Neue Zürcher Zeitung - 03.08.2019

(Barry) #1

8MEDIEN Samstag, 3. August 2019


Roboter prägen bereits den Medienalltag


Eine erhebliche Bedeutung bekommen jene Programme, welche lau fend den Publikumsverkehr messen


RAINERSTADLER


Fälscher gibt es auch unter Computern,
wie folgende Episode illustriert:Wenige
Minuten nach demAbpfiff bekam im
April die Leserschaft von welt.de einen
Spielbericht zu lesen.Dastand:«Die
Ausgeglichenheit der beiden Mann-
schaften zeigte sich letztlich im End-
ergebnis...Nach torloser erster Halb-
zeit gab es auch nachWiederanpfiff
keineTr effer zu bewundern. DieTeams
trennten sich am Ende mit einer Null-
nummer voneinander.» Geschrieben
hatte die Nachricht ein Computerpro-
gramm. Doch sie war falsch.Tatsäch-
lich war dasFussballspiel schon nach
elf Minuten wegen schlechtenWetters
abgebrochen worden. EineDatenbank
hatte das Schreibprogramm mit falschen
Informationen gefüttert.
EinRedaktor aus Fleisch und Blut
hätte denFehler vor der Publikation
erkennenkönnen. Aber der Sinn von
Schreibrobotern ist es gerade, mensch-
liche Arbeit unnötig zu machen. Sol-
che Hilfsmittel kommen inzwischen
für die Herstellung einfacher Nachrich-
ten vielfach zum Einsatz, etwa wenn es
umKurzinformationen über Börsen-
kurse,dasWetter,dasVerkehrsaufkom-
men, politische Abstimmungen oder die
Feinstaubbelastung und Erdbeben geht.
Im Amateursportkonnten die compu-
tergestützten Helfer gar ein neuesFeld
erschliessen.Was dieRedaktionen aus
Kapazitätsgründen bisher nicht zu leis-
ten vermochten, ist dank denRobotern
möglich geworden: das massenweise
Verarbeiten unzähliger Spiele jenseits
des Spitzensports.


Lena undTobi rapportieren


Die politische Information erhielt
ebenfalls eine weitere Dimension.
Die Schweizerische Depeschenagen-
tur (SDA) und Tamedia entwickel-
ten im vergangenenJahr die Schreib-
programme Lena bzw.Tobi, welche bei
eidgenössischen Abstimmungen innert
Sekunden dieResultate aller 2222 Ge-
meinden desLandes verwerten. Diese
Leistungen erlauben wiederum eine
vertiefte Analyse der jeweiligen Ab-
stimmungen durch die Journalisten.
Die SDA bekam jüngst für ihren neuen
Dienst einen Preis der Europäischen
Allianz der Nachrichtenagenturen.
Vor wenigenJahren wurde noch
gerne darüber spekuliert, ob und wie
Roboter die Medienbetriebe unterstüt-
zenkönnten. Inzwischen sind sie im All-
tag bereits weitherum präsent. IhreAn-
kunftwarkeineswegs spektakulär, viel-
mehr erfolgte sie leise. Zum Einsatz
kommen bis jetztkeine hochpotenten
Hilfsmittel, welche denFertigkeiten von
Menschengleichen,sondernvergleichs-
weiseschwacheSysteme, die spezifische
Aufgaben in publizistischer und verlege-
rischer Hinsicht zu lösen vermögen. Die
automatische Herstellung vonTexten,
welchezurzeit auf einfachem Niveau ge-
lingt, ist dabei bloss einTeilaspekt.Am
besten für jedermann sichtbar ist diese
Innovation inForm von tauglichenKor-
rekturprogrammen, die inzwischen im
täglichen Gebrauch sind.


Was messbar ist,wird gemessen


Eine erhebliche Bedeutung für die
Medienarena bekamen jene Programme,
welche laufend den Publikumsverkehr
auf den Online-Informationsplattfor-
men erfassen. Sie prägen inzwischen die
Arbeit zahlreicherRedaktionen – und
durch die Rubriken «Meistgelesen»
auch den Alltag der Mediennutzer. Im
Einsatz sind insbesondereMessdienste
wie Google Analytics oder Chartbeat.
Sieregistrieren etwa, wie viele Besucher
wie viele Artikel aufrufen, wie lange sie
diese lesen und an welcher Stelle sie die
Lektüre abbrechen.
Die Mediengruppe Ringier baute
jüngst ihr Messsystem unter dem Namen
Apolloaus; dieses informiert auch über
die Zahl der Bilder, Links undVideos in
einem Artikel. DieDaten stehen allen
Redaktoren zurVerfügung und sollen
dazu dienen, diePerformance der An-


gebote zu steigern. Künftig will man bei
Ringier zudem die Benutzerkommen-
tare, die«Shares», die Herkunft der User
und soziodemografische Informationen
auswerten, wie Katia Murmann, Chef-
redaktorin Digital bei der Blick-Gruppe,
auf Anfrage sagte.

Leben nach der Deadline


Die News-Website t-online.de schuf
einenRoboter namens «Buddy». Er
kontaktiert die jeweiligenRedaktoren,
sobald die ersten Leser ihren Artikel
kommentieren. Eine weitere Nachricht
sendet er, wenn er hundertKommen-
tareregistriert hat oder wenn ein Bei-
trag auf derFacebook-Seite von t-on-
line eine Diskussion auslöst.Falls sich
viele Leser von einemText verabschie-
den, löst das ebenfalls einen Hinweis an
den Zuständigen aus, so dass dieser das
Angebot anpassen kann, um dessenPer-
formance zu verbessern. Dies nach dem
Motto: Nach der Publikation fängt die
Reise eines Artikels erst an.
Auch Belohnungen sind eingebaut.
«Buddy» versendet ein Lob, wenn ein
Beitrag die Marke von 10 0000 , 20 00 00,
500000 und einer MillionAufrufen er-
reicht hat. Erobert derText bei Google
untereinem wichtigen Suchwort den
Spitzenplatz, bekommt derAutor eben-
falls einen Hinweis. ImWeiteren meldet
sich «Buddy»,wennein Text Floskeln
oderRechtschreibfehler enthält. Die
Einführung von «Buddy» sei von der
Belegschaft zu hundert Prozent posi-
tiv bewertet worden, sagte auf Anfrage
Björn Schumacher, der das Hilfsmittel
entwickelte.Es trage dazu bei, die Qua-
lität und dieReichweite der Angebote
zu steigern.
Damit verwandelt sich die Medien-
landschaft definitiv von einem Ange-
bots- zu einem Nachfragemarkt. Die-
sen Prozess leitete dasFernsehen be-
reits vor mehr als dreissigJahren ein,als
die systematische Erfassung derFern-
sehnutzung begann. Die Höhe der Ein-
schaltquoten ist seither massgebend für
dieVerteilung derWerbegelder, und sie
prägt entsprechend den publizistischen
Ausstoss der Sender.
Nunrealisieren die Online-Redaktio-
nen ihrerseits die Produkte nicht nach
eigenem Gutdünken, sondern zusehends
in Abhängigkeit vom minutenschnell er-
fassbaren Publikumsverhalten. Ange-
bote,welche dieAufmerksamkeitnur
vonMinderheiten finden,geraten ent-
sprechend unterRechtfertigungsdruck.
Zwar beanspruchen auch populär ausge-
richteteRedaktionen für sich, nicht nur
dem DiktatderEinschaltquote zu folgen,
sondern ebenso das Kriterium der publi-

zistischenRelevanz zu berücksichtigen.
Dennoch erhöhen die Messdienste den
Wettbewerbsdruck innerhalb und ausser-
halb der Betriebe, und sie setzenAnreize
zu kurzfristigen Handlungen.
Die Online-Messsysteme animierten
einige Medienanbieter dazu, Bonus-
modelle einzuführen undAutoren ge-
mäss dem quantitativen Erfolg ihrer
Beiträge zu honorieren.Tamedia machte
vor zweiJahren einen solchenVersuch,
brachihn aber bald ab. Junge Medien
in den USA und Grossbritannien führ-
ten ihrerseits erfolgsabhängige Entloh-
nungen ein. Bisher blieben sie aber ein
Randphänomen.

Steigerung der Effizienz


Dank der künstlichen Intelligenzkonn-
ten dieRedaktionen imWeiteren ihre
Effizienz steigern.Rechercheure vermö-
gen nunDatensammlungen auszuleuch-
ten,welche bisher wegen ihres schieren
Umfangs undurchdringlich waren.Das
machten etwa die aufsehenerregenden
Publikationen zu den Offshore-Leaks
(2013), den Luxemburg-Leaks (2014)
und den Panama-Papers (2016) an-
schaulich. Mittels IT-gestützter Anwen-

dungenwaren die internationalkoope-
rierendenRedaktionen in derLage, rie-
sige Datenmengen auszuwertenund
eine grosse Kampagne durchzuführen.
Gleichzeitig erleichtern es Software-
Lösungen, die multimedialeAufberei-
tung von Informationen zu beschleu-
nigen.Audio-Programme verwandeln
Texte inVorlesungen.Datenkönnen
wiederum sogleich in standardisierte
Grafiken umgesetzt werden. Oder Pro-
grammekonstruieren aus den Angaben
vonKochrezeptenFotos, welche die
jeweiligen Menus visualisieren.
Ferner gibt esRoboterdienste, die es
den textorientierten Zeitungsredaktio-
nen ermöglichen, den Output anVideos
deutlich zusteigern. Firmen wieWochiz
undWibbitz verkaufen Programme, wel-
che Artikel automatisch mitFotos oder
Videos versehen.Die digitalen Heinzel-

männchen greifen dabei auf einschlä-
gige Bildarchive wie Getty Images zu.
Sie sind zudem in derLage,Texte kurz-
fristig in gesprochene Sprache zu über-
tragen. Die jeweiligenVideos gleichen
einschlägigenStandardprodukten des
News-Betriebs, fallen also qualitativ
nicht von vorneherein aus demRahmen.

Interaktion mitden Kunden


Die Medienhäuser führten ferner Pro-
gramme ein, welche auf einfacherBasis
eine Interaktion mit dem Publikum er-
lauben. Die sogenannten Chat-Bots be-
antwortenFragen der Nutzer, sind aller-
dings kaum flexibel und auf wenige
Standardfunktionen beschränkt.
AutomatischeProzesse gewinnen zu-
dem für dieKundenbindung an Bedeu-
tung. Künstliche Intelligenz ist dabei be-
hilflich, dieredaktionellen Angebote auf
die persönlichen Interessen der Benut-
zer auszurichten. Andere Programme
dienen wiederum dazu, die Abonnen-
ten von einerKündigung abzuhalten.
So gelang es der«WashingtonPost», die
Zahl der «unfreiwilligen» Abbestellun-
gen deutlich zu verkleinern. Als unfrei-
willigbezeichnet derVerlag jeneKündi-
gungen, die er auf dieTr ägheit derKun-
den zurückführt.Das erreichte man mit
einer besseren, automatisierten Nutzer-
führungauf derWebsite.Der norwegi-
scheVerlag Schibsted installierte eben-
falls einenParcours, der dieKunden
dazu animiert, ihrenVersuch, das Abon-
nement zu kündigen, zu unterlassen. Die
Zahl derKündigungenkonnte so deut-
lich gesenkt werden.

DummeWerberoboter


Nicht zuletzt spielt künstliche Intelligenz
auf dem digitalenWerbemarkt unter
dem Begriff ProgrammaticAdvertising
eine wichtigeRolle. Das wirkte sich ne-
gativ auf die herkömmlichen Informa-
tionsanbieteraus, die nun in dauernder
Konkurrenz mit nichtpublizistischen
Anbietern stehen und Mühe haben,
ausreichendWerbegelder an sich zu zie-
hen. DieWerberoboter werfen aber vor
allem darumFragen auf, weil es ihnen an
Intelligenz mangelt. Sie lenken nämlich
dieWerbegelder auch auf Plattformen,
welche das Image derAuftraggeber be-
schädigenkönnen. Beispielsweise tauch-
tenWerbebotschaften auf extremisti-
schenWebsitesoder sonst wie fragwür-
digen Plattformen auf. Zur richtigen
Einschätzung von publizistischen und
ethischenFragen braucht es weiterhin
den Sachverstand des Menschen. Robo-
ter hingegen sind dort nützlich, wo sie
dieRolle kleiner Helfer spielen.

IN MEDIAS RAS


Die schnelle


Enthüllung


des Eritreers


Rainer Stadler·Es dauerte nicht lange,
bis die Identität des Mannes, der mut-
masslich in Frankfurt ein Kind vor
einen Zug gestossen hat, sichtbar
wurde. Nachdem diePolizei am Diens-
tagnachmittag Angaben über denVer-
dächtigten publik gemacht hatte, tauch-
ten sogleich die entsprechenden Stich-
worte in der Suchmaske von Google
auf:Wädenswil, VBZ, Schweizerisches
Arbeiterhilfswerk.
Den privatenFahndern waren zudem
einigeRedaktionen behilflich – nicht
zuletzt der «Blick», der darauf hinwies,
dass der als Eritreer Identifizierte kurz
vor seinerTat ein Bild eines Sohns auf
seineFacebook-Seite gestellt hatte. Das
Gesicht des Kleinen hatte dieRedak-
tion unkenntlich gemacht, doch zusam-
men mit der Nennung desVornamens
und desabgekürzten Nachnamens des
Vaters wurde dieFährte unübersehbar.
Die Neugier war angestachelt.Für Inter-
essierte wurde es spielendleicht, zur
Facebook-Seite desTatverdächtigen zu
gelangen. Einige Besucher hinterliessen
rachedurstigeKommentare, was für den
«Blick» wiederum einen Anlass hergab,
einenArtikel über Hassattacken auf die
Familie des Eritreers zu veröffentlichen.
DessenFacebook-Seite ist inzwischen
geschlossen worden.
Im deutschsprachigenRaum pflegt
man bei der Nennung von Gesetzesbre-
chern eine gewisse Zurückhaltung. Ge-
mäss dem schweizerischen Pressekodex
ist eine identifizierende Berichterstat-
tung in derRegelnur dann legitim,wenn
es um einePerson in einer wichtigen
staatlichen odergesellschaftlichenPosi-
tiongeht, wenn diese selber die Öffent-
lichkeit gesucht hat oder wenn durch die
Namensnennung eine für Dritte nach-
teiligeVerwechslung vermieden werden
kann.Für denVerhafteten treffen diese
Kriterien nicht zu. Die zu seinerPerson
gemachten Angaben hätten genügt, um
dem Publikum eine Ahnung von den
Hintergründen des Täters zu vermitteln.
Vor allem gab eskeinen guten Grund,
ein Bild von dessen Kind in die grosse
Öffentlichkeit zu tragen.
Diepublizistischen Sitten in ande-
ren Ländern unterhöhlen indessen die
hiesigenRegeln. Britische Sensations-
medien veröffentlichten sogleich den
vollen Namen und eineFoto des Eri-
treers – ohne dessen Gesicht zu ver-
pixeln. Offensiv war auch die «Bild»-
Zeitung. ImVergleich dazu waren die
boulevardesk ausgerichteten Organe
in der Schweiz dezenter. Insgesamt ist
aber erkennbar, dass mit fortschreiten-
der Berichterstattung die Praxis locke-
rer wird,selbst bei denRedaktionen der
herkömmlichen Presse. Erst war nur von
einemTatverdächtigen dieRede, dann
publizierte man dessen Initialen, später
auch denVornamen und schliesslichteil-
weise gar den vollen Namen. Die jewei-
lige Praxis scheint auch vom Zufall der
Schichtpläne der dauernd sendenden
Redaktionen geprägt – eskommt drauf
an, wer gerade am Schalthebel sitzt.
Einige Zeitgenossen hätten auch
ohne die Hilfe von Massenmedien den
WegzurFacebook-Seite des Täters ge-
funden. Das legitimiert dennochkeine
Sensationsberichte,welche privaten
Schnüfflern und verbalen Scharfrich-
tern die Arbeiterleichtern. Sorgen um
die Brutalisierung der Gesprächskultur
in sozialen Netzwerken darf man in die-
semFall aberrelativieren. Der Grund-
ton war zwar oft ruppig,dochjene, die
ihreRachephantasien niederschrieben,
bekamen heftige Kritik zu hören. Die
Extremen gerieten unter den Druck
der Moderaten,welche politische und
gesellschaftliche Zusammenhänge her-
stellten. Die Ära der Social Media be-
deutet nicht das Ende des Diskurses.

Textroboter lösenbis jetz tnur einfacheAufgaben. ALAMY

Software-Lösungen
erleichtern es,
die multimediale
Aufbereitung
von Informationen
zu beschleunigen.
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