Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

LITERATUR UND KUNSTLSamstag, 3. August 2019 Samstag, 3. August 2019 ITERATURUND KUNST


dieWerbeindustrie eine Ahnung von dem
hat,was Sie sagen.Was Neid angeht,weiss
sie jedenfalls sehr gutBescheid.
O ja. DieWerbung versucht nicht, uns
aufzuzeigen, dass das Produkt, das sie
verkaufen will, objektiv das beste ist.
Sie will immer beweisen, dass das Pro-
dukt von den Menschen begehrt und
gekauft wird, denen wir gerne gleichen
würden.Darum sind es immer junge,
braungebrannte Leute, die an einem
sonnigen Strand Coca-Cola trinken,
Leute, die sehr wenig, aber sehrTe u-
res an ihren wohlgeformten Leibern
haben.Das hat etwas fast schonReli-
giöses.Wenn du Coke trinkst, je mehr,
desto besser, dann wirst du ein bisschen
wie die Leute, die du bewunderst. Es ist
eine Art Eucharistie.

Reden wir nochüber IhreShakespeare-
Studie,«Theater des Neides».Sie nen-
nen Shakespeare Ihren grossenVorläu-
fer bei der Entdeckung des mimetischen
Begehrens.
Ich sehe ihn sogar in erster Linie als den
Dichter des mimetischen Begehrens.
Wenn Sie ein Stück wie den «Sommer-
nachtstraum» nehmen, dann sehen Sie,
dass zwei Männer immer dazu tendieren,
dieselbeFrau zu lieben.Dann träufelt
man ihnen etwas magischen Blumensaft
in dieAugen, und schon wendet sich bei-
der Liebe einer anderen zu. Und so wer-
den sie Rivalen. Die Geister undFeen,
die in dem Stück so wichtig sind,sollten
wir als Emblem dafür nehmen, wieMen-
scheninarchaischenGesellschaftendas
mimetische Begehren verkannten. My-
then und Geschichten dieser Art sind
immer eine Art Entschuldigung, indem
sie mittels desWunderbaren die schlim-
menFolgen des mimetischen Begehrens
zuerklären suchen.

Und Sie meinen, dass Shakespeare das
genau verstanden hat.
Ja, das glaube ich. «OTod! Mit frem-
demAug’ den Liebsten wählen!» – das
ist eineKernaussage dieses Stücks. Die
wahre Hölle fängt an, wenn man die
Liebe durch dieAugen vonjemand

anderem sucht und dadurch unweiger-
lich in ein Eifersuchtsdrama mit dem
eigenenFreund oder derFreundin ge-
zogen wird. Genau darum geht es im
«Sommernachtstraum».

Sie konstatieren in Ihrem Buch, dass
mimetischesVerhalten in denKomö-
dien viel häufiger vorkommt als in den
Tragödien oder dass es dort zumindest
wesentlich offensichtlicher ist.
Ja, denn dieKomödie erlaubt alle mög-
lichenKonstellationen. Ich habe die
«Zwei Herren ausVerona» bereits er-
wähnt.In Shakespeares ersten Stücken
gibt es nur ein Liebespaar beziehungs-
weise zweiMänner, die dann dasselbe
Mädchen lieben. Später sind es zwei
Paare,die buchstäblich über Kreuz ge-
raten. Es ist wie einBallett. Letztlich
bewegen wir uns auf eineKunstform
zu, in der die Gesten undWorte alle
irgendwie symmetrisch arrangiert sind


  • und der Grund dafür ist die mimeti-
    sche Rivalität.


Sind sich die Figuren dieserSymmetrie
bewusst?
Im Gegenteil.Je stärker die mimetische
Rivalität, desto mehr glaubt man sich
vom Rivalen zu unterscheiden.Faktisch
aber tut man immer dasselbe wieer,
verhält sich wie er, und die Differenzen
kollabieren. DieFiguren werden buch-
stäblich Doubles.Sie handeln gleich.
Sie sprechen gleich. Und sie haben
das Gefühl, dass der Andere sie nach-
äfft, um sie zu verhöhnen.Aber die-
ses Nachahmen ist faktisch ein Zwang.
Das passiert mitHermia und Helena
im «Sommernachtstraum».

Nehmen wir«Hamlet» alsTestfall. Die
Literaturkritik sieht in dem Drama eine
der ersten modernen Darstellungen
einesBewusstseins, das mit sich selbst
im Streit liegt. Hamlet zieht sich auf sich
selbst zurück. Er scheint genau die Art
Figur zu sein, die sichaus dem promis-
kuösen Kreislauf desVerlangens heraus-
halten kann.
Das gelingt ihm tatsächlich über längere
Zeit. Und darum kann er nicht tun, was
die Gesellschaftvon ihm fordert, näm-
lichRache nehmen. Und er erkennt die
Ähnlichkeit zwischen seinemVater und
seinem Onkel. Sie sind beide Mörder.
Sie hassen einander, aber sie sind mime-
tische Charaktere.

Und er sieht dieVergeblichkeit...
Er sieht dieVergeblichkeit.

...des Gesetzes der Rache.
Richtig.

Undwas geschieht dann?Warum fällt
er diesem Mechanismus dennoch zum
Opfer?
Dazu müssen wir uns der Handlung zu-
wenden, die um den von Hamlet ermor-
detenPolonius und dessen SohnLaer-
tes kreist.Laertes ist eine Art Anti-
Hamlet. Er ist bereit, dieRache zu voll-
ziehen, zu der Hamlet nicht fähig ist.
Er vermag um seine Schwester Ophelia
zu trauern, heftig undemotional. Und
als Hamlet das sieht, sagter: «Doch
wirklich, seines Schmerzes Prahlerei /
Empörte mich zu wilder Leidenschaft.»
Das heisst,dass er, indem erLaertes
imitiert, fähig sein wird, ihn zu töten und
den Mechanismus derRache in Gang
zu setzen, was er zuvor nicht vermochte.
Laertes wird dasVorbild für das mime-
tischeVerlangen, das Hamlet unbewusst
verspürt. Durch Nachahmung überwin-
det er schliesslich seine Unfähigkeit zu
handeln.

Aber zum Guten gereicht ihm dies nicht.
Mankönnte sagen, dass Handlungsunfä-
higkeit in unsererWelt auch bedeutet,
dass man sich derDummheit mimeti-
schen Begehrens gewahr ist undreali-
siert, wie gleich die Dinge einander am
Ende sind. Jemehr man handelt, desto
mehr gerät man in den Kreislauf dieser
mimetischen Situationen.

Ist das die Essenz des Dramas?
Das ist Shakespeare.Die meistenTr a-
gödiendichtersind nicht so modern.
Oder sagen wir, es ist Shakespeare,so,
wie ich ihn lese. Ich habekeinen abso-
lutenWahrheitsanspruch. Aber Shake-
speare ist unglaublich modern. Errea-
lisiert, wie schwer es ist, eineRache-
tragödie über drei, vier, fünf Stunden
amLaufen zu halten.Darum brauchen
wir einen Helden, der sich nichträchen

kann; einen Helden, der nicht an die Si-
tuation glaubt.

Das wahrhaftTragische liegtwohl darin,
dass man, nochwenn man denWahn-
sinn des Rachekreislaufs und der rezi-
proken Gewalt erkennt, sich diesen
Mustern nicht entziehen kann.
Aber eskommt vor, dass uns genau das
gelingt.Menschenziehen sich aus mime-
tis chen Situationen zurück, so wie Ham-
let.Ist das nicht einTeil moderner Intel-
ligenz?Wir analysieren die mimetische
Situation nicht vollständig, aber wirrea-
lisieren, dass wir uns in einer absolut
klassischen Situation befinden, die sich
in derselben Minute allenthalben auf
derWelt tausendfach abspielt. Und wir
springen aus dem Szenarioheraus, weil
wir nur zu gut wissen, dass es noch nie
gut herausgekommen ist.

Was hilft uns denn dabei, aus diesen
alten Kreisläufen auszubrechen?
Ich glaube,dass wir frei sind. Es ist eine
Frage desVerstehens und desWillens.
Menschen sind so leidenschaftlich, dass
sie immer wieder in dieselbe Grube fal-
len.Das passiert auch uns selbst.Auch
wir sind überzeugt von dem, was wir tun;
auch wir wollen Erfolg haben. Und Er-
folg hat man immeraufKosten von je-
mand anderem. Ichkönnte mir sogar
vorstellen, dass Erfolgsdruck und Riva-
lität zu vermehrter Gewalt führen.

Was bringt Sie auf diesen Gedanken?
Wirhaben jetztviel überLiteraturge-
sprochen, aber unlängst habeichein
Buch gelesen, von dem ich viel gelernt
habe: Clausewitz’ Schrift«Vom Kriege».
Clausewitz nennt den Krieg ein Chamä-
leon. Er schreibt, dass er eine Eskalation
bis zum Letzten ist und dass man, um
zu gewinnen, den Gegner ständig nach-
ahmen muss.Wenn man Clausewitz ge-
nau liest,dannerkennt man, dass das
Buch genau wie ein mimetischerRoman
funktioniert. Clausewitz lehrt uns nicht,
wie man gewinnt, aber er zeigt uns stän-
dig die mimetische Natur des Krieges.
Diese spiegelt sich auch imTechnischen,
di eFeuerkraft etwaist ein mimetisches
Spiel.Wenn du eine grosse Kanone hast,
brauche ich eine noch grössere.

Wenn diePolitiker auf Sie hören wür-
den,was rieten Sie ihnen?
Das ist eine schwierige Frage, weil
meineVision im Innerstenreligiös ist.
Ich glaube an Gewaltlosigkeit, und ich
glaube, dass die Erkenntnis der Gewalt
einen lehren kann, Gewalt zu verwerfen.
Man sieht ein, dass es sich dabei um ein
Spiel handelt, das immer gleich verläuft,
um eine endloseWiederholung.

Dashat Hamlet auchschon eingesehen.
Es hat ihn nicht gerettet.
Ah.Aber Shakespeare musste dazu
Laertes ins Spiel bringen. Und wäre
Laertes ein weiterer Hamlet gewesen,
dann hätte das Stückkein Ende gefun-
den. Es wäredas Ende derTr agödie ge-
wesen. Und tatsächlich war Shakespeare,
als er den «Hamlet» schrieb,schon nah
am Ende derTr agödie. In seinem Spät-
werk wandte er sich denRomanzen zu,
und dort gibt es eine HandvollFiguren


  • etwa Leontes im«Wintermärchen» –,
    die ihre Gewalttätigkeit und ihr mime-
    tischesVerlangen nachRache bereuen.


Aus dem Englischen von as.

Mit den gutbetuchtenHerren, die sichalljährlichzum Ascot-Pferderennen einfinden, möchtewohl mancher tauschen.Aber der Zylinder allein macht’snicht. DAN KITWOOD/ GETTY

Beziehung zwischen Marx undFreud
sichtbar werden.

Ihre Theorie desmimetischenBegehrens
ist aber keine psychologische.
Nein, sie gründet auf menschlichen Be-
ziehungen.

Und auf äusseren Strukturen, diewei-
ter und grösser sind als die individuelle
Psyche und die dieseBeziehungen de-
terminieren.
Ja.

Ihre mimetische Theorie beschränkt sich
auch nicht auf den Menschen; es gibt da-
für eine Grundlage in derTierwelt.
Gewiss. Dort gibt es die sogenannten
Dominanzmuster.Und wiekommen
die zustande? Indem die Männchen um
dieWeibchen kämpfen. Die Männchen
sind so begierig auf diesen Kampf,dass
sie ihn manchmal noch fortführen, wenn
dasWeibchen bereits verschwunden ist,
nur weil sie mimetisch erregt sind. Der
Kampf wird wichtiger als sein Objekt.
AberTiere werden einander dabei nie-
mals töten, während die Menschen die
Rache erfunden haben.Rache ist die
letztgültigeAusprägung der mimeti-
schen Rivalität, weiljederRacheakt
eine genaueImitation desvoraufgegan-
genen ist.Wenn Sie sich mitRache be-
fassen, dannrealisieren Sie, dass mime-
tische Nachahmung sich in allen Mani-
festationen des Begehrens zeigt.Bei den
Menschenkann das so extrem werden,
dass es zumTod führt.Rache lässt sich
nicht einschränken.

Betrachten wir noch ein anderes Ge-
fühl, das sehr eng mit Hass, Rache und
Eifersucht verwandt ist, nämlichden
Neid. Ich denke, das ist eine stark unter-
schätzte Emotion.
Das sehe ich auch so. Neid ist die Emo-
tion,welchein unserer heutigen Gesell-
schaft, wo sich alles ums Geld dreht,
die grössteRolle spielt. Man beneidet
die Menschen, die mehr haben als man
selbst, aber man kann nicht über seinen
Neid sprechen. Ich glaube,wirreden

so viel über Sex, weil wir es nicht wa-
gen, über Neid zu sprechen. Die eigent-
licheVerdrängung ist dieVerdrängung
des Neids.

Und natürlich ist Neid mimetisch.
Es ist unvermeidlich, dass wir unsere
Vorbilder nachahmen.Wenn jemand
Geld braucht, dann wird er versuchen,
im selben Geschäftszweig sein Glück
zu machen wie der Mann, den er be-
wundert. Und mit einigerWahrschein-
lichkeit wird er dabei zerstört werden.
Auch wenn die Leute von Masochismus
reden, geht es dabei letztlich um mime-
tisches Begehren. Es heisst,dass wir uns
immer dorthin bewegen, wo das Begeh-
ren, das wir am meisten beneiden, sich
am stärksten manifestiert. Das tun wir,
weil es dort noch stärker ist als bei uns


  • und mit allerWahrscheinlichkeit wird
    es uns erneut aus demFeld schlagen. So
    kommt zustande, wasFreud einenWie-
    derholungszwang nennt; wir sind und
    bleiben besessen von dem, was uns die
    erste Niederlage beschert hat.


Die mittelalterliche Ikonografiezeigt
den Neid oft als eineFrau mit verbun-
denenAugen. Ist der Neid blind...
Ja.

...oder sind vielmehrwir blind, indem
wir es nicht vermögen, den Neid als
eine der dominantesten Leidenschaften
in unserer Gesellschaftwahrzunehmen?
Neid ist so schwer einzugestehen, weil
er unser ganzesWesen involviert. In ge-
wisserWeise bedeutet er dieVerneinung
des eigenen Selbst und das Eingeständ-
nis, dass man lieber wäre wie der Rivale.
Das ist ein derart abscheuliches Gefühl,
dass es Mordlust weckt – dasVerlan-
gen, den Anderen, den man beneidet,
umzubringen.

Manchmal Mordlust, manchmal aber
auchBewunderung.
Das ist dasselbe. (Lacht)

Wir wollen allemal hoffen,dass dasResul-
tat nicht dasselbe ist. Ich wüsste gern, ob

«Neid ist so schwer
einzugestehen, weil er
unser ganzesWesen
involviert. In gewisser
Weise bedeutet er
dieVe rneinung
des eigenen Selbst.»

Ein kühner Visionär


r. p. h.·René Girard (1923–2015) war
einer der führenden Denker unse-
rer Zeit. Unterschiedlichste Diszipli-
nenkonvergieren in seinem Œuvre: Ge-
schichte,Anthropologie,Psychologie
und Soziologie so gutwie Philosophie,
Theologie undReligionswissenschaften.
So überwand er etablierteVorstellungen
und Ismenund gelangte zu einer küh-
nen, umfassenden Sicht auf die Natur,
die Geschichte und das Schicksal des
Menschen. Er begann seine Arbeit in
den1960erJahren mit einer neuenKon-
zeption des menschlichenVerlangens:
UnsereWünsche, schrieb er, sind nicht
unser eigen,sondern sie sind «mime-
tisch».Als sozialeWesen lernen wir von
anderen,wasbegehrenswert für uns
selbst ist.Ausgehend von diesem Gedan-
ken schrieb Girard über Imitation, Neid,
Wettbewerb und Gewalt, über Sünden-
böcke, Rituale, Opfer und Krieg.

38 39

Free download pdf