Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 3. August 2019 INTERNATIONAL


Brückenbauer


zwischen Afrika


und Europa


Der Bürgermeister von Mogadiscio
erliegt einemAttentat

FABIAN URECH

Abdirahman Osman hatte grosse Ziele.
Der Bürgermeister von Mogadiscio
wollte seine Stadt, die als eine der ge-
fährlichsten überhaupt gilt, wieder zu
dem machen, was sie vorJahrzehnten ge-
wesen ist: die weissePerle am Indischen
Ozean. Der kleingewachsene Ingenieur
hatte vor rund zehnJahren einen guten
Job und seineFamilie in England zu-
rückgelassen, um in dasLand zurückzu-
kehren, das er wegen des Bürgerkriegs
einst verlassen musste.«Wer sonst soll
unserLand aufbauen, wenn nicht wir?»,
sagte er im Gespräch mit der NZZ im
vergangenen Sommer.
Nach seinem Amtsantrittals Bür-
germeister imFrühjahr 20 18 machte er
sich imAusland bald einen Namen als
ausgeprägter Optimist. Unermüdlich
wies er darauf hin, beim Blick auf seine
Stadt nicht nurTerror und Krieg zu se-
hen, sondern auchFortschritte und wirt-
schaftliche Chancen. «DieWelt muss
verstehen: Mogadiscio ist nicht mehr
‹Black Hawk Down›,Terrorismus und
Warlords.» Nun sei, wiederholte Osman
auf seinenAuslandreisen immer wie-
der, die Zeit gekommen, in Somalia zu
investieren.

Ein Gegenentwurf zu al-Shabab


Am Donnerstag ist das couragierte En-
gagement des Bürgermeisters zu einem
jähen Ende gekommen. Rund eine
Woche nach einem Anschlag auf sein

BüroinMogadiscio ist Osmanineinem
katarischen Spital seinenVerletzungen
erlegen. Nach Angaben der Nachrich-
tenagentur AP war vergangenen Mitt-
woch eineAttentäterin der islamisti-
schenTerrormiliz al-Shabab in das Ge-
bäude eingedrungen und hatte dort
einen Sprengsatz gezündet. Mindestens
elfPersonen sind wegen des Anschlags
bisher ums Leben gekommen.
Dass Osman als Bürgermeister nicht
nur ein schwieriges, sondern auch ein
sehr gefährliches Amt ausführte, war
hinlänglich bekannt. Zwar hat sich die
Sicherheitslage in Mogadiscio in den
vergangenenJahren insgesamt verbes-
sert, fürPolitiker und Staatsangestellte
blieben die Angriffe der jihadistischen
Al-Shabab-Miliz aber eine ständige
Gefahr. Für Osman galt das in beson-
derem Masse. Der Bürgermeister hielt
sich mit scharfer Kritik gegenüber den
Terroristen nie zurück. Zudem dürfte
seineVision einer weltoffenen, moder-
nen Hauptstadt für viele Jihadisten aus-
gesehen haben wie ein Gegenentwurf
ihres eigenen Ziels – der Errichtung
eines Gottesstaats am Horn von Afrika.

Karrierestart in London


Mit Osman verschwindet nicht nur ein
fleissiger politischer Macher und eine
Stimme der fast unerschütterlichen
Zuversicht von der somalischenPolit-
bühne. Erwar auch ein Brückenbauer
zwischenAfrika und Europa. Bevor er
2008 nach Somalia zurückkehrte und
dortspäterauch als Informationsminis-
ter tätig war, hatte Osman siebzehn
Jahre lang in England gelebt.Erwar
dort auch eingebürgert.
Als Flüchtling nachEngland migriert,
schloss Osman in Grossbritannien ein
Studium ab und machte bald Karriere
in der Londoner Stadtverwaltung. Seine
Beziehungen in Europa und seineVer-
trautheit mit zwei Welten dürften
Osman später geholfen haben, imAus-
land füreine neue Sichtweise auf Soma-
lia sowie für Investitionen zu werben.

Der Kronprinz lockert die Ketten


Saudiarabien gewährt den Frauen Reisefreiheit – bish er brauchten sie dafür einen männlichen Vormund


DANIELSTEINVORTH


Wie alle politischen Neuerungen in
Saudiarabien kommt auch diese per
königlichem Dekret:Frauen, so heisst
es in einemRegierungsbeschluss, den
die staatliche Zeitung «Umm al-Kura»
am Donnerstag veröffentlichte, sollen
künftig ohne Erlaubnis eines Mannes
frei über ihreReisen insAusland ent-
scheiden dürfen. «EinPass wirdjedem
saudischen Staatsbürger ausgestellt, der
ihn anfordert», steht in dem Bericht. Die
neuenRegeln sollen für alleFrauen gel-
ten, die älter als 21Jahre sind.
In dem erzkonservativenKönigreich
benötigtenFrauen fürAuslandsreisen
bisher die Zustimmung ihresVaters,
Bruders, Mannes oder sogar Sohnes.
Ohne diesenVormund («Wakhil») ist es
ihnen auch nicht möglich, einen Miet-
vertrag zu unterschreiben,sich fürein
Studium einzuschreiben oder einKonto
zu eröffnen. Seit langem wurde dieses
System, das dieFrauen ein Leben lang
auf den Status von Minderjährigenredu-
ziert, international scharf kritisiert.


DerKlerus fügt sich


DerjüngsteEntscheid gehört zueiner
Reihe von Reformen, mit denen der
starke Mann im Land, Kronprinz
Mohammed bin Salman, den angeschla-
genenRuf seinesLandes – und wohl auch
seinen eigenen – aufpolieren möchte.
War dasKönigreich bis 20 18 das einzige
Land derWelt, in demFrauen nicht selbst
Auto fahren durften, hob der Prinz die-
sesVerbot im vergangenen Sommer auf.
Auch wurdeFrauen erlaubt,Fussball-
spiele zu besuchen und Berufe zu ergrei-
fen, die bis dahin nur Männer hatten aus-
übenkönnen. ObFrauen und Männer in
demWüstenstaat gleichberechtigt seien,
fragte ihn der amerikanischeFernseh-
sender CBS im vergangenenJahr. Seine
Antwort: «Absolut.Wir sind alle Men-
schen, es gibtkeinen Unterschied.»
Für die Benachteiligung derFrauen
hatte die wahhabitische Geistlichkeit
früher oftabsurdeArgumente parat:
Sässen Frauen am Steuer, sei dies
nicht nur schädlich für die Moral, son-
dern auch für die Eierstöcke derFah-
rerin, hiess es beispielsweise. Doch seit


bin Salman demVolk einen dosierten
Feminismus verordnet, klingt der Kle-
rus ganz zahm: Der frühere Chef der
Religionspolizei in Mekka, Ahmed al-
Ghamdi, erklärte schon 2018, dass das
Tr agen der schwarzen «Abaya» für
Frauen nicht obligatorisch sei. Esreiche
aus, sich «respektvoll» zu kleiden. Nicht
jeder wird so denken. Doch sind diereli-
giösenFunktionäre demKönigshaus zu
absolutem Gehorsam verpflichtet, und
gegen dissidenteWahhabiten geht der
Kronprinz längst genauso hart vor wie
gegen Menschenrechtsaktivisten.

Blosskeine mündigenBürger


Dafür, dass bin Salman seinLand öffent-
lichkeitswirksam umkrempelt, gibt es
mindestens zwei Gründe: Zum einen

wird im Zuge derWirtschaftsreformen,
die Riads Abhängigkeit vom Ölgeschäft
reduzieren sollen, der Einbezug auch der
saudischenFrauen in die Arbeitswelt
immer wichtiger,was gewisseLiberali-
sierungen erfordert. Zum anderen sol-
len die Änderungen Saudiarabien sym-
pathischer machen und wohl auch die
jüngsten Einträge im Sündenregister des
Kronprinzen vergessen lassen: Den mör-
derischen Krieg inJemen, die andauern-
den Menschenrechtsverletzungen im
eigenenLand, vor allem aber den Mord
an demJournalistenJamal Khashoggi,
der nach Erkenntnissen westlicherGe-
heimdienste vom Prinzen persönlich in
Auftrag gegeben wurde.
ZweiJahre nach bin Salmans Ernen-
nung zum Kronprinzen dürfen sich die
Frauen in Saudiarabien zweifellos freier

wähnen.Von einer Gleichberechtigung
der Geschlechter kann jedoch weiter
keineRede sein, denn abgeschafft ist
dasSystem derVormundschaftkeines-
wegs. Zuletzt häuften sichFälle von jun-
genFrauen, die aus demLand flohen,
weil sie das Leben in Unfreiheit und
unter ständigerKontrolle nicht mehr
aushielten. Zugleich ging dieRegie-
rung brutal gegen Aktivistinnen vor,
die eigenmächtig ihre Stimme erhoben:
Die 30-jährige Lujain al-Hathlul etwa,
die prominent gegen dasFahrverbot für
Frauen kämpfte, sitzt seit Mai 20 18 in
Haft.Laut ihrerFamiliesoll Hathlul ge-
foltert wordensein. Ganz offensichtlich
verzichtet bin Salman nicht auf nackte
Repression.Das gibt auch seiner fort-
schrittlichsten Agenda einen bitteren
Beigeschmack.

Junge Frauen geniessen amRoten Meer neueFreiheiten.VonGleichberechtigungkann jedoch nochkeineRede sein. SEAN GALLUP/GETTY

Singapurs Saubermänner bekommen Konkurrenz


Ein früheres Mitglied der Regierungspartei bläst zum Angriff auf das Machtmonopolder herrschenden Elite


MANFRED RIST, SINGAPUR


Immer wenn in SingapurWahlen an-
gesagt sind, tauchen die Männer und
Frauen inWeiss auf. Blütenweiss ist die
Farbe derPeople’sActionParty (PAP),
derPartei,die Singapur seit der Unab-
hängigkeitregiert und jede Opposition
und jeden Dissens imKeim erstickt.
Kandidaten inWeisskönnen sich auch
beim nächsten Mal wiedergute Chan-
cen ausrechnen, insParlament gewählt
zuwerden. Zwar sind die nächstenregu-
lärenWahlen erst 2021 fällig, doch seit
Premierminister Lee Hsien Loong an-
gedeutet hat, dass dieWahlen schon
im laufendenJa hr stattfindenkönnten,
steigt die Spannung. Denn auf einmal
hat diePAP einen ernstzunehmenden
Herausforderer:Tan Cheng Bock, ein
früheres Mitglied derPAP-Elite.
Tan Cheng Bock ist im Stadtstaat ein
bekannter Mann. Der 79-jährige Arzt
gilt als berühmtesterAussteiger des
PAP-Systems und seitheralsharscher
Kritiker der wenig demokratischenVer-
hältnisse in Singapur.Als er 2011 als un-
abhängiger Kandidat für das Präsiden-
tenamtkandidierte,verfehlteerdie ab-
solute Mehrheit in der Direktwahl nur
hauchdünn. Immerhin 26Jahrelang sass
er imParlament; an Erfahrung fehlt es
ihm also nicht.Jetzt holt er zu seinem
vielleicht letzten Angriff aus: Er hat eine
neuePartei gegründet. Mit der Progress
SingaporeParty (PSP) will er das Macht-
monopol der Saubermänner inWeiss


knacken. Denn so unbefleckt, wie diese
sich gäben, seiensiegar nicht, meint er.
DerPolitikveteran bewegt sich auf
dünner Unterlage.Eine falsche An-
schuldigung gegen einRegierungsmit-
glied oder ein zweideutigerAusdruck
könnenihn vor Gericht bringen. Er
weiss es, denn lange genug hat er für die
Weissen gearbeitet. SeinVorwurf an die
PAP-Grössen klingt deshalb zunächst
unverfänglich: «Erosion von Good
Governance», also schlechtes Manage-
ment. Doch selbst dies ist in Singapur
schondickePost. Denn die Machthaber
nehmen für sich in Anspruch, einwand-
freieRegierungsarbeit zu leisten.Wer
daran öffentlich zweifelt, muss schon
ein paar gute Argumente bereithalten.

SelektionstattechteWahlen


An einer Medienkonferenz brachteTa n
Check Bock vergangeneWoche drei
Beispiele für Missmanagement vor.Wie
komme es, dass – erstens – die Ehefrauen
von Ministern Spitzenämter bekleide-
ten? Er spielte damit in erster Linie auf
dieRolle von Ho Ching an, der Gattin
von Premierminister Lee Hsien Loong,
die fünfzehnJahre lang dem milliarden-
schweren StaatsfondsTemasek vorstand.
Dann kritisierte er – zweitens – denSys-
temwechsel,der verhinderte, dass er
2017 nochmals als Präsidentschaftskandi-
dat antreten durfte; in derFolge erfüllte
pikanterweise nur noch eine derRegie-
rung genehme malaiische Kandidatin die

veränderten Kriterien für das Amt des
Staatsoberhaupts. «Selection statt Elec-
tion» spottete darauf die halbe Nation.
Drittens stellteTan Cheng Bock die
Frage, ob dasParlament seinerzeit wirk-
lich der geeignete Platz gewesen sei, um
die innerfamiliären erbrechtlichen Strei-
tigkeitenvon Premierminister Lee Hsien
Loong zu debattieren. Bei dieserFehde
ging es vordergründig um das legendäre
Haus an der OxleyRoad, in dem der
Gründervater der Nation, LeeKuanYe w,
mit seinerFamilie wohnte. InWirklichkeit
ging (und geht) es bei dem Streit auch um
Vorwürfe, die das heutige Machtsystem
infrage stellen. Dynastisches Denken,
Arroganz und Machtmissbrauch warfen
die zwei Geschwister dem Premierminis-
ter in diesem Zusammenhang vor.
Diedrei Kritikpunkte wirken an-
gesichts des vielgepriesenen «Erfolgs-
modells Singapur» zunächst wenigrele-
vant. Doch es sind genau jeneThemen,
die in der laufenden Legislaturperiode
hinter vorgehaltener Hand für vielAuf-
ruhr undreichlich Zynismus gesorgt
haben; sie sind selbst für das gemeine
Volk eher durchsichtig.Und jetzt, daTa n
Cheng Bock dasWort ergreift und da-
mit gewissermassen denWahlkampf er-
öffnet, steigt dasThermometer. Bei den
Weissen sorgt das fürroteKöpfe.
Eskönnte bald noch heisser wer-
den. Lee HsienYang, derjüngereBru-
der des Premierministers, hat dieserTage
viaFacebook verkündet, dass er die neue
Oppositionspartei vollen Herzens unter-

stütze. DieRegierungspartei sei nicht
mehr mit derPAP vergleichbar, die sei-
nerzeit von seinemVater gegründet wor-
den sei.Jetzt fehlt eigentlich nur noch,
dassYangder PSP beitritt und damit an
der Seite vonTan Cheng Bock seinen
mächtigen Bruder offiziell herausfordert.
Es wäreeine spektakuläre Eskalation im
Bruderzwist, die das Erbe der Lee-Fami-
lie erneut insRampenlicht zerren und
ziemlich strapazieren würde.

Die Zweidrittelmehrheitbrechen


Gerät das SingapurerSystem, das auf
«Good Governance», gelenkter Demo-
kratie, Auslandsinvestitionen undWirt-
schaftswachstum basiert, damit aus
denFugen?Vermutlich nicht. Singapur
ist weder Malaysia, wo es 20 18 wegen
offensichtlicher Misswirtschaft zu einem
Regierungswechsel kam, noch hat sich
hier Unmut wie in Hongkong ange-
staut, und nochregiert diePAP so abge-
hoben wie die Machthaber inThailand.
Einrealistisches Ziel habenTan Cheng
Bock und seinesgleichen dennoch: Sie
wollen derPAP die Zweidrittelmehrheit
imParlament entreissen.
Einen ersten Erfolg kann der politi-
sche Underdog bereits verbuchen. Nach
etlichenVerzögerungen haben die Be-
hörden grünes Licht für eineVersamm-
lung gegeben, dieamkommenden Sams-
tag die Geburt der SPS markieren soll.
Die bewilligten tausendTickets für die
Party waren innert Stunden weg.

Abdirahman Osman
Bürgermeister
REUTERS von Mogadiscio
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