Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1

André Thiel und Katrin Langensiepen


sind nicht die Einzigen, die die Werkstät-


ten öffentlich kritisieren. Der wohl be-


kannteste Aktivist heißt Lukas Krämer, 28.


Auf seinem Instagram-Account spricht er


über die Arbeit in den Werkstätten und da-


rüber, weshalb die aus seiner Sicht unge-


recht sei. Krämer kam ohne Behinderung


zur Welt, erkrankte aber im Alter von vier


Jahren an einer Hirnhautentzündung.


Deshalb konnte er nicht lesen und schrei-


ben lernen. Er besuchte eine Förderschu-


le, arbeitete danach in einer Werkstatt des


Deutschen Roten Kreuzes. Jeden Tag tes-


tete, polierte und verpackte er Wasserhäh-


ne. Ob ihm das Spaß gemacht hat? Krämer


lacht: „Was denken Sie denn?“ Er hasste


alles an der Werkstatt. Auch akzeptierte er


das Wohnen auf 40 Quadratmetern am


Rand der Stadt und am Rand der Gesell-


schaft nicht und entschloss sich gegen die


Werkstatt. Er machte aus Trotz sechs Wo-


chen blau und wurde gekündigt.


Das war vor zwei Jahren. Heute schnei-


det Lukas Krämer als Social Media Creator


Videos und tritt als Online-Aktivist auf


Instagram auf. Im April 2021 startete er


eine Petition: #StelltUnsEin. Krämers For-


derungen: der Mindestlohn für Menschen


mit Behinderungen und eine Teilhabe für


alle Menschen in dieser Gesellschaft am


ersten Arbeitsmarkt, ohne Ausnahme. Bis-


lang unterschrieben 183800 Menschen.


Auch Katrin Langensiepen und André


Thiel. Sie fordern nicht nur mehr Geld für


Beschäftigte der Werkstätten, sondern zu-


gleich ein inklusives Schulsystem und


Ausbildungsangebote an Hochschulen für


Menschen mit Behinderung auch ohne ein


gewöhnliches Abitur.


André Thiel fand trotz seiner Ausbil-
dung keine Stelle. Ein Jahr lang bewarb er
sich in ganz Deutschland als Bürofach-
kraft. Niemand stellt ihn ein. Warum auch,
sagt Thiel heute. „Es gehört auch zur Wahr-
heit dazu, dass es für Arbeitgeber keinen
einzigen Grund gibt, Menschen mit ver-
minderter Arbeitsfähigkeit einzustellen.
Ich würde mich auch nicht einstellen ohne
politischen Druck.“
14 Jahre Bildungsweg endeten für André
Thiel in einer Werkstatt für behinderte
Menschen. Statt in einer anderen Stadt zu
arbeiten, wohnte André wieder zu Hause.
Wie früher aß er mit seiner Mutter morgens
ein Brötchen mit Erdbeermarmelade. Wie
früher verzichtete er auf den Transportser-
vice. Wieder lehnte er jeden Morgen und je-
den Abend seinen Kopf gegen die Scheibe
der Straßenbahn. Er fragte sich, wozu er
eigentlich die Schule besucht, eine Ausbil-
dung absolviert, Praktika in Unternehmen
gemacht und Schulungen zu Word und Ex-
cel belegt habe. „In meinen Bildungsweg ist
viel mehr staatliches Fördergeld geflossen
als in den eines durchschnittlichen Men-
schen ohne Behinderung. Hätte mich der
Staat doch ohne Bildung in eine Werkstatt
gesteckt, das wäre günstiger gewesen.“
In der Werkstatt scannte Thiel Unter-
lagen, er kontrollierte Rechnungen auf ihre
Richtigkeit und Kabel auf ihre Funktions-
fähigkeit. „Hat Ihnen das Spaß gemacht,
Herr Thiel?“ – „Nein, warum sollte ich mich
denn als ausgebildete kaufmännische
Fachkraft für Kabel interessieren?“
2015 reichte es ihm. Er ging zur Geschäfts-
leitung seiner Werkstatt und teilte mit, er
akzeptiere die 177 Euro nicht mehr und
werde vor Gericht ziehen. Zu seiner Ver-

wunderung unterstützte ihn die Geschäfts-
leitung – dies sei seit Jahren überfällig.
Doch 2019 scheiterte Thiels Klage vor dem
Bundesarbeitsgericht. Die Begründung:
Er habe als deutscher Staatsbürger zwar
Anspruch auf einen gesetzlichen Mindest-
lohn, dafür hätte er den Werkstattvertrag
jedoch nicht unterschreiben dürfen.

Die Werkstatt als Sackgasse


Und Thiel begann zu begreifen, in welche
Sackgasse er geraten ist. Denn für die
Werkstätten wäre eine Vermittlung eines
leistungsstarken Arbeiters wie ihm vor
allem eins: unwirtschaftlich. Die Werk--
stätten leben davon, dass ihre Beschäftig-
ten dort bleiben. Pro Person bekommt eine
Werkstatt im Jahr 16592 Euro vom Staat,
hinzu kommen Einnahmen, die die Be-
schäftigten durch ihre Tätigkeit erwirt-
schaften. Mehr Arbeiter bedeuten für eine
Werkstatt mehr Geld.
Mittlerweile sehen selbst die Betreiber
dies als ein Problem. Anja Heide ist Leite-
rin der „Elbe Werkstatt Ost“ am Stadtrand
von Hamburg. Vor dem flachen Backstein-
bau mähen sechs der 180 Beschäftigten in
grünen Arbeitshosen den Rasen. Innen
sitzen die anderen an langen Tischen und
erledigen Auftragsarbeiten für große Fir-
men. Vor zwölf Jahren übernahm Anja Hei-
de hier die Leitung. Auch sie schafft es bis
heute nicht, mehr als ein Prozent ihrer
Leute auf den ersten Arbeitsmarkt zu
vermitteln. Sie müsse sich in Gesprächen
häufig rechtfertigen. Wisse, dass die
Werkstätten auf dem Prüfstand stehen.
Dabei wünscht auch sie sich mehr Geld
und mehr reguläre Jobs für Menschen mit
Behinderung. Doch kann das gelingen?
Damit die Werkstätten ihre besten Leu-
te auch ohne wirtschaftlichen Verlust
abgeben können, bekommen sie in Ham-
burg inzwischen das sogenannte Träger-
budget: einen bestimmten Betrag, un-
abhängig davon, wie viele Menschen dort
arbeiten. Das gibt der Werkstatt mehr
Planungssicherheit. „Ein Mensch, der auf
den ersten Arbeitsmarkt wechselt, be-
deutet für uns so keinen finanziellen Ver-
lust mehr“, sagt Anja Heide. Sie regt an,
diese Regelung auf ganz Deutschland
auszuweiten, und verlangt von der

Lukas Krämer polierte früher Wasserhähne. Heute schneidet er Internetvideos


Wer einmal


in einer Werkstatt


landet, verlässt


sie kaum mehr


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96 29.9.2022

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