ersten fünf Tagen nach Verkündung
der Teilmobilmachung über 260 000
Männer das Land verlassen – fast
genauso viele, wie nach offiziellen
Angaben nun für den Ukraine-Ein-
satz einberufen werden sollen. Ge-
rüchte kursieren, Russland werde
seine Grenzen für Männer im wehr-
fähigen Alter schließen, sobald die
Scheinreferenden in den besetzten
Gebieten der Ukraine abgeschlossen
sind. Einzelne sollen bereits von den
Grenzbeamten des FSB zurückge-
schickt worden sein.
W
ährend dem Kriegsherrn Pu-
tin zu Hause die eigenen Bür-
ger weglaufen, wird es auch
auf internationaler Bühne einsam
um Russlands Präsidenten. Schon
beim Gipfel der Shanghai Coopera-
tion Organisation in Samarkand in
der vorvergangenen Woche hatte
Indiens Premier Narendra Modi öf--
fentlich seinen Unmut geäußert.
„Heute ist nicht die Ära für Krieg“,
sagte Modi und empfahl Putin,
„auf den Pfad des Friedens“ zurück--
zukehren. Kaum hatte der Kreml
die Teilmobilmachung verkündet,
schloss sich auch China, dessen
Staatschef Xi Jinping sich noch Tage
zuvor demonstrativ an Putins Seite
gezeigt hatte, dem Chor der Mahner
an und verlangte einen Waffenstill-
stand und eine „Lösung, die den le-
gitimen Sicherheitsinteressen aller
Parteien Rechnung trägt“.
Stanford-Historiker Niall Fergu-
son ordnet diesen Kurswechsel Pe-
kings in einem Interview mit dem
stern (siehe Seite 34) so ein: „Xi
steckt in der Zwickmühle. Er kann
nicht wollen, dass Putin gedemü-
tigt wird. Er hat zu viel in diese
Beziehung investiert.“ Aus Angst,
selbst Ziel von US-Sanktionen zu
werden, habe China Russland bis-
her aber ausschließlich „mit Wor-
ten bewaffnet“. „Es tut nichts wirk--
lich Bedeutendes, um Russland zu
helfen.“ Selbst Nordkorea demen-
tiert angebliche Waffenlieferungen
nach Russland.
Anton* gehört nicht zu den Men-
schen, die nach dem 24. Februar die
Augen vor dem Krieg verschlossen
haben. Er hat demonstriert, nachts
hat er Flugblätter in Hauseingänge
geklebt: „Nein zum Krieg!“ Aber
dass der Krieg eines Tages ihn selbst
erreichen könnte, das hätte er nie
gedacht. „Es ist wie ein böser Traum“,
sagt er im Gespräch über einen ver-
schlüsselten Messenger. Dass sein
Staat ihn vor die Wahl stellt, entwe-
der zu töten, ins Gefängnis zu gehen
oder sein Leben und seine Freunde
zurückzulassen und ins Ausland zu
fliehen, macht ihn wütend.
Einem wie Anton stünden heute
in Deutschland alle Türen offen: ein
kluger und aufgeschlossener junger
Mann mit einem Diplom als Inge-
nieur für Umwelttechnik, Spezial-
gebiet: Windräder. Aber im Reich
von Öl und Gas sind seine Kenntnis-
se nicht gefragt. Windräder würden
Vögel töten und Würmer stören,
findet Putin. Der 25-Jährige arbeitet
jetzt in einem Moskauer Einkaufs-
zentrum als Verkäufer.
Fatal ist, dass Anton an der Uni
noch einen zweiten Abschluss ge-
macht hat: Parallel zum Ingenieur-
studium hat er drei Jahre lang Kur-
se an der militärischen Fakultät be-
sucht. Viele Studenten in Russland
wählen diesen Weg, weil er ihnen als
das kleinere von zwei Übeln er-
scheint. Im Gegenzug wird ihnen
der einjährige Grundwehrdienst
erlassen. Anton musste nur einen
Monat an Übungen teilnehmen.
Aber jetzt steht in seinem Wehrpass
„Leutnant der Reserve“. Dank seines
Zweitstudiums ist er jetzt auch in
seiner Heimat gefragt.
Mit jedem Tag, der vergeht, wird
deutlicher, dass die von Putin ver-
kündete Teilmobilmachung in
Wahrheit eine Generalmobilma-
chung ist. Der Präsident hatte in sei-
ner Ansprache vom Mittwoch ver-
gangener Woche keine Zahl ge-
nannt. Verteidigungsminister Ser-
*Namen von der Redaktion geändert gej Schojgu sprach dann von 300 000
Auf dem Fried-
hof der Stadt
Aglobi in der
russischen Teil-
republik Dages-
tan trauern
Frauen um einen
in der Ukraine ge-
fallenen Soldaten
26 29.9.2022