Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1

Trotzdem wirkt Putins Umgang mit Deutschland am-


bivalent. Gerade so, als wolle er an bessere Zeiten der


Beziehung anknüpfen, vermeidet er es, die Bundesre-


gierung offen zu brüskieren. Er akzeptiert den Kanzler


als Gesprächspartner für Vereinbarungen im Umfeld


des Krieges, zum Beispiel beim Aushandeln eines Ge-


fangenenaustauschs oder mit Blick auf die Getreidelie-


ferungen aus der Ukraine.


Zwar fließt längst kein Gas mehr durch Nord Stream1,


offiziell aber bemüht die russische Seite dafür stets un-


politische Ausreden: Erst fehlen angeblich die notwen-


digen Papiere für den Transport einer Gasturbine von


Mülheim an der Ruhr nach Russland. Später wird bei


Wartungsarbeiten vermeintlich ein Leck festgestellt,


das den Gasfluss unmöglich macht.


Immer wieder unterbreitet Putin das vergiftete An-


gebot, ersatzweise die fertige Pipeline Nord Stream 2 zu


nutzen. In Deutschland kann er dafür auf prominente


Fürsprecher setzen, von Sahra Wagenknecht bis Gerhard


Schröder. Das ist zunächst der Versuch, die Europäer zu


spalten. Aber der Herrscher im Kreml will offenbar auch


vermeiden, als ein Präsident dazustehen, der Verträge


bricht, die selbst die kommunistische Partei zu Zeiten


des Kalten Krieges eingehalten hat. Deshalb kann es ihm


nicht gefallen, wenn Olaf Scholz immer wieder darauf


hinweist, dass die Europäische Union keine Sanktionen


gegen Gaslieferungen aus Russland verhängt habe. Es


ist allein Putins Entscheidung, den Hahn abzudrehen.


Putins Erfahrung aus den vergangenen Jahren hat ihn


gelehrt, dass in Deutschland Kritik am Umgang der Bun-


desregierung mit dem Kreml von russlandfreundlicher


Seite eher lauter war als von Russland-Kritikern. Auch


wenn viele Putin-Apologeten mittlerweile Selbstkritik


üben, wirkt es fast so, als setze der Mann in Moskau noch


immer auf diese alte Verbundenheit. Zumindest in Ost-


deutschland bleibt das nicht ohne Erfolg (siehe das


Interview mit Bodo Ramelow auf Seite 64).


Olaf Scholz ist dafür unempfänglich, auch wenn ihm


Kritiker gelegentlich anderes unterstellen. Außerdem


sieht er sich durch die jüngsten Entwicklungen bestätigt



  • vor allem seine von vielen als zu zögerlich kritisierte


Politik der Waffenlieferungen. In einem Gespräch mit der


„New York Times“ war der Kanzler um den Eindruck be-
müht, dass der Vorwurf mangelnder Führungsstärke an
ihm abpralle. „Führung bedeutet nicht, dass man tut, was
die Leute von einem fordern“, so Scholz. „Bei Führung
geht es darum, die richtigen Entscheidungen zu treffen
und sehr stark zu sein. Und das ist das, was ich tue.“
Dem Kanzler mangelt es auch in der Deutung des
Kriegsgeschehens nicht an Selbstbewusstsein: Wenn es
bei Putin nicht so läuft, wie sich das der russische Prä-
sident vorgestellt hat, dann liegt das in Scholz’ Darstel-
lung natürlich an der Gegenwehr der Ukrainer – die aber
wiederum nur möglich geworden ist dank westlicher
Waffenlieferungen. Scholz vergisst dabei nie zu erwäh-
nen, dass gerade Waffen aus Deutschland „sehr effek-
tiv“ seien, ja sogar „ganz entscheidend“ für den Verlauf
des Krieges. Daran zeige sich, „dass das genau der Weg
ist, den man beschreiten sollte, und keinen anderen“.

Nur, wie geht es weiter? Der Kanzler und seine Leute
vermeiden falschen Optimismus. Aber sie sammeln In-
dizien, dass sich etwas zum Besseren ändern könnte –
nicht in Moskau, aber im Rest der Welt, langsam, aber
wahrnehmbar. Man hat in Berlin registriert, wie kühl der
chinesische Präsident Xi Jinping auf dem Gipfel der
Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samar-
kand mit Putin umging, wie devot der russische Präsident
die Aufklärung von „Fragen und Sorgen“ versprechen
musste. Man hat registriert, dass Außenminister Sergej
Lawrow, einst Botschafter Russlands bei den Vereinten Na-
tionen, wider alle Umgangsformen im Sicherheitsrat nur
für seine eigene Rede erschien und sich nicht anhören
wollte, was die Vertreter anderer Staaten zu sagen hatten.
Aber was geschieht in Moskau? Wie gut kann der
Kanzler Putin einschätzen? Scholz hat viel gelesen, auch
die Reden und Schriften des Präsidenten. Er hat sich mit
Angela Merkel über Putin unterhalten, die ihn beson-
ders lange kennt, sich aber in letzter Konsequenz auch
in ihm getäuscht hat. Scholz hat Putin als Kanzler ein-
mal persönlich getroffen, am legendären Strecktisch im
Kreml. Da hat der russische Präsident ihn über seine
Absichten getäuscht. Der Kanzler hatte Moskau damals
vielleicht einen Tick zu optimistisch verlassen. Das pas-
siert ihm nicht noch einmal. 2

Letztes Treffen:
Am 15. Februar
2022 sprach Olaf
Scholz in Moskau
vier Stunden
lang mit Wladimir
Putin. Neun Tage
später ließ der
russische Präsi-
dent die Ukraine
überfallen

29.9.2022 33

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