Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1
Für die Recherche blätterte
Redakteurin Cathrin
Wißmann durch ihre Bücher
über die deutsche Mode­
geschichte. In fast allen Wälzern fehlt
ein Kapitel über die DDR FOTOS: PETER HARTWIG/ZIEGLER FILM/TOBIS FILM (2); NADJA KLIER; UTE MAHLER/OSTKREUZ

einfach vor die Absperrung. So wur-
de das Cover gedruckt“, sagt Seymour.
Das Model, das nach der Wende
bei Daniel Hechter und Boss als
Chefdesignerin arbeitete und heu-
te Professorin an der Hochschule
für Technik und Wirtschaft Berlin
ist, hat viele Hefte von früher auf--
gehoben. Manchmal blättert Sey-
mour durch die Seiten und staunt,
wie frisch die Fotos noch immer
wirken. An einem Motiv hängt sie
besonders. Es zeigt sie mit zwei
weiteren Models in bunten 80er-
Jahre-Klamotten auf der Friedrich-
straße. Keine von ihnen schaut in
die Kamera. Das Bild von Werner
Mahler wirkt wie eine Momentauf--
nahme, ein zufälliger Schnapp-
schuss, der mehr Zeitdokument als
Mode-Inszenierung ist.
Was die Bildsprache zeitlos mach-
te, war der Verzicht auf alles Über-
flüssige. Die Fotografen setzten
auf Reduktion. Eine Ästhetik, die
gerade wieder im Trend ist, diesmal
weltweit.
Die Bilder von damals waren für
Aelrun Goette eine wichtige Inspi-
ration. Da die meisten aus ihrer
Filmcrew aus dem Westen stam-
men, organisierte sie eine Reise
nach Tiflis. Auch Grit Seymour war
dabei, sie beriet das Kostümdesign.
Die georgische Hauptstadt gilt als
zweites Ost-Berlin. Das Team saug-
te den Spirit der Stadt auf, erkun-
dete die Kreativszene und feierte
Partys in Privatwohnungen, deren
Wände wie früher in der DDR mit
Buchseiten beklebt waren. Vieles
war vertraut.„Ich fühlte mich wie
ein Wessi, der zum ersten Mal nach
Ost-Berlin kommt“, sagt Seymour.
Das Team traf in Tiflis auf viele
junge Leute mit kreativem Frei-

heitsdrang. Goette und Seymour
erinnerte das an die Zeit Ende der
Achtziger, als in Ostberlin eine
kreative Untergrundszene heran-
wuchs. Dazu gehörte das Künstler-
kollektiv „Chic, Charmant & Dauer-
haft“, kurz ccd, ebenso das später
daraus hervorgehende Designerduo
Allerleirauh. Sie inszenierten aus-
gefallene Mode-Performances, für
die sie nie Werbung machten, die
aber dennoch tagelang ausgebucht
waren. Auch der stern berichtete
im Mai 1989 über die „aufregendste
Mode der DDR“.

U


m ihren Film so originalgetreu
wie möglich umzusetzen, orien-
tierte sich Aelrun Goette an
Weggefährten von damals. Die Rol-
le des kreativen Paradiesvogels Rudi
lehnte sie an Frank Schäfer an. Der
Visagist war damals eine Ausnah-
meerscheinung; häufig sah man ihn
auf High Heels durch Ost-Berlin
laufen. Auf die Frage, ob der Fotograf
Coyote der berühmte Sven Mar-
quardt sein könnte, weicht Goette
aus. „Es mischen sich echte und
fiktive Charaktere“, sagt die Regis-
seurin, die 14 Jahre dafür kämpfte,
diesen Film umzusetzen. Mode und
DDR – das brachten viele Produzen-
ten nicht zusammen. Doch sie hielt
an ihrem Traum fest.
„Die Mode und ihre Macher sol-
len nicht länger ein weißer Fleck in
der DDR-Historie sein“, sagt Goette.
Es ist auch ihre Geschichte. 2

keinem anderen Ostmedium wäre
dies ohne Zensur möglich gewesen.
Wer die „Sibylle“ aufschlug, sah
Models in bunten Seidenkleidern
vor Plattenbauten, in schicken
Trenchcoats vor einer Stahlkulisse
oder in scharf geschnittenen Kostü-
men vor bröckelnden Hausfassaden.
Es waren diese Gegensätze, welche
die Fotografie besonders machten.
Laut und systemkritisch waren die
Bilder auf den ersten Blick nie. Doch
wer die Codes lesen konnte, ver-
stand ihre versteckten Botschaften.
So wie die von Ute Mahler. Die
Fotografin bat ihre Models schon
mal, auf Fotos nicht zu lachen. „Ich
fand, dass sie sonst so schnell in die
Nähe des offiziellen DDR-Bilds von
unseren glücklichen Frauen kamen“,
sagte Mahler einmal in einem Inter-
view. Die „pessimistische Haltung“,
die durchaus in einigen Bildern auf--
tauchte, blieb bei der DDR-Führung
nicht unentdeckt. Doch in der Regel
winkte man die Bilder der „Sibylle“
durch. Nur eine Sache wollte das Zen-
tralkomitee nicht sehen: Mauern.

D


aran erinnert sich Grit Seymour,
die wie Aelrun Goette ein be-
kanntes DDR-Model war. Für
ein „Sibylle“-Cover Anfang 1987
wurde sie von Werner Mahler auf
der Schönhauser Allee fotografiert.
Sie trug ein graues Kostüm; lässig
stützte sie sich auf einer rot-weißen
Absperrung ab. „Für das Zentral-
komitee war es ein Skandal, dass ich
hinter dem Gitter stand“, sagt Sey-
mour heute. Es hieß damals: In der
DDR wird niemand eingesperrt!
Das Cover musste ein zweites Mal
fotografiert werden. Der nächste
Versuch fiel dementsprechend prag-
matisch aus. „Werner stellte mich

Links: Visagist
Rudi (Sabin
Tambrea, hinten)
übt mit Suzie
(Marlene Burow)
den aufrechten
Gang. Rechts:
Claudia
Michelsen als
Elsa Wilbrodt,
Chefredakteurin
der „Sibylle“

Früher Model,
heute Regisseu-
rin: Der Film
„In einem Land,
das es nicht mehr
gibt“ basiert auf
Aelrun Goettes
Leben und star-
tet am 6. Oktober
im Kino

62 29.9.2022

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