Millio-
nen Menschen beim Genozid ums Le-
ben, mit dem das OsmanischeReich
gegen die Armenier vorging. Es war
der Versuch, eineKultur zu vernich-
ten, die als erste das Christentum zur
Staatsreligion machte und sich schon
Anfang des 5.Jahrhunderts ein eige-
nes Alphabet gab.

«Hier sind Löwen» ist auch eine Er-
zählungüberdieSchriftundüberdieVer-
schriftlichung des Lebens.Aus Notizen,
die sich in einem Evangeliar des18.Jahr-
hunderts finden, macht KaterinaPola-
djan eine Binnengeschichte desRomans.
Sie handelt von den beiden armenischen
KindernAnahid und Hrant, die bei den
Pogromen ihreFamilie verloren haben
und auf der Flucht sind.Wie ein grausa-
mes Märchen muten diePassagen rund
um die beiden Geschwister an.Archaisch
undzeitlosnehmensiedasWesenderGe-
walt in den Blick.
Wenn Helen bei ihrer Arbeit im
Archiv die alten Bücherrestauriert,
dann ist das einVorgang von höchst
symbolischer Präzision.Die armenische
Art, Bücher zu binden, istkompliziert.
Man lernt sie nicht von einemTag auf
den anderen. Und das kann man auch
über denRoman von KaterinaPola-
djan sagen:Dass er dieFäden auf trick-
reicheArt in der Hand behält.Dass er
sie durch die Zeiten laufen lässt, um
diese lesbar zu machen.

KaterinaPoladjan: Hiersind Löwen.Roman.
S.-Fischer-Verlag, Frankfurt amMain 20 19.
28 8S., Fr. 33.90.

WilliamTurner: «Lake Lucerne:TheBayofUri, from Brunnen»,zirka 1841/42,Aquarellauf Papier (24,4×29,9 cm). TATE

WilliamTurner war
Traditionalist und
Neuerer in einer Person.
Free download pdf