Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 3. August 2019 LITERATUR UNDKUNST37


Ein einziges Leben war ihm zu wenig

Romain Gary war ein schillernder Autor – und ein kühner Denker, der viele heutige Problemeantizipierte. Von Felix Philipp Ingo ld


NachdemRomain Gary –Romancier,
Theater- undFilmautor– unlängst in die
Bibliothèque de la Pléiade aufgenom-
men und damit als Klassiker derWelt-
literatur etabliert worden ist, scheint
das Interesse an seinem umfangreichen
Werk neu aufzuleben. Mit rund zwei
DutzendRomanen hat Gary (der auch
unter dem Namen Emile Ajar einiges
Aufsehen erregte) ein internationales
Millionenpublikum erreicht, und nach
wie vor ist er mit all seinenTiteln im
Buchhandel präsent, mit «DieWurzeln
des Himmels» und «DasVersprechen
derFrühe» ebenso wie mit «Lady L.»
oder «Das Leben vor sich».
So unbestreitbar Romain Garys
(1914–1980) globaler, durch zahlreiche
Literaturpreise beglaubigter Erfolg sein
mag, so umstritten ist – und bleibt – der
künstlerischeRangseines Schaffens:
Ein Grossschriftsteller muss und kann
nicht immer auch ein grosser Schriftstel-
ler sein.Daran wird Garys Beförderung
insPantheon derPléiade nichts ändern,
eher ist, umgekehrt, damit zurechnen,
dass sein Status alsAutor nun erstrecht
noch einmal kritisch hinterfragt wird.
Wie auch immer die diesbezügliche
Debatte ausgehen mag, man sollte
Garys Gesamtwerk nicht allein unter
literaturkritischen und -wissenschaft-
lichen Aspekten betrachten, sondern
zusätzlich seine weitreichende publizis-
tische Arbeit berücksichtigen,um seine
Autorschaft insgesamt adäquat ein-
schätzen zukönnen.Daaber die Pléiade
ausschliesslich belletristischeTexte ver-
sammelt, müssen entsprechende Schrif-
ten–Aufsätze, Artikel,Kolumnen, auch
Interviews – eigens beigebracht werden.
Fächert man die publizistischen und
die literarischenTexte thematisch auf,
wird man sogleich deren bis heute un-
gebrochene Aktualität erkennen, und
mehr als dies – man wird Gary in man-
cherlei Hinsicht als Diskursbegründer
der meisten zeitgenössischen Problem-
debatten (von Drogenmissbrauch und
Antisemitismus überLandschafts- und
Artenschutz bis hin zuFake-News) ernst
nehmen müssen:Was er vor einem hal-
benJahrhundert dazu hat verlauten las-
sen, ist durchweg bemerkenswert und
zeichnet ihn als kühnenVordenker aus.


DieElefanten erhalten


Garys zahlreiche argumentative wie
auch persönlicheWidersprüche mindern
seine diesbezüglichenVerdienste nicht.
Dass er gleichermassen als Hoffnungs-
träger und als Apokalyptiker in Erschei-
nung trat,als hochdekorierter Kriegs-
teilnehmer und als überzeugterPazifist,
alsMisanthrop undFrauenheld, Zyniker
und Melancholiker,Individualist und
Antikapitalist – das prägte sein ambiva-
lentes öffentliches Image und schwächte
seine intellektuellePosition. Doch es än-
dert nichts an der gleichsam meteorolo-
gischen Qualität seines Pionierdenkens,
eines Denkens, das sich eher spontan
und punktuell denn systemisch oder gar
ideologisch kundtut.
Romain Garys erster grosser Er-
folgsroman «DieWurzeln des Him-
mels» (1956,verfilmt unterJohn Huston
1958) war ein singuläres erzählerisches
Manifest zurRettung der bedrohten
afrikanischen Elefantenpopulationen
und zur Erhaltung ihrer natürlichen
Lebenswelt. Gary wagtees, einen «ver-
rücktenFranzosen» als militanten Um-
weltschützer zum Helden zu machen,
lange bevor sich in Europa ein ent-
sprechendes ökologisches Bewusstsein
herausgebildethatte.Für diese wegwei-
sende literarische Grosstat wurde ihm
der Prix Goncourt zugesprochen, und
raschavancierte sein Buch zum inter-
nationalen Bestseller.
ZumTierschutz und zumTierwohl
allgemein hat sichRomain Gary auch
ausserhalb der Belletristik gern und
kompetent vernehmen lassen. Es gibt
von ihm vielePressebilder, auf denen
er mit seinem Hund – er bevorzugte ge-
wöhnliche Mischlinge – zu sehen ist.Für
Tiere verspürte er nach eigenem Bekun-
den eine zutiefst «menschliche» Zunei-
gung, derweil er «den» oder «die» Men-


schen oft genug derVertierung bezich-
tigte.Auch sich selbst schonteer dies-
bezüglich nicht, indem er öffentlich
bekannte, sein «ganzes Leben» sei eine
«langeAbfolge von Bestialitäten» ge-
wesen. Menschenrechte undTierrechte
waren für ihn «nichts anderes als die
Verteidigung desRechts auf Schwäche».
Positive «Menschlichkeit» erkannte
Gary vorab in derFrau, seineAufrufe zur
Feminisierung vonPolitik,Wirtschaft und
Gesellschaft verband er mit pauschalen
feministischenPostulaten, wobei er frei-
lich, seinem eigenenromantischen Mut-
terkult folgend, mehr auf matriarchali-
sche Humanität denn auf frauenrecht-
liches Kämpfertum setzte: Die Mensch-
heit imaginierte er in der ihm eigenen,
zugleich frivolen und skeptischen Art als
einekollektive «Frauenperson» (person-
nage-femme), die vonkeinem Liebhaber
oder Prätendenten jemals ganz «befrie-
digt» werdenkönne – eineindirekte, da-
bei unmissverständliche Spitze gegen das
nach wie vor dominante Macho-Verhal-
ten der Männerwelt.
«Die einzige Sache (chose), die mich
interessiert, ist dieFrau», erklärte Gary
kurz vor seinemFreitod in einemInter-

view fürRadio Canada (1980): «Ich sage
nicht ‹dieFrauen›,Achtung, ich sage:
‹dieFrau›,ich meine dieWeiblichkeit.»
Und er ging so weit,Jesus Christus als
den «ersten Mann» zu belobigen, der
«mit weiblicher Stimme gesprochen»
und diese als Medium der Liebe und der
Wahrheit sanktioniert habe.

Was istWirklichkeit?


Typisch für Garys widersprüchlichen
Humanismus war aber auch sein Ein-
treten für dieTodesstrafe mit der ambi-
valentenBegründung,die Höchststrafe
sei das einzig taugliche und notwendige
Äquivalent für Mord, denn «wer einem
Menschen das Leben nimmt, nimmt es
notwendigerweise auch sich selbst», und
eben dies habe der Richter zu bestäti-
gen, nicht alsStrafe, nichtalsRache, son-
dern als Vollzug ausgleichender Gerech-
tigkeit.Wenn dieTodesstrafe in weiten
Teilen der zivilisiertenWelt abgelehnt
werde, so deshalb, weil man dem Men-
schenlebenkeine eigene Sinnhaftigkeit
mehr zugestehe und weil Mord mehr
und mehr akzeptiert sei als ein gängiges
Verbrechen unter andern.

Eine von Mobbing,Terrorismus, Des-
information, gesteigertemRassenhass
und verschärftenReligionsquerelen be-
herrschteWeltgesellschaft hatRomain
Gary bereitsvoreinem halbenJahrhun-
dert,alses nochkeine «neuen Medien»,
keine massenhaften Migrationsbewe-
gungen undkeine globaleWirtschafts-
macht gab, in warnenderVorwegnahme
dargestellt. Dazu gehören nicht zuletzt
seine scharfsinnigen Beobachtungen zum
Aufkommen des Islamismus und zum
Revival des Antisemitismus in Europa.
Als Sohn russisch-jüdischer Eltern
und als überzeugterKosmopolit hatte
Gary gleichwohl mancherlei Bedenken
mit Blick auf die europäischeVereini-
gung und vollends auf die vom Kapita-
lismus dominierte Globalisierung. Den
zerstörerischen «Zusammenprall» ant-
agonistischerKulturen sah er mit eben-
solcher Besorgnis voraus wie die Ent-
stehung identitärer Gruppierungen in
lokalem undregionalemRahmen: pri-
mitivistisches politisches Sektierertum
im Gegenzug zubürokratischer Inter-
nationalisierung und Unifizierung.
Über den «Sinn» des Lebens und
selbst über die«Wahrheit» hinaus galt

Garys nachhaltigstes Interesse derFrage
nach dem prekären Status derWirklich-
keit – derWirklichkeit derWelt und
der des menschlichen Individuums.
AlsAutor wie auch als Mensch und als
Mann hat erreichlich dazu beigetragen,
die Grenzen zwischenWirklichkeit und
Fiktion zu verwischen. Er tat es in sei-
nem durchweg autobiografisch grun-
dierten Erzählwerk ebenso wie in vie-
lerlei formellenAussagen mit solcher
Konsequenz, dassFiktion undWirklich-
keit weitgehend ununterscheidbar, mit-
hinverwechselbar wurden.
GrosseTeile seines Lebens- und Bil-
dungswegs, seinerKriegseinsätze, sei-
nerReiseabenteuer und Liebesbezie-
hungen, ja selbst seine Herkunft schil-
derte er in derart zahlreichenVarianten,
dass derenWirklichkeitsgehalt niemals
abschliessend auszumachen war. Daer
zudem unter mehreren Pseudonymen
(aber nie unter seinem wahren Namen)
publizierte,war er zeitlebens auchals
Autor kaum zu fassen.
Sein Ich empfand Gary als zu eng und
als zu langweilig, wenn nicht gar als einen
«Fluch»; ein einziges Lebenundein ein-
ziges Bewusstsein seiner selbst genügten
ihm nicht – er wollte stets «alle» sein,
wollte «alles» (und noch viel mehr) er-
fahren und erkennen, mussteaber letzt-
lich vor der Einsichtresignieren, dass
dies aufkeineWeise zu erreichen war,
auch nicht mit noch so viel Einbildungs-
kraft und Lügenhaftigkeit. Lüge, Phanta-
sie undTr aum hat Gary in persönlichen
Verlautbarungen wie in seinen literari-
schenTexten bedenkenlos instrumenta-
lisiert, um sich selbst als eine gleichsam
fiktionaleFigur zu behaupten − ebenso
«wirklich» (und ebenso unwirklich) wie
irgendeine seinerRomanfiguren.

Schönheits-OP als Übergriff


An diesem Grandiositätsanspruch ist er
schliesslich gescheitert.Immer häufiger
und immer heftiger bezichtigte er sich
mit zunehmendem Alter der Unehrlich-
keit, der Anmassung,des Bluffs, er ge-
stand öffentlich seine menschliche und
literarische Nichtswürdigkeit ein,aller-
dings auch dies zumeist mit ironischer
Intonation,so dass seine Selbsteinschät-
zungeben doch wieder nicht ganzernst
zu nehmen war.
In einer wenig bekannten Erzählung
von1962,«DieFälschung», hat Gary die
damals noch kaum erkannte Problema-
tik der Schönheitschirurgie am Beispiel
einer operativ perfektionierten Beauty-
Queen vorgeführt.Derdramatische Plot
läuft auf eine familiäre und finanzielle
Katastrophe hinaus: Der vermeintlich
unerkennbare chirurgische Eingriff wird
entdeckt und als Übergriff auf diekör-
perliche Integrität der betroffenenFrau
abgestraft. Heute gelten derartige Ein-
und Übergriffe alskosmetische Norma-
lität, und generell gehörenFakes in der
Kunst- und Medienwelt derweil zum
Alltagsgeschäft.
Romain GarysFaszination für dieFik-
tionalisierung derWirklichkeit insgesamt
und des eigenen LebensimBesondern
wirkt heutzutage ebenso selbstverständ-
lich, wie sich seine gegenläufige, letztlich
unerfüllte Sehnsucht nach «Authentizi-
tät» und«Ehrlichkeit» ausnimmt. Es sei
jakeineswegs so, dass man seinLeben
selbst auslebe, konstatierte er in dem er-
wähntenRadiogespräch, «vielmehr wird
man vom eigenen Leben gelebt».Er habe
den festen Eindruck, das Objekt − und
eben nicht das Subjekt − seines Lebens
gewesen zu sein:Das Leben selbst er-
zwinge die Biografieund lasse sie un-
weigerlich zurFiktion geraten.
Die gegenwärtigen Debatten um
Fake-News, Post-Truth,Virtual Rea-
lity,AugmentedReality und ähnliche
Topicskönnten mitRückgriff auf die-
sen «Autor, den niemand mehr liest»
(Gary über Gary) durchaus produktive
Impulse gewinnen.

FelixPhilipp Ingoldarbeitetals freierAutor,
Publizist und Übersetzer in Romainmôtier; 2018
erschienseinRoman «DieBlindgängerin», in
diesenTagen folgt der illustrierteKunstessay
«Körperblicke»(beide bei Ritterbooks).

Scharfsinnig beobachteteRomain Gary schon vor einem halbenJahrhundert, wieTerror , Desinformation oder Rassenhass die
Gesellschaftenveränderten. ULF ANDERSEN / AURIMAGES
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