Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

Samstag, 3. August 2019 INTERNATIONAL


Der Verkehr belastet das Verhältnis der Nachbarn schon lange


StreitigkeitenumAutobahngebührenund umSchienenwege für den Brenner-Basistunnel haben die FrontenzwischenBayern und Tirol verhärtet


STEPHANIE LAHRTZ, MÜNCHEN


Nachbarn, das ist einkomplexesVer-
hältnis, im Kleinen wie im Grossen.Zwi-
schenBayern undTirol ist der grenz-
überschreitendeVerkehr eine schwä-
rendeWunde. Datut schon die kleinste
Berührung weh.Daher war dieAuf-
regung bei bayrischenPolitikern ange-
sichts derTirolerFahrverbote nicht nur
erwartbar, sondern auch logisch.


Vignette für fünf Kilometer


Denn dieBayern fühlen sich seitJah-
ren abgezockt. Sie müssen Maut für
die österreichischenAutobahnen zah-
len, die Nachbarn imFreistaat hingegen
nicht. Richtig hochkochte derVolks-
zorn 2013.Damals beschloss die öster-
reichischeAutobahngesellschaft Asfi-


nag, dass auch auf dem nur fünf Kilo-
meter kurzenAutobahnstück nach der
Grenze in Kiefersfelden in Richtung
Kufstein die schon lange gültigeVignet-
tenpflicht strikt umgesetzt wird.Das traf
vor allem Münchner und Oberbayern
ins Mark. Denn nun mussten sie für die
Fahrt in die Skigebiete amWilden Kai-
ser oder in Kitzbühel ein «Pickerl» kau-
fen.Wegen der vielen «Mautflüchtlinge»
staut sich seitdem an vielenWochen-
enden imWinter derVerkehr auch in
deutschen Dörfern.
Der Streit deswegen war auch einer
derAuslöser für die Idee der CSU, im
Bundestagswahlkampf 2013 die Er-
hebung einer Mautauf deutschenAuto-
bahnen, die nurAusländer bezahlen sol-
len, zu fordern. Gerade in Oberbayern
fandder für Beobachter ausserhalb
Bayerns eher absurd anmutendeVo r-

schlag viele Befürworter. Diese CSU-
Mautpläne sorgten wiederumjenseits
der Grenze für Ärger.Wien klagte er-
folgreich dagegen, was nun dieBayern
den Nachbarn übelnehmen– ebenso wie
die vonTirolfür bestimmteTage erlas-
sene Blockabfertigung fürLastwagen.
Am Pfingstsamstag etwa bildete sich da-
durch einRückstau auf deutscher Seite
von über 40 Kilometern.

Anhaltende Grenzkontrollen


Auch die von Deutschland an den
Grenzübergängen der Autobahnen
Linz–Passau, Salzburg–München und
Kufstein–Rosenheim im Herbst 20 15
eingeführten Grenzkontrollenbelasten
die Beziehungen zwischen «Piefkes»
und «Ösis». Die Massnahme wurde auf
dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise

von der CSU erdacht und von Brüssel
alsAusnahmeim Schengen-Systemge-
nehmigt. Im Herbst 20 15 kamen täglich
Tausende von Asylsuchenden in Süd-
bayernan.Viele deutsche Grenzanrai-
ner warfen damals den österreichischen
Behörden vor, die Flüchtlinge gezielt
nach Deutschland weiterzuleiten.
Inden letzten Monaten griff die deut-
sche Grenzpolizei jeweils knapp tausend
Migranten und Asylbewerber pro Monat
an der Grenze auf. Österreich,aberauch
die Opposition inBayern sowie andere
Bundesländer fordern daher die Umstel-
lung auf den gemäss den Schengen-Re-
geln vorgesehenenRoutinebetrieb mit
stichprobenartiger Schleierfahndung.
Denn zum einen stauen sich anWochen-
enden dieAutos kilometerlang in Öster-
reich, zum anderen leiden auchWaren-
lieferanten oder Berufspendler.

Währendsich dasProblem der mas-
siven Staus kurzfristig lösen liesse, gibt
es einen Brocken, der die Atmosphäre
zwischenBayern undTirol nachhaltig
zuvergiftendroht und der in abseh-
barer Zeit auch nicht beiseitegeschafft
werden kann. Deutschlandverschleppt
nämlich bereits seit Jahren die Pla-
nung des Nordzulaufs für den Bren-
ner-Basistunnel.Auch das ist ein«Ver-
dienst» der CSU. Denn in Oberbayern,
vor allem rund umRosenheim, wehren
sich die Anwohner vehement gegen zu-
sätzliche Gleise. Daalle deutschenVer-
kehrsminister seit 2009 der CSU an-
gehörten und zudem alle aus Ober-
bayern stammten, kuschte man inBay-
ern jahrelang vor demWiderstand der
eigenenWählerschaft. Deshalb hinken
nun die Arbeitenjenen in Österreich
massiv hinterher.

Die Tiroler rebellieren gegen Deutschland

Die Verkehrslawineüber die Alpen lässt die Österreicher zu drastischen Mitteln greifen –zum Verdruss des grossen Nachbarn


IVO MIJNSSEN, REUTTE UND INNSBRUCK


Im «Goldenen Hirschen» sind die Mei-
nungen gemacht. Am Stammtisch des
geschichtsträchtigen Hotels im Zen-
trum vonReutte ereifert sich eine
Gruppe älterer Männer über dieVe r-
kehrslawine, die sich seitJa hren über
das Lechtal ergiesst.«Wir Einheimi-
schen mussten uns ja einkapseln!», sagt
einer und nimmt noch einen Schluck
Bier.Doch endlich habe die Politik
etwas unternommen. Er ist zufrieden
über dieFahrverbote, die seit MitteJuni
Durchreisende davon abhalten, nach
Reutte hineinzufahren.
Helmut Kraus,seit fast einem hal-
benJa hrhundert Hotelierdes «Hir-
schen»,erinnert sich gut an die end-
losenAutokolonnen, die sich an den
Wochenenden durch das Dorf mit sei-
nen knapp 7 000 Einwohnern wälzten.
«Es gabkeinDurchkommen.Wenn Sie
sehen, was da vor dem Hotellos war, da
geht Ihnen das Licht aus, das war der
Hammer.» Alle hier, von derTankstel-
len-Verkäuferin über die an der Haupt-
strasse wohnhafteJugendliche bis zum
Museumsmitarbeiter, erzählen Ge-
schichten des totalen Stillstands. Sie
machen sich lustig über die fehlende
Orientierung derAuswärtigen, die blind
ihren Navigationssystemen folgten, auf
Waldwegen landeten, abrupt mitten im
Verkehr wendeten oder mit ihren An-
hängern in engenKurven feststeckten.
Die Menschen ausReutte, das seinen
Wohlstand seitJahrhunderten derLage
an einer von Europas wichtigsten Nord-
Süd-Routen verdankt, haben die Nase
voll vomVerkehr.


DerTrichter an derGrenze


Gegenüber dem «Hirschen», direkt am
Hauptkreisverkehr, sitzt Bürgermeis-
ter Alois Oberer.Auch er ist lärmge-
prüft: Bis zu 31 000 Fahrzeuge seien an
Spitzentagen vor seinemFenster durch-
gefahren, erklärt der jugendlich wir-
kende 70-Jährige.Oberer kam einst «als
Kind der 68er» ins Dorf, was erhebliche
Integrationsprobleme mit sich gebracht
habe, wie er eingesteht.Auch er war nur
auf derDurchreise,wollte Geld verdie-
nenim örtlichen Metallwerk. Doch er
blieb, und seit zehnJahren ist er Bürger-
meister – ein Unabhängiger mitsozial-
demokratischemParteibuch,gewählt im
tiefkonservativenTeil Tirols.
Auf derFahrt in Richtung Grenze er-
klärt Oberer das Problem:Von Stuttgart
aus führen zweiAutobahnen Richtung
Tirol – dieA7und dieA8. Über sie ge-
langen EuropasLastwagen an die italie-
nischen Häfen. Im Sommerkommt der
ständig wachsendeFerienverkehr dazu.
DieA8endet inKempten,und innert
weniger Kilometer werden drei Spu-
ren zu einer. Durch Reutte führt einzig
eine Hauptstrasse weiter nach Süden.
Ein grosserTeil der 2,5 MillionenLast-


wagen, die jährlich über den Brenner
fahren, quetscht sich durch das Lechtal
und dieRegionKufstein – mehr als über
alle anderen Alpenpässe zusammen.
Das sorgt seitJahrzehnten für Un-
mut.Tirol undBayern verhandelten
immer wieder über eine Entlastung und
unterschrieben Vereinbarungen, um
den Schwerverkehr auf dieBahn umzu-
lagern. Stattdessen wächst dieser stetig,
was dieTirolerLandesregierung 20 17

dazu veranlasste,durch Blockabferti-
gungen vorTunnels die Zahl der durch-
gelassenenLastwagen zu Spitzenzeiten
zu begrenzen.Dazu kamen Nachtfahr-
verbote und verstärkteKontrollen.
Die Massnahme stiess auf Kritik aus
Brüssel,Rom und Berlin. Sie dreht sich
um dieFrage derVerhältnismässigkeit,
da der freieWarenverkehr innerhalb der
EU einen hohen Stellenwert geniesst.

Doch derKonflikt eskalierte erst im
Juni, als derTirolerLandeshauptmann
Günther PlatterAuto-Fahrverbote für
dieFerienzeit verkündete. Diese gelten
an denWochenenden für dieRegion
Reutte, Innsbruck undKufstein.Wäh-
rend Reisende, die aus der Region
stammen oder dort zu tun haben, weiter
durch die Orte fahren dürfen, muss der
Tr ansitverkehr auf denAutobahnen und
den Bundesstrassen bleiben.

«Ich musste handeln»


«Ich hätte nie im Leben gedacht, dass
die Deutschen wegen dieser marginalen
Massnahme so einenTango aufführen»,
wundert sich Platter in seinem Büro in
der InnsbruckerAltstadt. DieFahrver-
bote seien eineForm der Notwehr ge-
wesen, erklärt er, die Belastung der Be-
troffenen sei zu gross geworden.In den
verstopften Strassenhabe es auch für
Polizei und KrankenwagenkeinDurch-
kommen mehr gegeben. «Ich musste
handeln.»Dass die Entscheidung nur
dreiTage nach dem überraschenden
österreichischen Sieg vor dem Europäi-
schen Gerichtshof im Maut-Streit mit
Deutschland erfolgte, sei Zufall gewe-
sen. Der zeitliche Zusammenfall trug
aber zur aufgeheizten Atmosphärebei.
Der deutsche Verkehrsminister
droht denTirolern nun mit einer Klage,
BayernsVerkehrsminister nannte sie
«reine Schikane». Platter, der die grosse

Mehrheit derTiroler und auch die öster-
reichischeRegierung hinter sich weiss,
ga b zurück. «Der bayrische Löwe brüllt,
derTirolerAdler lässt sich jedoch nicht
beeindrucken», meinte er mit feinem
Gespür für den Lokalpatriotismus. Spass
mache ihm derKonfliktkeinen, ver-
sichert er im Gespräch: «Ich habe auch
keineFreude, wenn ich mich mit den
bayrischenFreunden freundlich austau-
schen muss.» Man weiss nichtrecht, ob
man ihm glauben soll.
Am 25.Juli trafensich dieKonflikt-
parteien in Berlin. Eine Lösung brachte
dies zwar nicht, doch man einigte sich
aufkonkrete Schritte zurVerlagerung
des Schwerverkehrsaufdie Schiene. Die
KapazitätderrollendenLandstrasse soll
auf 45 0000 Lastwagen proJahr vergrös-
sert werden, die Ströme sollen grenz-
überschreitend besser gelenkt werden.
Wien will die jährlichen Subventionen
dafür auf 30 Millionen Euroverdreifa-
chen; die bestehende Kapazität wirdbis
jetzt aufgrund mangelnder Nachfrage
nicht ausgeschöpft.
Platter sieht auchFortschritte auf
demWeg zu einer starken Erhöhung
derKorridor-Maut, deren tiefer Preis
ein Hauptgrund für dieVerkehrsströme
durchTirol ist.«Ich glaube, esist neuer
Schwung hineingekommen», zeigt er
sich amTag nach dem Gipfel zuver-
sichtlich, «aber ich bin ein gebranntes
Kind.» Die Deutschen hätten seitJah-
ren alle möglichenPapiere unterzeich-

net und kaum etwas eingehalten, kriti-
siert nicht nurderLandeshauptmann.
DieVerlagerungauf die Schienekommt
nicht voran. AndereFaktoren, wie das
Lohndumping in derLastwagenbran-
che, müssten aber auf EU-Ebene ange-
gangen werden. Die staatlich subventio-
nierten Dieselpreise in Österreich tra-
gen ebenfalls zurVerkehrsflut bei; auch
das Benzin ist erheblich billiger als in
Deutschland. Luis Oberer bleibt denn
auch bei allem Lob für die Entlastung
durch dieFahrverbote kritisch: «Es ist
die Summe, die den extremenVerkehr
verursacht. Aber niemand denkt über
sein eigenesVerhalten nach»,meint
der Bürgermeister vonReutte, das eine
der höchstenAutodichten pro Einwoh-
ner im autoaffinen Österreich hat. Er
wäre deshalb für eine CO 2 -Steuer – im
Gegensatz zu Platters Österreichischer
Volkspartei.

Verständnisvolle Autofahrer


Eine positive Bilanz nach vierWochen
Fahrverboten zieht der Leiter derTiro-
lerVerkehrspolizei. Oberst MarkusWid-
mannstehtamletzten Samstag imJuli
an einerAutobahnabfahrt in der Nähe
von Innsbruck. Die Bergkulisse im Hin-
tergrundkönntevon einerPostkarte
stammen, und dieKontrollstelle der
Polizei tut wenig, um die Idylle zu stö-
ren. «DasVerkehrsaufkommen ist über-
raschend tief dafür, dass in Süddeutsch-
land dieFerien begonnen haben», kom-
mentiertWidmann.
Waren es am erstenWochenende
noch etwa 10 00 Fahrzeuge proTag, die
zurück auf dieAutobahn oder die paral-
lele Hauptstrasse geschicktwurden, sind
es nun nur noch einige wenige. Fast alle
Autofahrerreagierten mit vielVerständ-
nis, findetWidmann. Die Leute hätten
ihrVerhalten angepasst,auch wegen der
Medienberichte,vermutetWidmann.
Auf der weniger imFokus stehen-
denTauernautobahn im Bundesland
Salzburg staut sich derVerkehr derweil
auf40 Kilometern. Es dürfte nicht das
letzte Mal sein. «ImWinter wird es wie-
derFahrverbote geben», kündigt Plat-
ter an. Über die Details werde man im
Herbst entscheiden.

Aufder Tauernautobahn staut sichder Ferienverkehr. WOLFGANG MOSER/APA /KEYSTONE

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Z/EPA

Günther Platter
Tiroler
Landeshauptmann

Alois Oberer
Bürgermeister
von Reutte

75 Kilometer NZZ Visuals/cke.

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