Die Welt - 01.08.2019

(Sean Pound) #1

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01.08.19 Donnerstag, 1. August 2019DWBE-HP


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2 FORUM DIE WELT DONNERSTAG,1.AUGUST


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ir Deutschen mögen
unseren Wald, wir
mögen Bäume. Sie
lösen ein positives
Grundgefühl in uns
aus, ein Wohlbefin-
den, es schwingt et-
was Ehrfurchtsvolles mit. Warum ist das so?
Weil seine Stämme aus einer Zeit erzählen, die
vor uns begann oder uns überdauert. Bis Bäume
geerntet werden können, vergeht viel Zeit. Die
Fichte benötigt mindestens drei Menschen-
generationen, bei der Traubeneiche kann es
länger als 200 Jahre dauern.
Wenn aber etwas Unumstößliches wie der
Wald ins Wanken gerät, dann wird es kritisch.
Unser Wald ist in Gefahr. Brände, Stürme, Dürre
und Schädlinge haben unserem Wald erheblich
zugesetzt. Wir haben einen guten Überblick über
die Schäden: Allein die Waldbrände im vergange-
nen Jahr haben eine Waldfläche von mehr als
3000 Fußballfeldern zerstört. Das Aufkommen
an Schadholz lag 2018 bei rund 32 Millionen
Kubikmetern, für dieses Jahr rechnen Experten
mit weiteren 35 Millionen Kubikmetern. Dort,
wo junge Bäume wachsen sollten, stehen ver-
trocknete Setzlinge. Alte Waldbestände, die kurz
vor der Ernte standen und wertvolles Holz lie-
fern sollten, mussten zur Unzeit genutzt wer-
den. Die Stämme liegen nun im Wald und müs-
sen unter Wert verkauft werden. Über 114.
Hektar Wald, also mehr als die Fläche Berlins,
sind kahl und müssen aufgeforstet werden.
Warum ist die Situation so dramatisch? Weil
unsere grüne Lunge und unser wichtigster Ver-
bündeter beim Klimaschutz in Gefahr ist. Wenn
wir Teile unseres Waldes verlieren, dann werden
wir diesen Verlust nur schwer mit anderen Kli-
maschutzmaßnahmen kompensieren können.
Was wir bei der Waldsanierung heute verpassen,
wird uns über Generationen nachhängen. Des-
halb müssen wir jetzt handeln.
Denn unser Wald ist mehr als grüne Lunge,
mehr als Heimat vieler Tier- und Pflanzenarten,
mehr als Erholungsraum und Wirtschaftsfaktor
für Arbeit und Einkommen in unseren ländli-
chen Regionen. Weil er Kohlenstoff im Boden
und im Holz bindet. Mit dem Erhalt des Waldes,
seiner nachhaltigen Bewirtschaftung und mit der
Verwendung von Holz verfügen wir über ein
immenses CO 2 -Minderungs- und Speicherpoten-
zial. Der Wissenschaftliche Beirat für Wald-
politik meines Ministeriums schätzt den Klima-
schutzbeitrag von Wald und Holz auf 127Millio-
nen Tonnen CO 2 -Äquivalente pro Jahr. Damit
können wir laut Beirat rund 14 Prozent der ge-
samten Emissionen unseres Landes ausgleichen.
Nach den Ergebnissen der Kohlenstoffinven-
tur 2017 hat der Wald zwischen 2012 und 2017 in
der ober- und unterirdischen Biomasse der Bäu-
me, im Totholz und im Boden jährlich eine Koh-
lenstoffmenge gespeichert, die 62 Millionen
Tonnen CO 2 -Äquivalenten entspricht. Etwa die
gleiche Menge Kohlenstoffdioxidemissionen
wird durch die energetische und stoffliche Nut-
zung von Holz vermieden. Würden stattdessen
fossile Brennstoffe und nicht erneuerbare Roh-

stoffe verwendet, wären die Treibhausgasemis-
sionen Deutschlands entsprechend höher.
Was ist also zu tun? Aus meiner Sicht sind es
vier Punkte. Erstens: Aufräumen geht vor Auf-
forsten. Zweitens: Pragmatisch helfen. Drittens:
Mit Umsicht aufforsten, denn die Bäume müssen
zum Standort und zum Klima passen. Viertens:
Nicht kleckern, sondern klotzen.
Zum Ersten: Im Moment liegt so viel Schad-
holz im Wald, dass eine Wiederaufforstung noch
gar nicht beginnen kann. Und frisch vom Bor-
kenkäfer befallenes Holz muss aus dem Wald,
damit sich der Befall nicht weiter ausbreitet. Wir
haben im vergangenen Jahr, als sich schon eine
außerordentliche Belastung abzeichnete, bereits
für fünf Jahre zusätzliche 25 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt. Im Regierungsentwurf zum
Haushalt 2020 ist vorgesehen, die Mittel pro
Jahr zu verdoppeln. Geld, das vor allem für die
Räumung der Schadflächen und zur Lagerung
von Schadholz genutzt werden kann, aber auch
zur Bekämpfung von Schädlingen, zur Vorbeu-
gung von Waldbränden oder zur Investition in
eine Wiederaufforstung.
Zum Zweiten: Ich habe mich dafür eingesetzt,
dass ein ganzes Bündel von Maßnahmen auf den
Weg gebracht wurde, um pragmatisch zu helfen.
Die Schadholzbeseitigung ist logistisch keine
Lappalie, es mangelt an Kapazitäten. Eine Re-
gelung des Bundesministeriums für Verkehr und
digitale Infrastruktur ermöglicht im Hinblick
auf die Engpässe, das sogenannte Kabotagever-
bot auszusetzen. In der Folge dürfen nun aus-
ländische Spediteure für einen befristeten Zeit-
raum zusätzliche Transportleistungen in
Deutschland erbringen. Bei der Einkommens-
steuer konnten wir Erleichterungen für beson-
ders betroffene Forstbetriebe erzielen. Und es

ist hilfreich, dass die Landwirtschaftliche Ren-
tenbank auf unsere Initiative hin eine neue
Fördersparte eingerichtet hat.
Zum Dritten: Wir müssen wieder aufforsten.
Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein,
dass wir hier eine Generationenaufgabe vor uns
haben. Und die löst man nicht über Nacht. Denn
mehr denn je geht es jetzt darum, die Wälder fit
und widerstandsfähig zu machen. Bis Bäume
erwachsen werden, vergeht viel Zeit. Mir ist
deshalb wichtig, dass wir auch hier auf Basis
wissenschaftlicher Erkenntnisse vorgehen, dass
wir jetzt den Wald weiter an den Klimawandel
anpassen. Unsere heimischen Bäume sind dabei
sicher die Basis. Prüfen wir aber auch, welche
eingeführten Baumarten ebenfalls gut in unser
Ökosystem passen und vielleicht sogar besser
mit großen Dürren zurechtkommen. Wir sollten
aber bei allen negativen Wald-Schlagzeilen die-
ser Tage nicht vergessen: Bund und Länder för-
dern bereits seit Jahren den Waldumbau hin zu
gemischten und klimastabilen Wäldern.
Zum Vierten: Um das alles zu leisten, werden
wir in den kommenden Jahren mindestens eine
halbe Milliarde Euro für die Bewältigung allein
der aktuellen Waldschäden benötigen. Zur ver-
stärkten Anpassung der Wälder an den Klima-
wandel brauchen wir zusätzlich über eine Milli-
arde Euro in den nächsten Jahren. Der so ge-
nannte Energie- und Klimafonds ist der richtige
Topf dafür. Nur ein an den Klimawandel ange-
passter Wald kann auch das Klima schützen.
Wir sind in Deutschland in der guten Situati-
on, dass wir schon vor vielen Jahren damit be-
gonnen haben, unseren Wald auf den Klimawan-
del vorzubereiten. Bereits seit Langem unter-
stützen Bund und Länder die Waldeigentümer
dabei, mehr Mischwälder aufzubauen, die weni-
ger anfällig für den Klimawandel sind. Die Bun-
deswaldinventur 2012 und die Kohlenstoffinven-
tur 2017 zeigen: Unsere Wälder sind bereits viel-
fältiger geworden. Wir haben mehr Laubbäume
und mehr Mischbestände als vor 15 Jahren. Wir
haben unsere Hausaufgaben gemacht und wer-
den das weiter tun.
Unseren Wald zu retten heißt aber auch, das
Thema Nachhaltigkeit, das Thema Klimaschutz
und die positive Rolle von Wald und Holz na-
tional und international noch ernster zu nehmen
und auf die Tagesordnung zu setzen. Denn erst
vor Kurzem hat eine Studie der ETH Zürich
erneut gezeigt, dass ein Aufforsten von bisher
unbewaldeten Flächen rund um den Globus
einen großen Teil der menschengemachten CO 2 -
Emissionen ausgleichen kann.
Es ist eine Generationenaufgabe, das Multi-
talent Wald zu erhalten und zu pflegen. Der
Begriff Nachhaltigkeit, der inzwischen in aller
Munde ist, kommt schließlich aus der Forst-
wirtschaft. Sorgen wir dafür, dass der interna-
tional bekannte Begriff des „Waldsterbens“ aus
den 80er-Jahren nicht wieder zum Unwort des
Jahres wird.

TDie Autorin ist seit März 2018 Bundesministe-
rin für Ernährung und Landwirtschaft. Sie ist
stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU.

ESSAY


WWWenn der Wald wanktenn der Wald wankt

JULIA KLÖCKNER

Dürren, Stürme und


Schädlinge bedrohen die


grünen Lungen unseres


Landes. Wir müssen sie


schützen und pflegen –


als Erholungsraum,


als Biosphäre, als


Wirtschaftsfaktor. Und


weil sie eine wichtige Rolle


beim Klimaschutz spielen


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IMPRESSUM

Die verfolgten Jesiden


verdienen mehr Hilfe


ANNALENA BAERBOCK, VOLKER KAUDER
UND THOMAS OPPERMANN

W


ir waren etwa 300 Frauen, Mäd-
chen und Jungen. Grüppchen-
weise hat man uns hinten auf
die Transporter verteilt. Du gehst da lang,
du da lang ... Das ging zack, zack. Felek
haben sie in einen anderen Wagen gesteckt,
wahrscheinlich zu den bereits verheirateten
Frauen. Zutiefst erschrocken hielt ich mich
an Mutters Arm fest.“ So beschreibt die
damals 18-jährige Shirin in ihrem Buch „Ich
bleibe eine Tochter des Lichts“ den Angriff
des selbst ernannten Islamischen Staates
auf die kurdischsprachige Gemeinschaft der
Jesiden, der sich am 3. August zum fünften
Mal jährt. Im Namen eines fundamen-
talistischen Islam begingen die Angreifer
einen Genozid an der Zivilbevölkerung,
ermordeten mehrere Tausend Menschen,
meist Männer und Jungen ab 14 Jahren, und
verschleppten über 6400 jesidische Frauen
und Kinder, die versklavt, verkauft, massen-
haft vergewaltigt wurden und unter Zwang
konvertieren mussten.
Bis heute leben 300.000 Jesidinnen und
Jesiden, etwa ein Drittel der gesamten
Gemeinschaft, in Flüchtlingslagern in
Kurdistan-Irak, in denen sie oft ohne Per-
spektive und vor allem ohne psychologi-
sche Hilfe überdauern – zusammen mit
anderen Binnenvertriebenen, die unter-
schiedlicher kaum sein könnten, insgesamt
über eine Million Menschen allein in Kur-
distan-Irak. Opfer der Terrormiliz und
deren Anhänger sowie Mitläufer wohnen
dicht an dicht. Viele haben im Krieg ihr
Zuhause, ihre Eltern und Kindern, ihr Hab
und Gut verloren. Viele sind traumatisiert.
Gerade für die Entwicklung von Kindern
ist das ein höchst gefährliches Umfeld.
Nur wenige Tausend Jesidinnen und Jesi-
den hatten das Glück, über humanitäre
Kontingente nach Deutschland, Kanada
oder Frankreich zu kommen.
Mit der militärischen Befreiung der vom
IS besetzten Gebiete im Irak besteht die
Gefahr, dass das Schicksal der Jesidinnen
und Jesiden aus den Schlagzeilen und
damit aus dem Blickfeld gerät. Dies wäre
in mehrfacher Hinsicht fatal: Ohne in-
ternationale Unterstützung wird eine
Rückkehr der Menschen in ihre Heimat-
dörfer im Shingal kaum gelingen. Statt-
dessen werden sich die Flüchtlinge in die
muslimischen Mehrheitsgesellschaften
hinein assimilieren müssen oder doch
noch Fluchtversuche nach Europa unter-
nehmen. Besonders prekär ist die Lage von
versklavten und sexuell missbrauchten
Frauen, die in IS-Gefangenschaft Kinder
geboren haben und zum Teil noch in Sy-
rien sind. Sowohl nach irakischem Recht
wie auch nach jesidischem Brauch gelten
diese Kinder als Muslime, die keine Jesi-
den werden können, selbst wenn es sich
bei den Vätern um islamistische Terroris-
ten handelt und sogar wenn angesichts
von mehrfacher Versklavung und Ver-
gewaltigung durch IS-Kämpfer oft voll-
kommen unklar ist, wer der Vater sind.
Erste ganz zaghafte Versuche, an dieser
patriarchalen Rechtslage und diesem
Brauch etwas zu ändern, gibt es zwar –
und diese sollten dringend unterstützt
werden. Doch die betroffenen Frauen und
Kinder können darauf nicht warten. Sie,
die bereits unermessliches Leid erfahren
haben, stehen vor der schrecklichen Wahl,
ihre aus Vergewaltigungen entstandenen
Kinder abzugeben, sich mit ihnen unter
Aufgabe ihrer jesidischen Wurzeln musli-
mischen Gruppen anzuschließen oder aber
gar zu ihren Peinigern zurückzukehren,
um ihre Kinder nicht zu verlieren. Immer
noch befinden sich einige dieser Frauen
mit ihren Kindern in der Gewalt ihrer
Peiniger. Der Genozid an den Jesiden ist
für diese Menschen Gegenwart.
Dass die Welt, dass Deutschland gegen
dieses Elend etwas unternehmen kann, hat
das Land Baden-Württemberg gezeigt.
Direkt nach dem Überfall auf den Shingal
und der massenhaften Vertreibung vor
fünf Jahren bekannten sich alle damaligen
Landtagsfraktionen zu einem gemein-
samen Konzept. So wurde einerseits eine
Entwicklungspartnerschaft mit der Auto-
nomen Region Kurdistan-Irak beschlossen,
um die Inlandsflüchtlinge zu unterstützen
und damit panische, teilweise lebens-
gefährliche Fluchtbewegungen nach Eu-

ropa zu verhindern. Schwerpunkt ist vor
allem die Ausbildung von Frauen und
Männern verschiedener Religionen und
Sprachgruppen in Traumapsychologie an
der Universität Dohuk, um Betroffenen
direkt in der Region zu helfen und den
Wiederaufbau von Vertrauen und Ver-
söhnung zu fördern. Gleichzeitig beschloss
das Land, 1000 besonders traumatisierte
und schutzbedürftige Frauen und Kinder
nach Deutschland in Sicherheit zu brin-
gen. Auch Niedersachsen und Schleswig-
Holstein nahmen, vermittelt durch Baden-
Württemberg, weitere 99 Menschen auf.
Brandenburg steht kurz davor.
Dies hat den Frauen und Kindern einen
Neuanfang bei uns im Land ermöglicht.
Viele der Frauen sind bereits in Ausbil-
dung und Berufen, nehmen an Trauma-
therapien teil, die Kinder erwerben mit
großer Motivation Schulabschlüsse. Mehr
noch: Etliche Frauen sagen gegenüber den
deutschen Strafverfolgungsbehörden und
Gerichten aus, sodass zahlreiche Terroris-
ten international identifiziert, verhaftet
und vor Gericht gestellt werden konnten.
Einige Aufgenommene des Sonderkon-
tingents gingen auch mutig in die Öffent-
lichkeit, so zum Beispiel Shirin, die Auto-
rin des eingangs zitierten Buchs, Lamya
Baschar, Farida Abbas und Nadia Murad,
die 2018 mit dem Friedensnobelpreis
ausgezeichnet wurde. Diese starken, jun-
gen Frauen werden inzwischen weltweit
und auch in der arabischen Welt gehört
und tragen entscheidend dazu bei, dass
der Terrorismus nicht nur militärisch,
sondern auch juristisch und vor allem
kulturell überwunden werden kann. Zu-
gleich betonen sie, dass erst die Aufnah-
me in Deutschland ihnen die Sicherheit
und Freiheit gab, die Kontrolle über ihr
eigenes Leben zurückzugewinnen und zu
Stimmen gegen Gewalt und Unterdrü-
ckung zu werden.
Nach diesem Vorbild rufen wir über
Parteigrenzen hinweg dazu auf, noch ein-
mal für die Opfer des selbst ernannten
Islamischen Staates aktiv zu werden. Wir
wollen jene wenige Hundert besonders
Schutzbedürftigen, allen voran jesidische
Frauen und Kinder, die im Irak und in
Syrien keine realistische Aussicht auf eine
adäquate Behandlung und einen gemein-
samen Neubeginn haben, in Deutschland
aufnehmen. Wenn der Bund vorangeht,
wenn Baden-Württemberg seine bereits
vorhandenen Strukturen noch einmal
aktiviert und sich eine Gruppe Bundes-
länder zur Aufnahme bereit erklärt, dann
können Leben gerettet, Terror und Trau-
mata durch Menschlichkeit und Hoffnung
überwunden werden. Es kann dies auch
ein Baustein für eine neue, europäische
Flüchtlingspolitik sein, die die Minderung
von Fluchtursachen mit der Aufnahme von
wirklich Schutzbedürftigen verbindet.
Wir wünschen uns außerdem eine ver-
stärkte Sicherheits- und Entwicklungspart-
nerschaft mit Kurdistan-Irak, damit die
Inlandsflüchtlinge wieder Perspektiven
bekommen und auch die Jesidinnen und
Jesiden mittelfristig zumindest in Teile
ihrer Heimatregionen zurückkehren kön-
nen. Wir fordern die völkerstrafrechtliche
Aufarbeitung der Verbrechen an den Jesi-
dinnen und Jesiden sowie anderer vom IS
verfolgter Menschen ein. Wir plädieren für
einen Ausbau der traumapsychologischen
Ausbildung und Versorgung, um besonders
Kindern und Jugendlichen eine Zukunfts-
chance zu geben, und dafür, möglichst im
Rahmen der Vereinten Nationen ein Son-
derprogramm für Kinder aufzulegen, die
über Jahre hinweg einer extremistischen
Gehirnwäsche und Ausbildung an Waffen
unterzogen wurden.
Fünf Jahre nach dem Übergriff der Ter-
rormiliz IS auf die Jesidinnen und Jesiden
sollten wir an diesen Genozid nicht bloß
mahnend erinnern, sondern den in der
1948 beschlossenen UN-Völkermordkon-
vention verankerten Schutz einer Gruppe
vor ihrer Ausrottung mit einem Bundes-
sonderkontingent für besonders schutz-
bedürftige Menschen, allen voran ver-
gewaltigte Frauen und ihre Kinder, ge-
meinsam mit Leben füllen.

TAnnalena Baerbock ist Co-Vor-
sitzende der Grünen, Volker Kauder
ist ehemaliger Unionsfraktionschef
im Bundestag, Thomas Oppermann
(SPD) ist Bundestagsvizepräsident.

GASTKOMMENTAR


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