Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1

E


in sehr geschätzter Kollege erzähl­
te mir diese Woche eine Geschichte.
Es ging darum, dass Menschen, die
in Notsituationen um ihr Überleben
kämpfen, mit höherer Wahrschein­
lichkeit durchkommen, wenn sie an
sich glauben. Oder wie das modern heißt:
wenn sie positiv denken. Ich glaube, er
wollte mir etwas Aufbauendes
über die Menschheit und die
Kraft des Einzelnen erzählen,
so eine Geschichte, bei der
im Hollywoodfilm die Geigen
lauter werden. Doch mir ging
plötzlich die Luft aus: „Ich
kann das nicht mehr. Ich wür­
de lieber auf meinen Überle­
bensinstinkt vertrauen dürfen,
darauf, dass das Tier in mir
nicht sterben will.“
Seit bald zwei Jahrzehnten
terrorisiert mich der Mythos
rund ums positive Denken,
und jetzt, da selbst die Pop­
sängerin Dua Lipa in ihrem
Podcast von „Toxic positivity“
spricht, hoffe ich, bald das Ende
der Ära dieses positiven Den­
kens feiern zu dürfen.
Natürlich will auch ich mein
Leben meistern und am liebs­
ten mit Philosophie, aber da
lese ich lieber Seneca und Epik­
tet, die alten Philosophen. Die
fassten sich noch kurz und
sprachen ihre Einsichten nicht
mit irgendwelchen Studien
aus der Hirnforschung heilig.
All diese Scanbilder von Gehir­
nen, die daliegen wie offene
Walnussschalen und irgend­
welche Aktivitäten zeigen, in
die der moderne Mensch sei­
ne nächste Verhaltensreligion projiziert.
Auch ich war einmal fasziniert von all­
dem. Als ich bei Gerald Hüther erstmals
von Spiegelneuronen las und verstand, wie
sich die Gefühle des Gegenübers tatsäch­
lich in unserem Gehirn spiegeln, war ich
beeindruckt. Bis ein Hirnforscher, auch
müde von den Gewissheiten seiner Zunft,
ein Experiment machte: Er holte aus dem
Supermarkt etwas Tiefgekühltes, scannte

es, publizierte die Bilder und führte alle
hinters Licht, um den Glauben an die Deu­
tung von Hirnaktivitäten zu erschüttern.
Mit der Durchleuchtung des Hirns be­
gann der Kult um Positivität und Selbst­
optimierung. Teams sollen alle positiv
miteinander umgehen, fein! Wenn ich
aber Ricky Gervais und seine Netflix­Serie
„Afterlife“ sehe, in der endlich ein nega­
tiver Mensch neben anderen negativen,

also normalen Menschen im Büro sitzt,
die aber im entscheidenden Moment
liebevoll füreinander da sind, sehe ich
darin mehr Menschlichkeit als in den
meisten superoptimierten Teams, in de­
nen ich vor lauter Glattheit nicht mehr
weiß, an wem ich mich noch abreiben, will
heißen: festhalten kann.
Mit positiver Haltung sollen
wir auch Stress managen ler­
nen. Ich habe einmal einen die­
ser Achtsamkeitskurse belegt
von Jon Kabat­Zinn, wissen­
schaftlich natürlich superge­
prüft. In acht Abenden lernt
man, achtsam seinen Stress zu
mindern. In der ersten Sitzung
sollte ich auf einer Rosine her­
umkauen und genau darauf
achten, was geschieht. Das
braune Ding aber schmeckte
schon nach kurzer Zeit durch­
gekaut. Ich schluckte es runter.
Die Kursleiterin diagnosti­
zierte, ich sei wohl besonders
gehetzt. „Nein“, sagte ich, „ich
tausche nur meinen funktio­
nierenden Geschmacksinn
nicht gegen Ihre Achtsamkeit.“
Ein Freund von mir, der im­
mer zu viel arbeiten muss, be­
kam während seines betriebs­
spendierten Tai­Chi­Kurses
einen Wutanfall: „Ich mach
diesen Scheiß doch nur, um da­
nach noch leistungsfähiger zu
sein!“ Als er das erzählte, dach­
te ich still in mir, dass seine
Firma zum Stressmanagement
tatsächlich selten die 30­Stun­
den­Woche empfiehlt.
Die Oma dieses Freundes hat
ihr Leben lang nie einen guten
Satz gesagt und wurde gesunde 93. Wenn
man fragte, was sie richtig mache, ant­
wortete die Familie: „Das Gift, das sie
spritzt, hält sie am Leben.“ Ich halte das
nun für meine Wissenschaft! 2

DENK NEGATIV!


Wir sollen stets freundlich und achtsam sein,


predigen Wissenschaftler. Unsere Kolumnistin


aber glaubt fest an die Giftschlange in ihr


29.9.2022 63


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MARINIĆ


ILLUSTRATION: LENNART GÄBEL/STERN; FOTO: GUNNAR KNECHTEL/STERN


Jagoda Marinić ist Schriftstellerin („Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“, „Sheroes. Neue Held*innen
braucht das Land“) und Podcasterin („Freiheit Deluxe“). Sie schreibt alle zwei Wochen – im Wechsel mit Micky Beisenherz – im stern
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