Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 3. August 2019 FEUILLETON 35


SALZBURGER FESTSPIELE


Wenn die Geschichten viereckig werden


Abgründig Düster es gehört untrennbar zu Maxim Gorki und Ödön von Horváth. In Salzburg verflacht es ins allzu Gemütliche


BERND NOACK,SALZBURG


In Salzburg treten die Menschengerne
in Gruppen auf.Durch den Mirabell-
garten tippeln sie herdenstark, vor dem
Mozarthaus stehen sie dicht gedrängt,
gehe n sie über den Zebrastreifen am
Makartplatz, müssen dieAutos lange
warten.Warum also nicht auch auf der
Bühne derFestspiele? Maxim Gorkis
«Sommergäste» und Ödön von Hor-
váths «Jugend ohne Gott» eint schliess-
lich ebenso die Zusammenrottung.
Doch während die Masse derTouris-
ten an der Salzach nicht nach verborge-
nem Schlechtem sucht,kehren dieFigu-
ren der Schauspiele ihr gefährliches
Innerstes hervor: Ihnen ist dieFreude
an derWelt abhandengekommen, ihre
Seelen kannkein noch so buntesAblen-
kungsprogramm mehrrett en.
Dem bunt zusammengewürfelten
Haufen,wie erbei Gorki die Einsamkeit
der abgelegenen Sommerfrische stürmt,
ist man allerdings schmerzlich näher als
dem Schulklassenzwang,der bei Hor-
váth die Illusionen einer verführbaren
Jugend zerstört.In den«Sommergästen»
können wir uns wiederfinden mit unse-
rer Unfähigkeit zuVeränderung, Auf-
bruch oder Umsturz.Vor allem sehen
wir da Menschen,die es aufgegeben
haben, dem Leben und der Liebe mehr
abzugewinnen als schale Befriedigung.


Die Rotte zerfleischtsich


Der kurzfristig eingesprungene junge
russischeRegisseur EvgenyTitov hat
auf der grossen Bühne derPerner-Insel
zunächst auch noch ein gutes Händchen.
Wie eineräudigeRotte lässt er seine 15
Personen los.Sie zerfleischen sich wort-
reich schwadronierend auch gleich nach
allenRegeln der Eifersucht.Laufend
bilden sie Allianzen und fallen dann
doch wieder übereinander her.
Aber mit der Zeit laufen diese Be-
zichtigungen ins düster ausgeleuchtete
Leere, wirken in dieser Inszenierung
nur noch wie pflichtschuldig abgelie-
ferte Statements, denen die anderen gar
nichts mehr abgewinnenkönnen. Der
soziale Impetus verpufft in derRedun-
danz des Bühnengeschehens. Und das ist
eigentlich ein Stillstand. DieVerwand-
lung derKulisse geschieht denn auch im
Zeitlupentempo. Raimund OrfeoVoigt
hat ein mächtiges edelholzgetäfeltes
Interieur gebastelt, das sich in seiner


endlosen Breite vonrechts nach links ins
Bild schiebt und so den Blick in neue
Räume, Fluchten,Treppen undWarte-
säle der Einsamkeit preisgibt.
Diesem quälenden Rhythmus aber
hat sich nunTitov unterzuordnen, und
die wiederkehrendenOrte müssenvon
ihm ständig be- und entvölkert werden:
eine durchaus beeindruckende Choreo-
grafie des Unsteten,die denText endlich
aber nur noch als Untermalung opulen-
ter , wimmelnder Bilder braucht.
AuchThomas OstermeiersRegie der
Bühnenfassung vonHorváths Roman
«Jugend ohne Gott» befriedigt nur bis
zur Hälfte des Abends imLandesthea-

ter.Wenn die unselige Handlung in die
Gerichtsszene mündet, ist die Luftraus
aus dieser Erzählung um den zwischen
Widerstand undFeigheit taumelnden
Lehrer einer Klasse, deren Hauptfach
der Nationalsozialismus und sein flos-
kelhohlesPathos sind. Gedrillt zu Men-
schenverachtung undVaterlandstreue,
verlieren diese Heranwachsenden ihre
Seelen und Gefühle.

WandelndeZeit bomben


Der Lehrer kann Gewalt nicht ver-
hindern und verstrickt sich selber in
Widersprüche. DerMord an einemJun-

gen mag einFanal sein, der Beginn des
Ausverkaufs vonVernunft und Moral:
Ostermeier lässt ganz unaufgeregt diese
fatale Stimmung spüren. SeineJugend-
lichen sindkeine plapperndenPennäler,
sie sind Zeitbomben; seineAussenseiter
(das Mädchen Eva, gespielt von der be-
eindruckendenAlina Stiegler) sind zeit-
lose Ausgestossene.
Doch derRegisseur klammert sich
dann doch zu sehr an denRoman, er-
füllt seinenAuftragWort fürWort, lan-
det schliesslich bei derJustiz und ge-
rät in die (fürsTheater zähe) lähmende
Verhandlungsmühle.Ostermeier nimmt
sich keine Freiheit – bis auf die eine:

DasWörtchen «Neger» ersetzt er durch
«Afrikaner». Das mag zwar längst ge-
sellschaftlichkorrekt sein, verfälscht an
mancher Stelle aber gehörig den Origi-
naltext,in d em dasWort ganz bewusst
herabwertend gesetzt ist: Kein alter
Nazi, wie derBäckermeister imRoman,
würde sich in seiner arroganten Herren-
rassen-Wut je so gewählt ausdrücken.
«Die Erde ist noch rund, aber die
Geschichten sind viereckig geworden»,
heisst es einmal in «Jugend ohne Gott».
Der ersteTeil des Satzes mag für die
Salzburger Wirklichkeit dieser Tage
noch zutreffen;etwas kantiger hätte man
sich dieFiktion da schon gewünscht.

Von Mohammed gibt es nur eine Erinnerungsgeschichte


Umstritten ist im modernen Konsens nicht die Historizität, sondern die «Meister erzählung». Eine Replik auf Laila Mirzos Gastkommentar


REINHARD SCHULZE


Laila Mirzo will denVerfechtern einer
liberalen Theologie des Islam ins
Stammbuch schreiben, dass nur ein
vollständiger Bruch mitdem Islam, ein
«Austritt aus dem Islam» die Macht des
Islam unterhöhlenkönne.Aber die zeit-
genössische islamischeTheologieist da
schon erheblich weiter in ihrer Kritik
und schafft Raum für neueFormen der
Mohammed-Erinnerung. EineReplik.
Der Prophet sei an allem schuld.Die-
ses Mohammed-Bild ist nicht originell.
Seitdem17.Jahrhundertgeistertesgenau
mitalldenStereotypendurchdasAbend-
land: Heerführer, Demagoge, Massen-
mörder und Kinderschänder sei er ge-
wesen.Das Ressentiment gegen Mus-
lime erwächst genau aus dieser Urteils-
bildung. «Ein aufgeklärter Mensch kann
sich von Mohammed nur distanzieren»,
heisst es im Debattenbeitrag von Laila
Mirzo.SieappelliertalsoandieVernunft;
das ist gut so, und einBaustein derVer-
nunft ist und bleibt der Zweifel.
Kommentare müssten also Zweifel
säen.LiebgewordeneSchematamüssten
durchbrochenwerden,mitdemZiel,Res-
sentimentsabzubauen,umeinfriedliches
Zusammenleben zu ermöglichen. Denn


wir wissen,wie MaxWeber im Nachgang
zu Nietzsche und Schopenhauer gezeigt
hat, dass dasRessentimentAusgangs-
punkt einer verheerendenVergeltungs-
vorstellung werden kann. Ressentiment
ist geradezu ein typisches Merkmal, das
mit zumTerror der Jihadisten motiviert.
Wie MaxWeber allerdings gezeigt hat,
wird dasRessentiment erst dann wirk-
lich handlungsmächtig, wenn es mora-
lischrationalisiert und gerechtfertigt
wird. Hierzu haben Hassprediger ganze
Arbeit geleistet. Assistiert wurde ihnen
von einem modernen Deutungsrahmen,
der verlangte, Mohammed müsse sich
als historischePersönlichkeit erweisen,
wolleerimKanonderModerneBerück-
sichtigung finden.

Keine Realgeschichte


Die Informationen,die die Grundlage
eines Werturteils über den Islam bilden,
müssten also mit derWirklichkeit über-
einstimmen. Doch was wissen wir über
dieWirklichkeit des Propheten Moham-
med?Von Mohammed existieren immer
nur die Bilder, die man sich in den ver-
gangenenJahrhunderten von ihm ge-
macht hat. Mohammed ist eine erzählte
Figur, und es ist diese Erzählung, die

überJahrhunderte hinweg sinnstiftend
war. Nur Historisten und hartgesottene
Fundamentalisten beharren darauf, dass
wir genauestens über den historischen
Mohammed informiert sind. Die zurzeit
theologisch bedeutsame Leben-Moham-
med-Forschung macht darauf aufmerk-
sam,dass die Berichte über Mohammed
einen Sitz im Leben haben und daher
immer nur die Zeit spiegeln, in denen
über ihn erzählt wird.
Von Mohammed gibt es nur eine
Erinnerungsgeschichte, keine Real-
geschichte. Das Erinnerungsmaterial
ist überJahrhunderte gesammelt wor-
den, kaum etwas wurde verworfen, so
dass heuteMohammed aus mehreren
hunderttausend, sich vielfach wider-
spre chenden Erinnerungsstücken be-
steht. Die Standardisierung der Erin-
nerung inForm einer«Meistererzäh-
lung», die Mohammed zu einerrealen
historischenFigur macht,hat im17.Jahr-
hundert unter muslimischen Puritanern
ihren Anfang genommen und im späten
19.Jahrhundert, eingerahmt durch eur o-
päische Denkmuster derModerne, ihren
Höhepunkt gefunden.
Nicht wenige Orientalisten der jün-
gerenVergangenheit haben durch ihre
Mohammed-Biografien hierfür Bewer-

tungsstandards gesetzt.Das war die
Zeit, in der sich der Islam verbreitet,
aber nicht überall den Charakter eines
Mohammedtums angenommen hatte.
Da auch die Europäer nun mit einem
realhistorischen Mohammed arbeite-
ten, ihn aber negativ bewerteten, ergab
sich alsbald der transreligiöseKonsens,
dass Mohammed tatsächlich ein Herr-
scher, Staatsmann und Prophet gewe-
sen sei, ausgestattet mit Privilegien,die
esihmerlaubthätten,selbstMädchenim
Kindesalter zu heiraten oder gefangene
Feinde umbringen zu lassen. Umstritten
war in diesem modernenKonsens nicht
die Historizität, sondern dieWertung.

Neue Formen


In der postmodernen Gegenwart arbei-
ten auch muslimische Denkerinnenund
Denker daran, die Erinnerungen so zu
sortieren, dass ein postfaktisches Bild
von Mohammed erscheint, das ihn von
der Gewalt und den Zumutungen der
Moderne befreit.Das bedeutet auch,
ihn von derAufgabe zu befreien, Stifter
einer normativen Ordnung vonRegeln
und Werten zu sein, die in der heutigen
Sozialweltwirksamwerdenmüssen.Kri-
tischeMohammed-NarrativederGegen-

wart setzen die uralte islamische Unter-
scheidung zwischen derWelt der Got-
tesanbetung und des Heils und derWelt
der zwischenmenschlichen Beziehung –
modern gesprochen: zwischenReligion
und Gesellschaft – neu inWert. Sie wei-
sen Mohammed wieder ganz derWelt
des Gottesdienstes zu. Allenfalls zivile
moralische Urteile in der Gesellschaft,
die mit Mohammed gerechtfertigt wer-
den können, hätten dann Bestand.
Die zeitgenössische islamischeTheo-
logie ist da schon erheblich weiter, als
Laila Mirzo vermutet. Sie kritisiert zum
Teil sehr drastisch die modernenFor-
men der Mohammed-Erinnerung und
schafft Raum für neue Formen der
Mohammed-Erinnerung, die mit dem
historistischen Spuk derFundamentalis-
ten aufräumen sollen. Zivilgesellschaft-
licheFairness verlangt, diese Prozesse
durchaus auch kritisch zu würdigen, um
dadurch den Abbau vonRessentiments
zumindest ansatzweise zu ermöglichen.

Reinhard Schulze ist emeritierter Islam-
wissenschafter und Direktor des ForumsIslam
und NaherOsten ander Universität Bern. Er
schrieb das Standardwerk «Geschichteder isla-
mischenWelt. Von 19 00 bis in die Gegenwart»
und forscht unter anderemzumIslamismus.

Quälende und lähmende Längen: Thomas Ostermeierinszeniert in Salzburg die Bühnenfassung von Ödönvon HorváthsRoman «Jugendohne Gott». ARNO DECLAIR
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