Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1

FOTO: SABINA BOBST/LUNAX


rofessor Ferguson, die
Menschheit, sagen Sie, sei
für Krisen schon immer
schlecht gewappnet gewe-
sen. Zum einen, weil stets
eine andere Krise auf--
taucht als die, auf die wir
uns vorbereitet haben.
Zum anderen, weil Krisen
selten allein kommen. Das
trifft auch für die aktuelle
Lage zu: Corona, Inflation,
Krieg und Energie-Notstand. Gab es
schon mal ein vergleichbares Szenario?
Die Krisenkonstellation lässt mich an die
1970er-Jahre denken. Heute wie damals
gab es eine Inflation, die von Fehlern der
Notenbanken mitausgelöst wurde. Heute
wie damals kam ein Krieg hinzu, der die
Lage verschlimmerte. Der russische Ein-
marsch in der Ukraine hat sein histori-
sches Äquivalent im Jom-Kippur-Krieg
von 1973. Außerdem befinden wir uns wie
damals in einem Kalten Krieg.
Sie nennen das „Kalter Krieg II“ und zie-
len damit auf den Konflikt zwischen den
Supermächten USA und China.
Genau. Die USA befinden sich mitten in
einem Kalten Krieg mit China, auch wenn
viele das nicht wahrhaben wollen.
Aber ist die Welt der 70er-Jahre ver-
gleichbar mit der Krisenspirale seit der
russischen Invasion in der Ukraine?
Natürlich gibt es Unterschiede. Der Jom-
Kippur-Krieg war kurz, und die USA haben
sich schnell um einen Waffenstillstand und
anschließende Friedensverhandlungen be-
müht. Außerdem haben die USA damals ihre
Atomstreitkräfte in erhöhte Einsatzbereit-
schaft versetzt, als die Sowjetunion bereit
schien, im Nahen Osten zu intervenieren.
Danach gaben die Sowjets klein bei. Im
Ukrainekrieg hat nun Russland von Anfang
an mit einer nuklearen Eskalation gedroht


  • und die USA haben nicht sehr überzeugend


nexion der Krim erheblich besser ausge-
bildet, und das merken wir jetzt. Sie ist viel
schlagkräftiger, als wir annehmen durften.
Und auch der ukrainische Staat ist stabi-
ler als 2014. Die ukrainische Position hat
sich von einer Rückkehr zum 23. Februar
zu einer Rückkehr zu den Grenzen von vor
2014 verschoben. Das macht die Leute in
Washington ziemlich nervös, denn das war
nie die Absicht. Und es macht es schwierig
vorherzusagen, wie sich der Krieg in den
kommenden Monaten entwickeln wird.
Russlands Position ist im Moment extrem
schwach. Falls die Ukrainer ihre Offensi-
ven aufrechterhalten, könnte die russische
Armee zu zerbrechen beginnen. Wird es
uns gelingen, die Ukrainer weiter dazu zu
bewegen, maßvoll zu agieren?
Gleichzeitig eskaliert Putin. Er ordnet die
Teilmobilmachung und Referenden in
den besetzten ukrainischen Gebieten an
und droht mit dem Einsatz von Atomwaf--
fen. Wie groß ist das Risiko einer nuklea-
ren Konfrontation in Europa?
Etwa 25 Prozent der ursprünglichen Inva-
sionsstreitkräfte sind tot. Nach den Maß-
stäben des modernen Krieges sind das
außerordentlich hohe Verluste. Die Teil-
mobilisierung ändert nichts an den Pro-
blemen der Streitkräfte. Sie haben zu viele
ausgebildete Soldaten zu schnell verloren.
Die Moral der Truppe ist äußerst fragil.
Es wäre falsch zu behaupten, dass es kein
Risiko für eine nukleare Konfrontation
gebe, aber dieses Risiko ist relativ gering.
Putins Entscheidungen wirken zunehmend
verzweifelt. Das sind Mätzchen eines ge-
scheiterten Diktators, eines gescheiterten
faschistischen Diktators.
Vor wenigen Monaten sagten Sie noch,
die Zeit arbeite für Putin.
Das tut sie jetzt nicht mehr. Es sei denn, es
kommt über den Winter doch zu einer grö-
ßeren Spaltung in Europa. Aber selbst das
würde vermutlich die Dynamik des

darauf reagiert. Das war meiner Meinung
nach der größte Fehler der Biden-Regie-
rung. Sie hätte ein viel deutlicheres Signal
aussenden müssen, dass hier eine rote Li-
nie überschritten wurde. Aber so wurde Pu-
tin für sein nukleares Säbelrasseln belohnt.
Anders als 1973 haben die USA auch zu kei-
nem Zeitpunkt ernsthaft versucht, diesen
Krieg frühzeitig zu beenden. Im Grunde ist
das der entscheidende Unterschied zum
Kalten Krieg der 1970er: Seinerzeit bemüh-
ten sich die rivalisierenden Blöcke um Ent-
spannung. Heute tun die USA das nicht.
Sie glauben, es wäre möglich gewesen,
den Ukrainekrieg ähnlich rasch zu been-
den wie den Jom-Kippur-Krieg?
Ja, und zwar Ende März, Anfang April,
nachdem die Ukrainer die Schlacht um
Kiew gewonnen hatten. Da war klar, dass
Putins ursprünglicher Plan gescheitert
war. Da hätten die USA ein Kriegsende er-
zwingen können. In der Anfangsphase des
Krieges waren Selenskyjund seine Berater
offen für einen Frieden auf der Grundlage
der Grenzen vom 23. Februar, für einen
Frieden auf der Grundlage, dass die Ukrai-
ne außerhalb der Nato bleibt. Nun ist es
schwieriger, weil viel mehr Menschen ge-
storben sind und viele Städte und Dörfer
zerstört wurden.
Wenn diese Möglichkeit bestand: Warum
wurde sie nicht genutzt?
Weil die Amerikaner eine andere Strategie
verfolgen. Sie unterstützen die Ukraine,
aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Da-
hinter steckt das zynische Kalkül, dass man
Russland umso stärker ausbluten lassen
kann, je länger der Krieg dauert. Das ist
eine gefährliche Strategie.
Je länger der Krieg dauert, desto schwie-
riger wird es, ihn zu beenden?
Jetzt, da die Ukrainer auf einmal siegreich
im Feld sind, gibt es Leute in Kiew, die als
Nächstes die Krim zurückholen wollen.
Die ukrainische Armee wurde nach der An-

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Der Historiker Niall Ferguson glaubte zu Beginn der Invasion, die Zeit arbeite


für Putin. Nun korrigiert er sich – und sagt einen Sieg über Russland voraus


„VERZWEIFELTE MÄTZCHEN“


Interview: Steffen Gassel und Michael Streck


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VERZWEIFELTE MÄTZCHENVERZWEIFELTE MÄTZCHEN


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