Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1

Politik eine festgeschriebene Quote an


Menschen mit Behinderungen, die Unter-


nehmen einstellen müssen.


Während des Wahlkampfs versprach


Olaf Scholz, das System der Werkstätten


neu zu sortieren. Im Koalitionsvertrag der


Ampel liest sich dieses Vorhaben wie folgt:


„Die Angebote von Werkstätten für behin-


derte Menschen (WfbM) werden wir stär-


ker auf die Integration sowie die Begleitung


von Beschäftigungsverhältnissen auf den


allgemeinen Arbeitsmarkt ausrichten.“


Ähnliches stand bereits 2018 im Koalitions-


vertrag von CDU, CSU und SPD. Der Arbeits-


minister hieß damals wie heute Hubertus


Heil. Verändert hat sich wenig.


Dabei fehlt es nicht an Versuchen. Berufs-


bildungswerke, berufliche Trainingszentren,


Inklusionsbetriebe, unterstützte Beschäfti-


gung, Budget für Arbeit und das Budget für


Ausbildung – hinter all diesen Begriffen


stecken Anlaufstellen für Menschen mit


Behinderung und der Versuch, mehr Inklu-


sion in den ersten Arbeitsmarkt zu ermög-


lichen. Die Werkstätten sind jedoch weiter-


hin der mit Abstand größte Arbeitgeber für


schwerbehinderte Menschen in Deutsch-


land. Fragt man beim Arbeitsministerium


nach, heißt es: „Auch wir wissen, wer ein-


mal in einer Werkstatt landet, der verlässt


diese nicht mehr.“ Eine fatale Feststellung.


Wie also geht es nun weiter?


In anderen europäischen Ländern hat der


Wandel begonnen. Die Werkstätten in Bel-


gien zahlen ihren Beschäftigten den Min-


destlohn, in Schweden sogar Tariflohn. Die


Niederlande bauen die Einrichtungen ganz


ab. Warum sich in Deutschland an dem


System der Werkstätten seit Jahren nichts


verändert, lässt sich laut Katrin Langensie-


pen mit zwei Worten zusammenfassen:
„Ignoranz und Geld. Ignoranz, weil die UN-
Behindertenrechtskonvention für die Bun-
desregierung seit Jahren nicht zu existieren
scheint. Geld, weil die Werkstätten eine
wirtschaftliche Struktur sind, die über Jahr-
zehnte gewachsen ist. Diese unzeitgemäße
Struktur aufzubrechen ist teuer.“

„Ich hätte mein Bestes gegeben!“


Im Arbeitsministerium heißt es: „Wir wol-
len im Herbst einen Gesetzentwurf zur Er-
höhung der Ausgleichsabgabe der Unter-
nehmen vorlegen, um mehr Menschen mit
Behinderung in den allgemeinen Arbeits-
markt zu integrieren. Denn wir sehen, dass
ein Viertel der Unternehmen in Deutsch-
land keinen schwerbehinderten Menschen
eingestellt hat und lieber Geldstrafen
zahlt, statt zur Inklusion beizutragen.“ Wie
kann das sein? „Es gibt bei vielen Arbeit-
gebern eine große Unsicherheit gegenüber
der Einstellung von Menschen mit Behin-
derung. Was sind das für Menschen? Wel-
che Anforderungen kommen im Umgang
auf mich als Arbeitgeber zu? Auch der Kün-
digungsschutz verunsichert viele.“ Das
Ministerium hat deshalb Anlaufstellen für
Arbeitgeber geschaffen, damit diese den
Umgang mit schwerbehinderten Beschäf--
tigten lernen können.
Nach zehn Jahren Arbeit, am 1. April 2021,
dem Tag, an dem sein Rentenanspruch von
749 Euro gültig wurde, kündigte André
Thiel und verließ die Werkstatt für immer.
Er wäre geblieben, sagt er, hätte er den Min-
destlohn bekommen.
„Es gehört auch zur Wahrheit dazu“, be-
ginnt Thiel wieder einen Satz. Er holt kurz
Luft, dann spricht er es aus: „...auf Men-

schen wie mich wartet der Arbeitsmarkt
nicht“. Es ist kurz still, dann entlädt sich
seine Enttäuschung in einem Satz: „Aber
hätte man mir eine Chance gegeben, hät-
te ich mein Bestes gegeben!“
André Thiel erzählt heute seine Geschich-
te auf Demonstrationen. Dort kämpft er für
die Inklusion wie Lukas Krämer auf Insta-
gram und Katrin Langensiepen im Europa-
parlament. Es ist ein Kampf, bei dem die drei
bei Weitem nicht alle Beschäftigte der Werk--
stätten hinter sich wissen. Denn ein Job auf
dem ersten Arbeitsmarkt ist nicht nur eine
Frage des Wollens, sondern auch des Kön-
nens. Viele Menschen haben zu komplexe
Behinderungen, um dort zu bestehen. „Die
Werkstätten sind eine praktische und sor-
genfreie Parallelwelt“, sagt Katrin Langen-
siepen. „Aber eine, die Menschen mit Behin-
derungen die Teilhabe an der Gesellschaft
und am Arbeitsmarkt verwehrt“.
André Thiel verbringt heute viel Zeit im
Garten der kleinen Erdgeschosswohnung
seiner Mutter, schreibt Bücher und be-
sucht politische Veranstaltungen. Die An-
nahme, man müsse Menschen mit Behin-
derung beschäftigen, scheint so gar nicht
auf diesen Mann zuzutreffen, der ständig
neue Dinge für sich entdeckt. Im Alter von
63 und 40 Jahren bekommen beide Rente.
Einen Job hat Thiel nie gefunden.
Wegen einer Erkrankung kümmert sich
André heute um die Frau, die ihn vor 37 Jah-
ren bei sich aufnahm. Er hängt ihre Wäsche
auf und macht ihr Essen. Bevor er losmuss,
um seine Mutter zu einem Friseurtermin
zu bringen, bleibt noch Zeit für eine Frage:
„Wenn Sie in Ihrem neuen Leben einen
Wunsch frei hätten, was wäre das?“ Ohne zu
zögern antwortet er: „Ich würde das Grund-
gesetz ändern – statt ein ‚Recht auf Teil-
habe am Arbeitsleben‘ sollte dort ein ‚Recht
auf einen Job und Einkommen‘ stehen.“ 2

Halle, Trier, Hamburg,
Stuttgart, Berlin und Brüssel:
Lukas Hildebrand und
Fotograf Maximilian Mann
waren für die Recherche viel unterwegs.
Einmal trafen sie sich zufällig im ICE auf dem
Weg nach Dortmund

Viele haben zu


schwere Behinde-


rungen, um auf


dem ersten Arbeits-


markt zu bestehen


Katrin Langensiepen sagt, die Werkstätten verhinderten die Teilhabe an der Gesellschaft


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