Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

LITERATUR UND KUNSTLSamstag, 3. August 2019 Samstag, 3. August 2019 ITERATUR UNDKUNST


Mit den gutbetuchtenHerren, die sichalljährlichzum Ascot-Pferderennen einfinden, möchtewohl mancher tauschen.Aber der Zylinder allein macht’snicht. DAN KITWOOD/ GETTY

«Wir reden

so viel über Sex,

weil wir

es nicht wagen,

über Neid

zu sprechen»

Der französische Denker René Girard hat die


Mechanismen, die unser Begehren lenken,


scharfsinnig durchleuchtet. Robert Pogue Harrison


befragte ihn zu seinenThesen


René Girard, der Grundgedanke der
westlichen Philosophieist «Erkenne
dichselbst».Einfachist das nicht; sich
selbst zu erkennen, bedeutet vor allem,
die eigenenWünsche undBegehrlichkei-
ten zu kennen. Sie regieren unsereBezie-
hungen, beeinflussenPolitik,Religion,
Ideologien undKonflikte. Zugleich gibt
es nichts, was mysteriöser, ungreifbarer
oder abwegiger ist als das menschliche
Verlangen.Das mimetischeBegehren ist
ein Grundkonzept IhresDenkens. Kön-
nen Sie diesenBegriff erklären?
Mimetisches Begehren bedeutet, dass
unsereWahl nicht – wie wir normaler-
weise meinen – durchdas Objektbe-
stimmt wird, sondern vielmehr durch
eine anderePerson.Wir imitieren diese
Person, daher der Begriff «mimetisch».


Wenn etwa plötzlich alle Mädchen
bauchfrei herumlaufen, dann nicht,
weil jede Einzelne plötzlich findet, es
sei hübsch, einmal ihren Nabel zu zei-
gen, sondern weil es eine Mode ist, die
ebenso unvermittelt verschwinden wird,
wie sie gekommen ist. Und in beiden
Fällen handeln die jungenFrauen nicht
aus sich selbst heraus, sondern sie tun es,
weilandere es auch tun.


Wie weit würden Sie dieBehauptung
tragen,dassBegehren – seiner Natur
nach und so, wie Menschen es leben –
grundsätzlich mimetisch ist?
Wir müssen vielleichtmitderFrage
nach dem Unterschied zwischen Be-
dürfnis,Appetit und Begehrenbegin-
nen.DasBedürfnis ist ein Appetit, den
jedes Lebewesen hat.Wenn wir allein in
der Sahara sind undDurst haben, dann


muss uns niemand vormachen, wie man
trinkt; es ist ein Bedürfnis, das wir stil-
len müssen.Aber das Begehren in einer
zivilisiertenGesellschaft ist mehrheit-
lich vonanderer Art. Denken Sie an
Eitelkeit, an Snobismus.Was ist Snobis-
mus? Er besteht darin, dass man etwas
nicht um seiner selbst willen begehrt,
sondern weilman glaubt,man wirke
eleganter und smarter, wenn man den-
jenigen ähnelt, die dieses Objekt eben-
falls begehren.

In einem Ihrer Essays schreiben Sie:
«Begehrlichkeiten ziehen einander an,
äffen einander nach und binden sich
gegenseitig;soschaffen sie antagonisti-
scheBeziehungen, die beideParteien im
Zeichen der Differenz zu definieren ver-
suchen.» Antagonismus ist also das fast
unvermeidlicheResultat mimetischen
Begehrens, sobald dieses eine Rivalität
impliziert.
Die vielleicht besten Beispiele hie-
für finden sich in den Dramen Shake-
speares,wenn ein männlichesFreun-
despaar auftritt. DieFreunde begeh-
ren immer dasselbe. Sie haben zusam-
men gelebt, dasselbe geträumt, dasselbe
gegessen. Sie sagen sogar zueinander:
Wenn du nicht willst, was ich auch will,
dann bist du nicht meinFreund. Und
dann verliebt sich einer in einMädchen.
Und sobald sich der andere – zwangs-
läufig sozusagen – auch in dieses Mäd-
chen verliebt, ist der Antagonismus da.
Es gibt zweierlei Objekte: Die,die wir
teilenkönnen, weil genug davon da ist


  • Getränke etwa. Und die, welche wir
    nicht teilenkönnen oder wollen – wie
    die Liebe eines Mädchens. Die wollen
    wir nicht teilen, schon gar nicht mit dem
    bestenFreund.


Aber Sie meinen eigentlich etwas Kom-
plexeres.
Etwas vielKomplexeres.

Die beiden Männer begehren nicht nur
dasselbe Objekt, dasBegehren hat auch
etwas Promiskuöses. Es entsteht eine Art
Verlangen nach dem Rivalen, nichtwahr?

Ja. Das ist ganz offensichtlich. In den
«Zwei Herren ausVerona» etwa ver-
liebt sich einer der jungen Männer,und
der anderewird unweigerlich sofort hin-
eingezogen.

Aberwarum?
Weil derVerliebte ja nicht sicher sein
kann, dass er die richtigeWahl getrof-
fen hat, wenn seinFreund das Mädchen
nicht auch liebt. Diese ArtFreundschaft
ist für Shakespeare und andereAutoren
fast schon eine Obsession.

Im fünften Gesang vonDantes «Inferno»
erzähltFrancesca, wie sie zusammen mit
Paolo die Geschichte von Lancelot und
Guinevere las.Als die beiden Figuren
sich küssten, legtenPaolo undFrancesca
das Buchweg und taten dasselbe.
Francesca undPaolo sind verschwägert,
sie ist dieFrau vonPaolos Bruder. Erst
einmal war da überhauptkein Gedanke
an Liebe; erst die gemeinsame Lektüre
drängt sie dazu, dieFiguren nachzu-
ahmen. Dante sieht das Buch denn auch
als den Bösewicht, der sie verführt hat.

Die Struktur des mimetischenBegeh-
rens haben Sie zuerst in der Literatur
gefunden.Davonzeugt Ihr erstes Buch,
«Figuren desBegehrens. Das Selbst und
der Andere in der fiktionalenRealität».
Das stimmt, aber vor allem waren es die
Berührungspunkte zwischender Litera-
tur und meiner eigenen Erfahrung. Ich
war damals Anfang zwanzig,und natür-
lich interessierte ich mich für Mädchen.
Plötzlichrealisierte ich, dass ich mich
wie die meistenRomanhelden verhielt
–etwa bei Proust. Eine meinerFreun-
dinnen wollte, dass ich sie heirate; das
wollte ich nicht und zog mich zurück.
Aber sobald sie das akzeptiert hatte und
sich von mir trennte, fühlteich mich wie-
der zu ihr hingezogen – weil sie sich mir
verweigerte.All diese negativen Ele-
mente sind im Begehren immer präsent.
Sogar diejenigen, die kaum darüber Be-
scheid wissen, sind sich klar darüber,
dass dieVerweigerung des Objektsdas
Verlangen steigert. Und dieVerweige-

rung hängt sehr stark mit der Präsenz
einer drittenPerson zusammen,die sich
des Liebesobjekts bemächtigenkönnte.

Sie haben in der europäischen Literatur
eine ganze Reihe vonVarianten dieses
Phänomens gefunden.
Es gibt zweierlei Schriftsteller. Einer-
seits diejenigen, die ich alsromantisch
bezeichne. Sie glauben an die Ursprüng-
lichkeit und Spontaneität des Begeh-
rens. Sie meinen,ihreWahlkomme ganz
aus ihrem eigenenWesen heraus. Inter-
essanter aber sind die Schriftsteller, die
sich gewahrsind,welcheRolle diePer-
son desDrittenin unserem Begehren
spielt, und die mit dieserKonstellation
arbeiten.

Können Sie solcheAutoren nennen?
Das erste grosse Beispiel im europäi-
schenRoman ist Cervantes.Warum will
Don Quijote ein fahrender Ritter wer-
den, wenn es längstkeine mehr gibt?
Er ist genau wieFrancesca. Er liest
Romane.Und dann will er werden wie
Amadis von Gallien, der einerein fiktio-
naleFigur ist. Quijote wirdzwar immer
wieder grün und blaugeprügelt,aber er
ist vollkommen glücklich, weil ersichfür
den würdigen Nachfahren Amadis’ hält.

Literatur enthüllt also nicht nur die
Mechanismen des mimetischenBegeh-
rens,sondern sie setzt selbstVorbilder
in dieWelt, welche die Leser imitieren
wollen. Natürlich geschieht das in der
heutigenKultur auchanderswo, in der
Unterhaltungsindustrie etwa oder in den
Medien.
Richtig.Und die neueren Medien sind
mächtiger als die alten. Heute beknien
wir unsere Kinder, Bücher zu lesen, statt
fernzusehen. Aber früher hatten Bücher
eine ganz andereFaszinationskraft, sie
waren, was dasFernsehen heute ist. Sie
waren per se eineVersuchung.

In «Figuren des Begehrens» stellen
Sie eine ganzeTypologie der Emotio-
nen auf, besonders der negativen: Hass,
Eifersucht, Neid,Ressentiment...

Dienatürlichallemit Stolz zu tun haben.
Denn bei einer mimetischen Rivalität
ist die Eitelkeit involviert, und man will
um jeden Preis gewinnen. Hauptsäch-
lich geht es um den Kampf zweier jun-
ger Männer um eineFrau. Sie investie-
ren ziemlich viel Zeit darein, sie zu ver-
führen, besonders in derromanischspra-
chigen Literatur. Ich denke, ein Grund,
warum die angelsächsischeKultur – wie
soll ich das sagen? – ökonomischdyna-
mischer ist, liegt darin, dass weniger
Energie in dasmimetische Begehren
abfliesst, das in der italienischen Klein-
stadt, in Südfrankreich oder Spanien
eine solcheRolle spielt.

Dann muss ich jetzt doch eine etwas
provokativeFrage stellen.Wenn es zu-
trifft, dass das mimetische Begehren
in der angelsächsischenKulturweni-
ger stark ist als in derromanischen, wie
können Sie dann behaupten, dass es eine
Universalie ist?
Doch,das kann man.Natürlich spielt in
diesenRomanen das sexuelle Begehren
eine grosseRolle.Aber mimetisches Be-
gehren ist auch sehr wichtig in der Ge-
schäftswelt. Die mimetischste Institu-
tion von allen isteine kapitalistische: die
Börse. Man will eine Aktie nicht, weil
ihr etwas objektiv Begehrenswertes eig-
net. Man weiss überhaupt nichts über
sie, aber man ist allein darum auf sie er-
picht, weil andere Leute sie auch haben
wollen.Und wenn alle sie haben wollen,
steigt ihrWert ins Unermessliche. So be-
trachtet, ist das mimetische Begehren
eine Art absoluter Herrscher.

Ein interessanter Brückenschlag zwi-
schen Eros und Kapital.
Marx’ Irrtum lag darin, dass er glaubte,
der ökonomische Aspekt seiessenziel-
ler als jeder andere. Freuds Irrtum war
es, den sexuellen Aspekt für essenziell
zu erklären.Beide beschränken sie das
mimetische Begehren auf einen Sektor,
einen Aspekt menschlichenTuns,den
sie als deneinzig wichtigenansehen,
den Schlüssel zu allem anderen. Aber
das mimetische Begehren lässt die

René Girard
PD Philosoph

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