Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1
FOTO: MIKHAIL KLIMENTYEV/RUSSIAN PRESIDENT PRESS OFFICE/SPUTNIK/DPA

s war Nacht am Sitz der Vereinten Nationen, als Wladi-
mir Putins jüngste Fernsehansprache in Russland aus-
gestrahlt wurde. Und am Morgen war die Welt eine
andere. Einen „Akt der Verzweiflung“ nannte Olaf Scholz,
der sich zu dieser Zeit in New York aufhielt, die von Pu-
tin angekündigten Referenden in vier ostukrainischen
Regionen und die Teilmobilisierung russischer Soldaten.
Es läuft nicht gut für den russischen Präsidenten, so die
Botschaft des Kanzlers.
Mit diesen wenigen Worten versuchte Scholz wohl
auch, Putins furchterregender Rede so etwas wie eine
ermutigende Deutung entgegenzuhalten, einen posi-
tiven Dreh für das Publikum daheim. Er konnte sich ja
denken, welche Wirkung der Mann aus Moskau bei vie-
len Zuhörern in Deutschland hinterlassen hatte. Den
Krieg nicht eskalieren zu lassen, das ist fast eine Art Ver-
sprechen des Kanzlers an die Deutschen – und die

Da gibt es Ostdeutsche, die mit Sowjetsoldaten als Be-
satzern keine guten Erfahrungen gemacht haben.
Manche haben Angst. Manche nicht. Am weitesten
verbreitet ist sehr wahrscheinlich: ein mulmiges Ge-
fühl. Was kommt als Nächstes? Das ist die Stimmung,
mit der Olaf Scholz umzugehen hat und für die er die
richtigen Worte finden muss.
Die Teilmobilmachung trägt in Russland den bruta-
len Feldzug gegen die Ukraine plötzlich und unerwar-
tet in die Mitte der Gesellschaft. Aber Mobilmachung
klingt auch in deutschen Ohren viel konkreter nach
Krieg als des Kanzlers Wort von der Zeitenwende. Und
das inmitten einer Krise, in der alles teurer wird, die
Wirtschaft lahmt und die Unsicherheit sowieso schon
um sich greift. Inflation und Krieg sind in Deutschland
Schlüsselbegriffe für kollektive Traumata. Jetzt drän-
gen beide ins öffentliche Bewusstsein zurück. Der eine

Rechtfertigung seiner oft als zu zaudernd kritisierten
Politik. Deshalb geht es für Scholz nun auch darum, mit
vorsichtiger Zuversicht auf den unverhohlenen Zorn
des Präsidenten zu reagieren.
Putin macht Angst. Bei sich zu Hause, aber auch im
Ausland. Schon allein die Art der Ansprache: Der Präsi-
dent verkündete seine Drohungen nicht stehend an
einem Rednerpult. Zu diesen Anlässen sitzt er lieber an
seinem Schreibtisch, im Hintergrund zwei Telefone.
Er beugte sich nach vorn und machte ein grimmiges
Gesicht, das überwindet Distanz. So sprach er wie über-
all auf der Welt auch in deutschen Wohnzimmern die
Zuschauer quasi direkt an. Es wirkte eindringlich und
bedrohlich, als er über seine unverhohlene Warnung vor
Atomwaffen sagte: „Das ist kein Bluff.“
Seine Drohungen dürften nicht in erster Linie ande-
ren Staats- und Regierungschefs gelten. Er meint nicht
den Kanzler, mit dem er ja immer wieder am Telefon
spricht. Putin versucht offenkundig mit der Angst der
Menschen zu spielen, überall. Und Deutschland, wo man
jahrzehntelang auf dem potenziellen Schlachtfeld eines
Atomkrieges lebte, ist dafür eine besonders aussichts-
reiche Adresse. Da gibt es Westdeutsche, von deren El-
tern und Großeltern manche noch fertig gepackte Kof--
fer in der Ecke stehen hatten, falls „der Russe kommt“.

schon als Realität, der andere noch als Möglichkeit. Und
ein Ende ist nicht absehbar.
Dagegen muss Scholz anarbeiten. Und das Risiko
bleibt schwer zu kalkulieren. Vor allem die Konsequen-
zen aus den Scheinreferenden in vier ukrainischen Re-
gionen, deren Ergebnisse der Westen nicht anerkennen
will, sind schwer abzuschätzen. Was geschieht, wenn
Russland die Provinzen annektiert und westliche Waf--
fen plötzlich auf von Putin beanspruchtem Gebiet
stehen? Der russische Präsident könnte das als Vorwand
für eine weitere Eskalation des Krieges nehmen.
Seit Beginn des Krieges haben Scholz und Putin nach
offiziellen Angaben sechsmal telefoniert, meistens
ziemlich lange. Es geht, nach dem wenigen zu urteilen,
was man über diese Gespräche hört, meist sachlich zu.
Erfahrungsgemäß redet Putin aber immer deutlich
mehr als seine Gesprächspartner, um sich zu rechtfer-
tigen und die Gegenseite zu kritisieren. „Leider kann
ich Ihnen nicht sagen, dass dort jetzt die Einsicht ge-
wachsen ist, dass das ein Fehler war, diesen Krieg zu be-
ginnen“, berichtete Scholz nach dem letzten Telefonat
Mitte September. Er behielt recht. Der Kanzler hat Pu-
tin gewarnt, etwaige Scheinreferenden in den ostukrai-
nischen Gebieten würde der Westen nicht anerkennen.
Das hat den Präsidenten nicht interessiert.

E


stern-Redakteur
Nico Fried hat
Olaf Scholz
zuletzt in drei
Golfstaaten
begleitet und hat
Grund zur Sorge:
Denn der Kanzler
wurde danach
positiv auf
Corona getestet

Würde Wladimir Putin Atomwaffen einsetzen? Das


weiß auch der Kanzler nicht. Olaf Scholz muss die Deutschen


beruhigen, ohne zu optimistisch zu erscheinen


WIDER DIE ANGST


Von Nico Fried


TITEL


32 29.9.2022

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