Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1

4


A


m Tag, an dem ihr
Leben auf den Kopf ge-
stellt wurde, war sie
zu spät dran. Sommer
1981, Aelrun Goette
hetzte durch den Ost-
Berliner S-Bahnhof
Grünau auf dem Weg
zur Schule. Normaler-

weise mied sie öffentliche Orte,


denn an ihrem Jackenärmel haftete


ein Aufnäher von „Schwerter zu


Pflugscharen“, ein Symbol der Frie-


densbewegung. „Ich lief der Polizei


direkt in die Arme“, erzählt Goette


heute. Man verhaftete sie, die Hoff--


nung aufs Abitur war futsch. „Die


Schulleitung attestierte mir, ich


sei keine reife sozialistische Persön-


lichkeit“, sagt Goette. „Ein Studium


konnte ich mir abschminken.“


Nur wenig später wurde Aelrun


Goette entdeckt. Dorothea Melis, die


Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit bei


„Exquisit“, dem einzigen Luxuslabel


der DDR, sprach sie auf dem Alexan-


derplatz an: Ob sie Model werden


wollte? Goette hatte inzwischen eine


Ausbildung zur Krankenschwester


begonnen, aber das Modeln klang für


sie nach Freiheit. Bald zierte sie die


Cover und Modestrecken des DDR-


Magazins „Sybille“, der „Vogue des


Ostens“. „Ich wurde vom System aus-


sortiert und verkörperte gleichzeitig


als Titelfigur das Ideal einer sozialis-


tischen Frau“, sagt sie, heute 56, und


schüttelt den Kopf über die Zustän-


de von damals.


Aelrun Goette sitzt in einem Café


nahe der Berliner Volksbühne, sie


trägt Jeans, ist groß und blond, der


klassische nordische Modeltyp. Dass


ihr Doppelleben in der DDR nicht


weiter auffiel, kann sie sich nur so


erklären: „Die Modeszene hatte


große Freiräume.“ Sie lief unter dem


Radar der Staatsführung. Zwar kon-


trollierte die zuständige Frauen-


kommission des Politbüros jedes


Bild, doch zumindest bei der Mode


versagte das Überwachungssystem.


Gut 30 Jahre später arbeitet Goet-


te als Regisseurin; gerade hat sie mit


„In einem Land, das es nicht mehr


gibt“ ihre Lebensgeschichte und


die der DDR-Modeszene fürs Kino


verfilmt. Ein schöner, wenn auch


schwieriger Stoff, denn dem sozia-


listischen Staat hängt auch heute


noch das Klischee grauer Tristesse


an. Im Osten galt Kleidung nicht als


Mode, sie fiel in die Kategorie „Ver-
sorgung von Gebrauchsgütern“. Und
so sah sie auch aus: Es gab Jeans mit
„Snowflake-Waschung“, auf denen
nicht das „Levi’s“-Logo aus dem
Westen prangte, sondern DDR-Eti-
ketten wie „Boxer“ und „Shanty“. In
den Kaufhäusern lagen „Präsent
20“-Hosen aus reinem Polyester auf
den Tischen. Erich Honecker hatte
sie seit dem Jubiläum zum 20-jäh-
rigen Bestehen des Staates produ-
zieren lassen. Dazu mischten sich
Farben in Nuancen von Stasi-Beige
bis Akten-Grau.
Und doch existierte eine kreative
Szene in der DDR, die sich mit
besonderen Looks und moderner
Fotografie vom Ostblock-Schick
absetzte. Eine Bühne gab ihr die
„Sibylle“. Das Heft erschien sechs-
mal im Jahr mit einer Auflage von
jeweils 200000 Stück. Es galt als
Nischenprodukt, doch sobald es auf
den Ladentischen lag, war es ver-
griffen. Westmode gab es darin
nicht, diese galt als kapitalistischer
Luxus. Stattdessen trugen die Mo-
dels Kleider aus staatseigenen
Betrieben. Wenn sie Glück hatten,
war etwas von „Exquisit“ dabei.
Doch die vorgestellte Mode schaff--
te es nur selten in die Läden. Den

Groll der Leserinnen versuchte man
mit Schnittmustern abzudämpfen,
die der „Sibylle“ beilagen und zum
Selbermachen anregen sollten.
Was die „Sibylle“ von anderen
Magazinen aus der DDR und auch
aus dem Westen unterschied, war das
Frauenbild. Es gab damals keine
Modelagentur im Osten, die meisten
der Mannequins wurden auf der
Straße gecastet. Es waren normale
Frauen, jede konnte sich mit ihnen
identifizieren. Den Druck, unerreich-
baren Schönheitsidealen nacheifern
zu müssen, gab es in der DDR kaum.
Zwar passte es ins Bild des real-
sozialistischen Staates, dass die
Fotografen der „Sibylle“ viele Frau-
en an ihren Arbeitsplätzen insze-
nierten. Doch es zeigt auch, wie
normal es war, dass sie ihr eigenes
Geld verdienten. Ein Aspekt, den
auch Aelrun Goette in ihrem Film
behandelt. „In der DDR wurde
man neben starken Frauen groß“,
sagt sie. Die weiblichen Rollen
sind mit tollen Schauspielerinnen
wie Claudia Michelsen und Jördis
Triebel besetzt; jede von ihnen ver-
körpert einen starken Charakter,
egal, ob als Arbeiterin an der Me-
tallfräse oder als Magazinchefin im
edlen Zwirn.
Dass Frauen und Männer in der
DDR in vielen Lebensbereichen
gleichberechtigt waren, ist keine
neue Erkenntnis. Es schadet jedoch
nicht, mal wieder daran zu erinnern,
dass die Emanzipation im Osten in
manchen Punkten weiter war als auf
der anderen Seite der Mauer. Auch
das leistet Goettes Film.

N


icht nur das Frauenbild war ent-
scheidend für den Erfolg der
„Sibylle“, sondern auch die Bild-
sprache selbst. Dafür beschäftigte
man die besten Fotografen und
Fotografinnen des Landes: Roger
Melis, Arno Fischer, Ute und Wer-
ner Mahler, Sibylle Bergemann und
Sven Marquardt, den spätere Gene-
rationen eher als Türsteher des Ber-
liner Technoclubs Berghain kennen.
Die meisten von ihnen interessier-
ten sich nicht sonderlich für schö-
ne Kleider, denn viele kamen aus der
Reportagefotografie. Dennoch nutz-
ten sie die künstlerische Freiheit,
die ihnen die „Sibylle“ bot. Unter
dem Deckmantel der Mode bildeten
sie die Realität in der DDR ab. In

Mauer-Gate:
Die DDR-Füh-
rung lehnte das
obere Cover ab,
denn Model Grit
Seymour stand
hinter einer Ab-
sperrung. Unten
der genehmigte
zweite Versuch

Märchenhaft:
1989 erschien
im stern eine
Geschichte über
das Designatelier
Allerleirauh
und die Unter-
grundszene
der DDR

29.9.2022 61

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