Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

36 LITERATUR UND KUNST Samstag, 3. August 2019


«Als sei nichts geschehen»

UmWagners Schaffen vonder Vereinnahmung durch die NS-Ideologie zu befreien, liess man sich in Bayreuth auffällig lange Zeit


UDO BERMBACH


Die Festspiele1944,bei denen,wie schon
im Jahr zuvor,ausschliesslich «Die Meis-
tersinger» gegeben wurden, und zwar
unter Beteiligung von Hitler-Jungen,
BDM-Mädchen und Angehörigen der
SS-Division«Viking» (alsVolk auf der
Festwiese),waren die letzten vor Kriegs-
ende. Winifred Wagner hatte ihnen
die Worte mitgegeben:«Wenn für die
Kriegsspiele1943 gerade die ‹Meister-
singer von Nürnberg› ausgewählt wur-
den, so hat das eine tiefe und symboli-
sche Bedeutung. Zeigt uns doch dieses
Werk (. ..) den schaffenden deutschen
Menschen in seinem völkisch beding-
ten Schöpferwillen, dem der Meister in
der Gestalt des Nürnberger Schusters
und Volksdichters Hans Sachs eine un-
sterblicheVerheissung gegeben hat und
der im gegenwärtigen Ringen der abend-
ländischenKulturwelt mit dem destruk-
tiven Geist des plutokratisch-bolsche-
wistischenWeltkomplotts unseren Sol-
daten die unüberwindliche Kampfkraft
und den fanatischen Glauben an den
Sieg unsererWaffen verleiht.»
Ein Jahr später hatte das Reich bedin-
gungslos kapituliert, und anFestspiele,
die man auch für1945 geplant hatte,
war nicht mehr zu denken.Ja, es war
fraglich, ob es nach der braunenKon-
tamination inBayreuth je wiederFest-
spiele geben würde. Deutschland stand
vor der grössten Katastrophe seiner Ge-
schi chte, es hatte Überlebensprobleme
zu lösen, die den Gedankenan dieWie-
deraufnahme derWagner-Festspiele als
ein e irreale Utopie erscheinen liessen.
Das Festspielhaus war Unterkunft für
Flüchtlinge und Unterhaltungsstätte für
amerikanische Soldaten.Wagnerschien
so weit weg wie nur denkbar.


Kursänderung?


NachdemWinifred Wagner1949 auf
die Leitung derFestspiele zugunsten
ihrer Söhne Wieland undWolfgang
verzichtet hatte, erschien eineFortfüh-
rung allerdings wieder möglich. In der
Schweiz empörte sich der erste Enkel
RichardWagners, Franz Beidler, Sohn
von Isolde Wagner und dem Dirigen-
ten Franz Beidler, dass «nur sechsJahre
nacheinem materiellen und noch mehr
moralischen Zusammenbruch ohne-
gleichen» dieFestspiele wieder aufge-
nommen werden sollten, «als sei nichts
geschehen, ohne das geringsteAnzei-
cheneines Systemwechsels, einerKurs-
änderung, eines Gesinnungswandels,
sondern im Gegenteil mit Stolz beton-
ter Kontinuität und obendrein mit fest-
lichem Prunk, ja mitPomp und Luxus».
Am Ende half das wenig.Wieland und
WolfgangWagner betrieben dieWie-
dereröffnung mit grösster Energie, und
1951 war es so weit: Mit «Parsifal» in
der RegieWielandWagners begann die
neue Ära.
Pro grammatisch hatteWieland er-
klärt,WagnersWerke dürften nicht in
missverstandenerWerktreue mumifi-
ziert und als museale Sehenswürdigkei-
ten für alle Zukunft aufbewahrt werden,
sondernmüssten, wie alleKunstwerke,
aus dem Geist der Zeit heraus neu ge-
staltet und aufgeführt werden. Seine als
revolutionär empfundenen Inszenie-
rungen beruhten auf drei Grundsätzen:
zum einen auf dem Griechenbezug (der
an die Stelle des Germanenkultes trat);
zum anderen auf der Lehre Carl Gus-
tav Jungs von den Archetypen, die als
Bilder des Unbewussten, der verdräng-
ten und urtümlichen Inhalte fungier-
ten; schliesslich auf den bereits um die
Jahrhundertwende entwickelten Ideen
des SchweizersAdolphe Appia,der auf
einernahezu leeren Bühne das drama-
tische Geschehen durch eine neuartige
Lichtregie verständlich machen wollte.
Aus der Abstraktion des Bühnen-
bildes sowie einer intensivenPersonen-
und Lichtregie bestand die später so ge-
nannte «Entrümpelung» derBayreu-
ther Bühne, die für die Alt-Wagneria-
ner in derTat einen in seinerTragweite
heute kaum noch zuermessendenBruch
mit allenTraditionen bedeutete.Zu-


gleich aber war diese Abstraktion und
Ästhetisierung auch eine entschiedene
Flucht vor derAuseinandersetzung mit
der jüngsten politischenVergangenheit
Bayreuths. Man schloss auf zuTenden-
zen der abstrakten Malerei, war schein-
bar modern und auf der Höhe der Zeit
und hatte mit dem,was noch wenige
Jahre zuvor auch inBayreuth völkisch-
nationalistischer Alltag gewesen war,
nichtszu tun .Ästhetisierung als Entsor-
gung der politischenVergangenheit, der
Festspiele so gut wie desFestspielpubli-
kums – sie wurde denn auch ganz über-
wiegend positiv aufgenommen.

Die ersten Programmhefte


Dieser UmgangWielands mit der belas-
tendenVergangenheit wurde unterstützt
durch die neu eingeführten Programm-
heft e, die nun jede Produktion beglei-
teten. Doch erstaunlicherweise schrie-
ben ab1951 die altvertrautenAuto-
ren wie etwa Zdenko von Kraft, Otto
Strobel, Hans Grunsky und der unver-
meidliche Curt vonWesternhagen. Sie
alle waren vor1945 schon dabei gewe-
sen, hattenTexte geliefert, die durchaus
im NS-Sinne gewesen waren. Sie hatten
arische Helden gegen die angeblichras-
sisch Minderwertigen derWelt antre-
ten lassen, im «Ring» beispielsweise die
arischeRasse (Götter undWälsungen)
gegen Untermenschen (Nibelungen),
um noch im Untergang der Arier deren
rassische Überlegenheit zu preisen.
Nun, mit der Neueröffnung derFest-
spiele1951, ging es freilich nicht mehr
um «RichardWagners Kampf gegen see-
lisch e Fremdherrschaft» – so eine anti-
semitische Schrift Curt vonWestern-
hagens1934 –, sondern um die Antiken-
rezeptionWagners, etwa die Orestie als
Vorbild der «Ring»-Tetralogie, um die
Wiederauferstehung des Mythos,umdie
christlichen Gehalte des «Parsifal», die
geistesgeschichtlichen Beziehungen des
Lohengrin-Mythos zu europäischen und
aussereuropäischen Erzählungen – und
Ähnlichesmehr.WielandWagner,derauf
der Bühneradikal Neues wagte,holte für
die von ihm verantworteten Programm-

hefte die alten, NS-affinenAutoren, die
allerdings eine überraschendeintellek-
tuelleWendigkeit zeigten. Sie lieferten,
was ihrAuftraggeber von ihnen erwar-
tete: die ideellen und geistesgeschicht-
lichen Bezüge der Musikdramen Wag-
ners zur Antike, zur europäischen Lite-
ratur, auch zu den theaterreformatori-
schen Bestrebungen.
Obwohl gelegentlich alte NS-The-
sen in dieTexte gerieten, waren die Pro-
grammhefte ganz aufdie Aufgabe der
Erläuterung vonWielands Inszenie-
rungen zugeschnitten und zeigten jetzt
einen RichardWagner, der mit demjeni-
gen aus den vergangenen Zeiten immer
weniger zu tun hatte. Das fand einüber-
wiegend positives Echo. Schon 1952 gab
die 1949 neugegründete Gesellschaft
der Freunde vonBayreuth eine Samm-
lung von Pressestimmen heraus, deren
Mehrzahl sich in Bewunderung für den
abstrahierenden StilWielands geradezu
überschlug und ihn als beispielhaft für
die Zukunft beurteilte.Wieland habe, so
hiess es,WagnersWerke so auf die Bühne
gestellt, wie es diesen einzig angemes-
sen sei.Mit solchem Lob war die braune
VergangenheitBayreuths als temporä-
rer Irrweg gleich mitentsorgt. Bis in die
DDR drang derRuhm des neuenBay-
reuth;eine Dresdner Zeitung berichtete,
«die BayreutherWochen gaben die Ge-
wissheit, dass das nationaleKulturerbe
der Werke Wagners auch unserer Zeit
Aufgaben zu einer Lösung stellt».
Bis zum Ende der1950er Jahre domi-
nierten in den Programmheften – auf
ausdrücklichenWunschWielands–die
altenAutoren. Doch in der Bundes-
republik entstand allmählich eineneue,
eher linksliberal ausgerichtete Debat-
tenkultur, die durch literarische Zeit-
schriften, durchRundfunkprogramme
und zahllose Diskussionen befördert
wurde, auch durchAutoren, die etwa in
der Gruppe 47 zusammengeschlossen
waren. Der Zeitgeist begann nachlinks
zu tendieren, und dies ging anBayreuth
nicht spurlos vorbei.1961 fand der Eich-
mann-Prozess statt, während derFest-
spiele wurde die Berliner Mauer gebaut;
es gab erste wirtschaftliche Schwierig-

keiten, 1962 drohte in derKubakrise ein
militärischer Weltkonflikt. Unruhige
Jahre brachen an, die mit demAusch-
witz-Prozess 1963/65 und dem Beginn
des Vietnamkriegs1964 auf eine Krise
zuzutreiben schienen.Das alles wurde
auch aufmerksam inBayreuth regis-
triert, zumal die beginnende Studenten-
bewegung ihre marxistisch angeleitete
Gesellschaftskritik immer lauterund
handfesterartikulierte und denKultur-
betrieb nachhaltig beeinflusste.
Um1960 tauchten erstmals kriti-
sche Linksintellektuelle wieTheodor
W. Adorno, Ernst Bloch,Walter Jens
und Hans Mayer in den Programm-
heften auf, und ihre Beiträge verabschie-
deten die letztenReste eines traditionel-
len, völkisch-nationalistischenWagner-
Verständnisses. Ernst Bloch, zunächst
noch Professor in Leipzig und erst 1961
in die Bundesrepublik übersiedelt, war
für WielandWagner «einer der origi-
nellstenKöpfe unserer Zeit», weshalb
er ihnauch möglichst eng anBayreuth
zu binden suchte.Von 1960 bis 1971
schriebBloch insgesamt zehnBeiträge
für die Programmhefte – einschliesslich
jenerRede, die er1966 vor dem Sarg des
totenWielandWagner imFestspielhaus
hielt.Adorno lieferte fünf Beiträge,Wal-
ter Jens vier; der fleissigste und einfluss-
reichste von allen, Hans Mayer, von 1962
bis 1985 insgesamt fünfzehn.

Durchbruch mit Chéreau


WährendAdorno eher zur musikwissen-
schaftlichen Analyse neigte, Bloch den
«Geist der Utopie»aus Wagners Musik-
dramen herauszulesen suchte, arbeitete
Hans Mayer die politisch linke Her-
kunft und ModernitätWagners heraus:
Er brachte denKomponisten inVerbin-
dung zur französischenLiteratur seiner
Zeit, benannte in seinenAufsätzen zum
«Ring» Bezüge zu sozialistischen Ideen,
interpretierte dieTetralogie alsradikale
Kritik der bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft im Horizont einer durch
Marx angeleiteten Kritik, alsAufruf
zur Selbstzerstörung, aus der ein neuer
Mensch geschaffen werden sollte.May-

ers Beiträge trugen wesentlich dazu bei,
das Bild eines gesellschaftskritischen
Wagner zu modellieren, wodurchBay-
reuth zugleich in den vorherrschenden
Zeitgeist eingefügt wurde.
Auch wenn das nicht intendiert war:
Der 1976 vonPatrice Chéreau insze-
nierte «Jahrhundert-Ring» lässt sich
im Nachhinein alskonsequente Büh-
nenumsetzung eines in denJahren zu-
vor geformten neuenWagner-Verständ-
nisses verstehen. Chéreau verortete die
Tetralogie in der Zeit ihrer Entstehung,
zeigte deren Kritik an der bürgerlich-
kapitalistischen Gesellschaft und damit
ihreAnschlussfähigkeit an die aktuellen
Debatten.Mit diesem «Ring» hatte Bay-
reuth sich selber und RichardWagner
aus dem völkisch-nationalistischen Um-
feld endgültig herausinterpretiert. Über
Jahre war es seinenAutoren gelungen,
WagnersWerke als Dramatisierungen
moderner Individual- undKollektivkon-
flikte darzustellen und mit diesen Neu-
interpretationen die NS-Vergangenheit
vergessen zu machen. Mit dem «Ché-
reau-Ring» war die Entnazifizierung
und zugleich ModernisierungWagners
abgeschlossen.
Wie zur Bestätigung dieses Prozesses,
der immerhin 25Jahre in Anspruch ge-
nommen hatte, erschien im zweitenJahr
der Aufführung ein auf mehrere Pro-
grammhefte verteiltes Gespräch zwi-
schen Pierre Boulez,PatriceChéreau
und Carlo Schmid. Es sei ihm, so Ché-
reau, um dasVerhältnis von Ordnung
und Freiheitgegangen und um dieFrage,
was den Untergang schliesslich bewirkt
habe. EineFrage, die angesichts desTer-
rors der RAF damals auch auf der poli-
tischenTagesordnung der Bundesrepu-
blik stand.Indem Chéreau Theater und
gesellschaftliche Realität zusammen-
führte,hatte Wagner den Anschluss an
die neue Zeit gefunden.

Prof. Dr. Dr. h. c.Udo Bermbachist Politologe
und lehrte bis zu seiner Emeritierung an der
Universität Hamburg. Er forscht unter anderem
zu Wagner und zur Sozialgeschichte der Oper.
2018 erschien sein Buch «Richard Wagners
Weg zur Lebensreform».

Besucherinnen derBayreutherWagner-Festspiele erwarten EndeJuli 1939 hingerissen die Ankunft Adolf Hitlersauf dem Grünen Hügel. HEINRICH HOFFMANN / ULLSTEIN / GETTY
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