Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1

FOTOS: NANNA HEITMANN/MAGNUM/AGENTUR FOCUS; EMIN DZHAFAROV/KOMMERSANT/POLARIS


Männern, die rekrutiert werden
sollten. Im Erlass ist der betreffen-
de Punkt als geheim eingestuft. Die
im Exil erscheinende „Nowaja Ga-
seta Europa“ will erfahren haben,
dass dort tatsächlich die Zahl „eine
Million“ steht. Und es häufen sich
Berichte, dass alle genommen wer-
den, deren sie habhaft werden kön-
nen. In der sibirischen Teilrepublik
Burjatien gingen Beamte nachts um
vier von Tür zu Tür und verteilten
Musterungsbescheide. Wer den
Empfang bestätigt und der Vorla-
dung nicht nachkommt, riskiert
eine Geldstrafe. Wer nach der Mus-
terung einen Einberufungsbefehl
bekommt, dem drohen bis zu zehn
Jahre Haft, wenn er sich widersetzt.
Im Eilverfahren hat das Kreml-treue
Parlament die Gesetze dafür ver-
gangene Woche abgenickt.
Seit Demonstranten, die nach Pu-
tins Ansprache auf die Straße gin-
gen, gleich auf der Polizeiwache ein

Musterungsbescheid ausgestellt
wurde, sieht man bei Protesten fast
nur noch Frauen. In den sozialen
Medien erzählen sich die Leute,
Polizisten sei angedroht worden,
dass sie selbst an die Front geschickt
würden, wenn sie nicht eine Quote
erfüllen: entweder die oder ihr.

K


ein Wunder also, dass sich Be-
richte häufen über Männer im
Alter von 45 und darüber, die
nie eine militärische Ausbildung
bekommen haben und doch einge-
zogen werden. Manche wehren sich,
manche ergeben sich dem Schicksal,
viele geben sich die Kante. Auf zahl-
reichen Videos sind abgerissene
Typen zu sehen, die sich kaum auf
den Beinen halten können, bevor sie
in den Bus steigen, der sie in die
Trainingscamps bringen soll. Man-
che prosten sich zu auf den Sieg und
dass sie gesund heimkehren mögen,
manche prügeln sich schon vor der
Abfahrt. Manche kotzen in den Bus.
Man kann sich nicht vorstellen,
wie einer wie Anton in so einer
Gesellschaft überleben soll. Den
ganzen Morgen über habe er ge-
weint, gibt er zu. Nicht seinetwegen.
Eigentlich wollte er heute zum deut-
schen Konsulat gehen, um sich nach
Möglichkeiten zu erkundigen, Asyl
zu beantragen. Aber dann kam ein
Anruf seiner jüngeren Schwester. Ihr
Verlobter habe eben seinen Einberu-
fungsbefehl bekommen. Er ist Artil-
lerist der Reserve, eine Spezialisie-
rung, die besonders gefragt ist, um
die ausgedünnten Reihen der Rus-
sen in der Ukraine zu ergänzen.

Er selbst sei als Pionier nicht
unter den Ersten, die von der Trup-
pe angefordert werden, hofft Anton.
Trotzdem dreht sich in seinem Kopf
seit einer Woche alles darum, wie er
dem Militär entkommen kann.
Untertauchen? Flucht? Asyl? „Ich
wüsste nicht, wie ich weiterleben
soll, wenn ich einen Menschen ge-
tötet hätte“, flüstert er. „Eher gehe
ich ins Gefängnis als in den Krieg.“
Immerhin ist jetzt die Solidarität
groß. Zwei Freundinnen haben ihm
Geld angeboten, wenn er fliehen
oder untertauchen muss. Sie würden
auch seinen Haushalt auflösen.
Selbst sein Arbeitgeber tue, was er
kann, um die Mitarbeiter zu schüt-
zen. Die Rechtsabteilung der großen
Drogeriekette erteilt kostenlos ju-
ristischen Rat. Das Management hat
den Betroffenen sogar angeboten, sie
in eine Filiale in Kasachstan zu ver-
setzen, um sie vor dem Zugriff der
Armee zu schützen. Zwei Kollegen,
die sich entschieden haben, unter-
zutauchen, wurde der restliche Lohn
sofort und in bar ausgezahlt.
Auch andernorts treibt die Ankün-
digung des Kreml, der Wirtschaft
Hunderttausende Arbeitskräfte zu
entziehen, deren Arbeitgeber zur
Verzweiflung. Aljona Lasowskaja ist
Inhaberin des Familienunterneh-
mens Razumno in der Stadt Wladi-
mir östlich von Moskau und leidge-
prüft. Ihr Betrieb stellt von Hand
Schuhe her. Erst trieb die Pandemie
das Geschäft in die Krise. Nun
kommt das Unternehmen kaum
noch an Material, denn das stammt
vollständig aus Westeuropa. We- 4

Hauptsache, raus
aus Russland,
und sei es per
Tretroller: am
Grenzübergang
Werchnyj Lars
zu Georgien zwei
Tage nach
Bekanntgabe
der Teilmobil-
machung

Binnen fünf Tagen


reisten über


260 000 wehrfähi-


ge Männer aus


29.9.2022 27

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