Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1
ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART

ACT/STERN

Diese Woche:
Dr. Deborah Schumacher,
Internistin,
Notfallpraxis des Kantonsspitals
Aarau, Schweiz

AUFGEZEICHNET VON ASTRID VICIANO;

te, sah der Bruch allerdings nicht aus, als
wäre er durch einen Stoß oder Sturz ent-
standen. Vielmehr war die Knochenstruk-
tur stark verändert, an verschiedenen Stel-
len hatte sich dort Flüssigkeit eingelagert.
Uns kam ein anderer Verdacht: Sollte der
Junge an Blutkrebs leiden? Dabei vermeh-
ren sich bestimmte Blutzellen unkontrol-
liert im Knochenmark. Wir baten unseren
Kollegen Daniel Drozdov aus der Abtei-
lung für Blutkrebserkrankungen, bei dem
Patienten eine Punktion des Knochen-

D


er Junge war sehr ängstlich, als ich
ihn zum ersten Mal auf der Sta-
tion des Kinderspitals des Kan-
tonsspitals Aarau traf, wo ich zu
der Zeit als Assistenzärztin tätig
war. Er fing sofort an zu schreien,
als ich ins Zimmer kam, und er wich mei-
nem Blick aus, als ich ihn ansprach. Zum
dritten Mal innerhalb von drei Monaten
waren die Eltern mit dem Dreijährigen in
die Notaufnahme gekommen. Einmal
hatte er sein Knie an einem Heizkörper
angeschlagen, ein zweites Mal
hatte er sich an der Schulter
verletzt. Nichts, was unsere
Aufmerksamkeit über Gebühr
geweckt hatte. Doch als die
Eltern zum dritten Mal zu uns
kamen, wurden meine Kol-
legen und ich hellhörig.
So berichtete die Mutter den
Ärztinnen und Ärzten in der
Notaufnahme, dass der Sohn
am Vorabend auf seinem Bett
herumgesprungen war und
sich dabei leicht verletzt hatte.
Seitdem weigerte sich der Jun-
ge zu laufen oder auch nur auf--
zustehen. Als ich ihn auf der
Station sah, saß er in seinem
Kinderwagen, hatte die Beine
in einer Froschhaltung zum
Körper gezogen und schrie, als
ich seine Beine strecken woll-
te. Meine Kollegen und ich
stellten fest, dass dem Jungen
beide Knie schmerzten und das
rechte leicht angeschwollen
war. Sonst fiel uns noch auf,
dass sein Zahnfleisch gerötet
war. Der Junge litt an keinerlei
Vorerkrankungen; in den Blut-
analysen hatten sich jedoch
Anzeichen einer leichten Ent-
zündung ergeben.
Wir beschlossen, ein Rönt-
genbild und ein Kernspinto-
mogramm machen zu lassen,
um zu prüfen, ob der Junge an einer Osteo-
myelitis erkrankt war, einer Infektion des
Knochens. Was die Radiologen im Rönt-
genbild entdeckten, brachte uns allerdings
auf eine andere Spur. Die Kollegen fanden
Hinweise auf einen Knochenbruch im knie-
nahen Bereich des rechten Oberschenkels.
Wie das Kernspintomogramm dann zeig-

marks vorzunehmen. Glücklicherweise
konnte er keine Hinweise auf eine Krebs-
erkrankung finden. Allerdings hatten wir
in einer weiteren Blutanalyse festgestellt,
dass der Junge an einem schweren Eisen-
mangel litt. Ich befragte die Eltern nach
den Essgewohnheiten des Kindes. Auf dem
Nachttisch des Kleinen stand nur eine
Packung Milch, daneben eine Packung
Salzstangen. Beschämt berichtete mir die
Mutter, dass der Junge nichts anderes zu
sich nahm, Salzstangen und Milch. Zwar
hatte sie ihm schon als Baby
verschiedene Nahrungsmittel
angeboten, mit der Zeit jedoch
aufgegeben. Seit anderthalb
Jahren aß der Junge nichts an-
deres mehr, wobei die Mutter
gern kochte und sich gesund
ernährte. Nun endlich ahnten
wir, woran das Kind litt: Es war
an Skorbut erkrankt, einem
schweren Vitamin-C-Mangel,
weil es sich über einen so lan-
gen Zeitraum nur von Milch
und Salzgebäck ernährt hatte.
Diesen Vitamin C-Mangel
konnten wir in einer Blutana-
lyse bestätigen. Daher begann
unser Kollege Drozdov, der den
Patienten nach dem Kranken-
hausaufenthalt ambulant wei-
ter betreute, eine Behandlung
mit hoch dosiertem Vitamin C,
ebenso wie mit Eisentablet-
ten. Nach einer Woche konnte
unser Patient seine Beine
schon wieder belasten, hatte
mehr Energie und mehr Kraft.
Die Behandlung mit Vita-
min C führten wir über meh-
rere Monate fort. Mithilfe einer
Ernährungsberatung gelang
es den Eltern, den Jungen für
neue Nahrungsmittel zu be-
geistern, für Blumenkohl,
Sellerie, Kartoffelpüree. Ich
versuche seither, meine Patien-
ten stets nach ihren Ernährungsgewohn-
heiten zu fragen. 2

Ein Junge will nicht aufstehen und nicht laufen.


Die Ärzte entdecken die Ursache –


auf dem Nachttisch an seinem Klinikbett


Vorsicht, zerbrechlich!


80 29.9.2022


GESUNDHEIT


DIE DIAGNOSE


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