Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.08.2019

(Rick Simeone) #1

  1. AUGUST 2019 NR. 31 SEITE 17 FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG


Wirtschaft


Das Smartphone ist omnipräsent.
Trotzdem liest die Mehrheit der
Deutschen längere Texte lieber auf
Papier als am Bildschirm. 59 Prozent
der Befragten ziehen nach eigener
Auskunft die gedruckte Version vor.
Nur 7 Prozent lesen lieber am Bild-
schirm. 29 Prozent haben keine Prä-
ferenz. Jüngerer lesen zwar im Ver-
gleich zu den Älteren lieber am Bild-
schirm, bevorzugen insgesamt aber
trotzdem auch das Papier.

INSTITUT FÜR
DEMOSKOPIE ALLENSBACH

PAPIER IST


BESSER


D


ie Menschheit befindet sich
an einem Wendepunkt:
Während in früheren Zei-
ten die Menschen von Generation
zu Generation schlauer wurden, so
ist inzwischen leider das Gegenteil
der Fall. Wir werden seit dem Jahr
1995 immer dümmer. Traurig, aber
amtlich. Norwegische sowie däni-
sche und amerikanische Forscher ha-
ben dies anhand von IQ-Test-Ergeb-
nissen aus sechs Jahrzehnten zwei-
felsfrei bewiesen. Der sogenannte
„Flynn-Effekt“, benannt nach sei-
nem Entdecker James Flynn, der be-
sagte, dass der IQ-Wert innerhalb ei-
nes Jahrzehnts um drei Punkte
steigt, trifft seit 1995 nicht mehr zu.
Die Wissenschaft rätselt: Was war
1995 los? Sind die zahlreichen Erdbe-
ben in dem Jahr schuld? Der Kruzi-
fix-Streit in Bayern? Die Einfüh-
rung der 35-Stunden-Woche? Der
Homo sapiens hatte sich über Jahr-
hunderte hinweg doch prächtig ent-
wickelt! Bislang tappt die Wissen-
schaft im Dunkeln, nur in einem
Punkt sind sich die Intelligenzfor-
scher einig: Der stetige IQ-Anstieg
war eine Folge der Industrialisie-
rung. Dadurch bekamen immer
mehr Menschen Zugang zu Bil-
dung, Medizin und gesunder Ernäh-
rung. Diese Faktoren aber ziehen
heute nicht mehr. Gerade in Sachen
Bildung tritt die Menschheit seit etli-
chen Jahren auf der Stelle, zumin-
dest in den Industriestaaten. Pisa-
Studie hin, Bologna-Reform her –
die Kinder werden nicht mehr
schlauer. Was intelligenter wird,
sind PC und Smartphone, der IQ
der Nutzer steigt durch die Dauer-
düddelei eher nicht. Auch gesunde
Ernährung treibt den IQ-Wert
nicht nach oben, im Gegenteil: Je
gesünder, desto törichter. Als ge-
sund gilt derzeit alles, was vegan
und glutenfrei ist. Das muss aber in
großen Lettern draufstehen, damit
die Kunden, besonders die jungen,
es auch glauben. Sogar auf Brot und
Wasser. Dabei war klassisches Brot
(Mehl, Wasser, Salz) immer vegan,
Wasser sowieso.
Aber bei der Ernährung schaltet
sich der Verstand bei vielen kom-
plett aus: Für „veganes und gluten-
freies“ Wasser bezahlen Kunden heu-
te horrende Aufschläge, sogar, wenn
sie es nicht mehr trinken, sondern
nur ins Gesicht sprayen können.
Der Verkaufsschlager bei Teenies
sind diesen Sommer Wassersprays.
Manch eine 50ml-Dose kostet auf
den Liter umgerechnet über 100
Euro. Wie war das mit Mathe und
dem IQ?

VEGANES


WASSER
VON BETTINA WEIGUNY

VOLKES STIMME


EIN BALANCE-AKT


N


iewar klagen so einfach. Das
zeigt sich an der Sammelkla-
ge Nr. 5 gegen den Volkswa-
gen-Konzern. Die Kundin,
die dort auf Platz 3 gelistet ist, hat es sich
mit ihren Unterlagen sehr leicht ge-
macht – zu leicht. Statt den nötigen Kauf-
vertrag über ein Diesel-Fahrzeug beizu-
fügen, um ihre Betroffenheit zu doku-
mentierten, schickt sie lediglich eine
handschriftliche Notiz, auf der in großen
Lettern steht: „Ich hab keinen Kaufver-
trag mehr, kann ich nicht finden“.
In diesem unbeholfenen, aber grund-
ehrlichen Satz verbirgt sich ein Dilemma
des Diesel-Skandals, der Öffentlichkeit
und Gerichte nun schon seit knapp vier
Jahren beschäftigt: Der Wunsch nach Ge-
rechtigkeit, nach Ausgleich für eine ziem-
lich dreiste Kundentäuschung, ist groß
und sprengt manchmal das, was die Da-
tenlage hergibt. Das führt zu einem zwei-
ten Problem: Die Masse der Rechtsstrei-
tigkeiten hat Ausmaße angenommen, die
nicht mehr beherrschbar sind, die es aber
Volkswagen erlauben, auf Zeit zu spielen.
Rund eine halbe Million VW-Kunden
kämpfen an unterschiedlichen Fronten
um Schadenersatz, hinzu kommen die ge-
schädigten Aktionäre. Wenige sind schon
am Ziel, für die meisten hat die Reise ge-
rade erst begonnen. Und schließlich
sucht auch die Strafjustiz nach Verant-
wortlichen: In Braunschweig hat die
Staatsanwaltschaft Ex-VW-Chef Martin
Winterkorn angeklagt, in München
jüngst auch Ex-Audi-Chef Rupert Stad-
ler. Das alles bindet die Kräfte der Justiz
auf Jahre und zeigt: Der Diesel-Skandal
zeigt die Grenzen des Rechtsstaats auf.
Dabei hätte es auch anders laufen kön-
nen, was die getäuschten Kunden angeht.
In den Vereinigten Staaten hat man gese-
hen wie: Dort hat der Konzern binnen
Jahresfrist Vergleiche mit dem Justizminis-
terium und Verbraucherschützern ge-
schlossen, deren Gesamtkosten sich inzwi-
schen auf mehr als 33 Milliarden Dollar
summieren. Hierzulande wurden dage-
gen 64 000 Einzelklagen eingereicht, von
einer ganzen Reihe unterschiedlicher
Kanzleien. Dass das kein Zustand ist, hat
auch die Politik mitbekommen; drei Jahre
dauerte es, bis ein neu geschaffenes
Rechtsinstrument seine Wirkung entfal-
ten konnte, die „Musterfeststellungskla-
ge“. Im September ist die erste mündli-
che Verhandlung vor dem Oberlandesge-
richt Braunschweig geplant. In der Zwi-
schenzeit ist das Legal-Tech-Unterneh-
men Myright gemeinsam mit der Kanzlei
Hausfeld in die Bresche gesprungen. Sie
haben sich rund 50 000 Ansprüche von
VW-Kunden abtreten lassen und bün-
deln sie in acht Sammelklagen, um we-
nigstens ein wenig Effizienz in die Sache
zu bekommen. Für die einen ist das Aus-
druck einer „Industrialisierung des
Rechts“, wie sie Deutschland noch nie ge-
sehen hat. Für die anderen ist das ein not-
wendiges Mittel, damit kein Verbraucher
mehr auf sein Recht verzichten muss. „Es


ist Teil unserer Dienstleistung, es den Klä-
gern so einfach wie möglich zu machen –
ohne Kostenrisiko“, sagt Wolf von Ber-
nuth, Partner der Kanzlei Hausfeld. „Das
ist der Witz am kollektiven Regress, wie
Myright und wir ihn anbieten.“
Das klingt einfacher, als es ist. Wer
sich unter Anwälten und Richtern um-
hört, kommt schnell zum erschütternden
Befund: Der Traum von einer effizienten
Justiz, unterstützt von allerhand techni-
schen Finessen, „Legal Tech“ genannt,
platzt gerade. Die Wahrheit ist: Für eini-
ge Rechtsstreitigkeiten ist die richtige
Software ein Segen. Das Flugchaos vom
vergangenen Sommer wäre für die Kun-
den noch ärgerlicher ausgefallen, gäbe es
die halbautomatisierte Eintreibung der
Ansprüche nicht, mit der auch Myright
groß geworden ist. Die Realität im VW-
Skandal jedoch ist beschwerlich. Das
wird nicht nur für die betroffenen VW-
Kunden zum Fiasko, sondern zeigt auch,
wie die Justiz unter künftigen Rechtsstrei-
tigkeiten ächzen wird. Fehlerhafte Pro-
dukte mit Masseschäden gab es schon frü-
her, nur setzten die Kunden ihre Rechte
selten durch: Zu beschwerlich und unvor-
hersehbar war der Rechtsweg. Das ändert
sich nun, für Verbraucher genauso wie
für Unternehmen. Kürzlich hat Myright
Daimler eine Klageschrift angeliefert, de-
ren 650 000 Seiten Papier einen kleinen
Lkw füllte. Das schürt neue Hoffnungen
auf die Durchsetzbarkeit des Rechts, die
mangels effizienter Methoden unweiger-
lich zu Frustration führt.
Dass sich die neue Art der Automati-
sierung nicht für alles eignet, liegt in der
Natur der Sache: Wenn sich ein Flug ver-
spätet, sind alle Passagiere im Flugzeug
in der gleichen Art und Weise betroffen.
Noch besser: Für diese Unannehmlich-
keiten hat die Europäische Union ein
pauschales Entschädigungskonzept entwi-

ckelt. Von pauschalen Lösungen ist man
im VW-Skandal dagegen noch weit ent-
fernt. Dort gibt es zwar auch einen ge-
meinsamen Anlass: illegale Abschaltvor-
richtungen, die auf dem Prüfstand einen
anderen Schadstoffausstoß vorgaukeln,
als auf der Straße. Aber welche rechtli-
chen Konsequenzen das hat, wie der
Schaden zu berechnen ist und ob das Al-
ter und die Nutzung der Fahrzeuge da-
bei eine Rolle spielen, ist noch offen.
Das wäre kein Drama, wären die Di-
mensionen nicht so exorbitant. Neben
den schon genannten 64 000 Einzelkla-
gen in ganz Deutschland sorgen die acht
„Sammelklagen“ für Sand im Getriebe,
denn mit dem äußerst effektiven Rechts-
instrument aus den Vereinigten Staaten,
das regelmäßig internationale Konzerne
in den Vergleich zwingt, hat die deutsche
Variante nichts zu tun. Tatsächlich han-
delt es sich um eine „objektive Klagehäu-
fung“ von abgetretenen Ansprüchen, die
unterschiedlicher kaum sein könnten:
mal wurde das betroffene Auto neu von
einem Vertragshändler gekauft, mal ge-
braucht von Privat. Viele Autos sind
schon alt, einige noch relativ neu, auch
die VW-Marken variieren. Noch dazu
klingt „Klagehäufung“ zu sperrig und zu
ungelenk, um wirklich einschüchternde
Wirkung zu entfalten.
Allein Sammelklage Nummer eins ist
schon ein Ungetüm: Die Klageschrift ist
im Laufe der Zeit auf stolze 2472 Seiten
angewachsen, in ihr sind 15 375 Einzelan-
sprüche gebündelt, die zahllose Seiten
mit Anlagen generieren. Fein säuberlich
sind sie aufgelistet, 72 323 Dateien. Die
vorläufige Streitwertangabe summiert
sich auf 357 853 880,01 Euro, wobei sich
dabei auch sicherlich noch runden ließe.
Das mag auf den ersten Blick üppig, gar
vermessen erscheinen, erklärt sich aber
daraus, dass so ein schöner neuer VW

nun nicht ganz günstig ist. Bei der Masse
reicht eine durchschnittliche Schadens-
summe von 23 000 Euro je Fahrzeug
Das könnte man nun mit einem Lä-
cheln quittieren, wie viele Seiten AGBs
wandern jeden Tag ungelesen in den
Müll? Doch diese Möglichkeit sieht die
Zivilprozessordnung nicht vor, jeder An-
spruch, ob einzeln zur Klage gebracht
oder in einem Sammelpaket geschnürt,
muss von den beteiligten Juristen gesich-
tet und bewertet werden. Das gilt für alle
drei Seiten: Von der Klägerseite ohnehin,
sie hat die Datenmenge schließlich produ-
ziert. Auf Beklagtenseite arbeiten fast ein
Dutzend Kanzleien für VW an dem Fall,
allein die Großkanzlei Freshfields Bruck-
haus Deringer beschäftigt 160 Anwälte
mit dem Fall. Weder Volkswagen noch
Freshfields wollen sich offiziell äußern.
In der bedauerlichsten Position ist die
Dritte im Bunde, die Justiz. Hier ist die
Ausstattung ohnehin schon mager. Das
lässt sich am besten in Braunschweig be-
obachten. Schon wegen der räumlichen
Nähe zum VW-Sitz Wolfsburg türmt
sich hier der größte Berg an Arbeit auf:
Zwei Zivilkammern des Landgerichts ar-
beiten sich durch 3600 Einzelklagen so-
wie durch vier Sammelklagen mit insge-
samt 41 700 Fahrzeugen und einem Streit-
wert von 818 Millionen Euro. Hinzu kom-
men noch einmal knapp viertausend Kla-
gen von VW-Kunden, die einen Finanzie-
rungsvertrag mit einer VW-Bank abwi-
ckeln wollen, sowie enttäuschte Anleger.
Keine Spur von externer Hilfe bei der
Bewältigung: „Die Bearbeitung der Ak-
ten erfolgt durch die zuständigen Rich-
ter“, teilt die Gerichtssprecherin des
Landgerichts Braunschweig mit. „Eine
,Richterassistenz‘, die es gegebenenfalls
ermöglichen würde, die Sichtung der Ak-
ten auf andere Personen zu übertragen,
sieht unser Rechtssystem nicht vor.“ Das

stört auch Myright-Gründer Jan-Eike
Andresen: „Letztlich leidet eine ganze Na-
tion darunter, dass der Richter seinen Job
nicht machen kann, weil er nicht hinter-
herkommt. Das schützt die Industrie.“
Da haben es die beiden Streithähne
leichter. Dort wird ausgelagert, was das
Zeug hält. Beide Seiten binden Heerscha-
ren juristischen Personals, wissenschaftli-
che Mitarbeiter und eine relativ neue
Spezies der Projektjuristen, voll ausgebil-
dete Rechtsanwälte mit moderaten Ambi-
tionen, die mit Zeitverträgen arbeiten.
Die haben momentan alle Hände voll zu
tun. „Diese Fälle binden unglaublich viel
Manpower, weil die Technik noch nicht
so weit ist“, sagt Wolf von Bernuth, Part-
ner der Kanzlei Hausfeld.
Denn: Je leichter man es den Mandan-
ten macht, ihre Unterlagen einzureichen,
desto übermütiger werden sie, auch in
dem Bewusstsein, dass sie wohl niemals
selbst vor Gericht auftreten müssen. Da
wird schon mal freimütig eingeräumt,
dass ein Kaufvertrag gar nicht existiert.
Das ist auch nicht verwerflich, schließlich
kann der auch mündlich geschlossen wer-
den, nur wird es dann eben schwierig mit
der Eintreibung des Schadenersatzes. An-
dere setzen nachträglich einen schriftli-
chen Vertrag auf und datieren ihn zu-
rück, was unter Umständen eine strafbare
Urkundenfälschung, gar Prozessbetrug
sein kann. Wiederum andere laden verse-
hentlich falsche Dokumente hoch, so fin-
den sich auch Gehaltsabrechnungen, Ster-
beurkunden und Kinderfotos in den Un-
terlagen, die vor Gericht landen. Wolf
von Bernuth kann da nur seufzen, er
weiß, wie fehlerhaft die Dokumente sein
können, deshalb müssen sie ja so akri-
bisch gesichtet werden. „Jeden Fehler
kriegen wir von der anderen Seite auf das
Butterbrot geschmiert“, sagt er. „Deshalb
sind wir besonders vorsichtig, aber natür-
lich passieren bei dieser Masse auch Feh-
ler. Viele eingereichte Dokumente sind
einfach lückenhaft.“ Die Industrialisie-
rung des Rechts fordert ihren Preis.
Volkswagen unterdessen spielt auf
Zeit, selbst dem Bundesgerichtshof
(BGH) ist das schon aufgefallen. Er sah
sich zuletzt genötigt, strenge Worte nach
Wolfsburg zu schicken, nachdem der
Konzern wieder einmal ein Grundsatzur-
teil in der Sache verhindert hat. Eine Ver-
zögerung hat für den Autobauer tatsäch-
lich Charme: Sollte es tatsächlich Scha-
denersatz für die Kunden geben, pocht
VW drauf, dass die Nutzung abgezogen
wird. Je älter ein Wagen ist, desto weni-
ger bekommt der Kunde dann zurück.
Hausfeld hält auch in diesem Punkt dage-
gen: „Wir sind überzeugt davon, dass der
volle Schadenersatz zu zahlen ist.“ Setzt
sich diese Ansicht auch vor dem BGH
durch, wird es für VW wirklich teuer. Im
Herbst könnte es einen ersten Durch-
bruch geben, dann hat der BGH endlich
die Chance, einen Fall zu verhandeln
und ein Grundsatzurteil zu fällen. Doch
selbst dann ist die Sache noch nicht aus-
gestanden: Für die Musterkläger hat das
Verfahren dann gerade erst begonnen.

Der Dieselbetrug treibt den Rechtsstaat an seine Grenzen: Eine halbe


MillionVW-Kunden verlangen Schadenersatz. Der Ansturm


ist kaum zu bewältigen. Wenigstens die Anwälte verdienen prächtig.


Von Corinna Budras


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und Ältere

lieber aufPapier lieber am Bildschirm Egal


Rund RUQQ Befragte (Bevölkerung von RT Jahren an).
Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach F.A.Z.-Grafik nbl.

Der VW-Skandal


wird zum Albtraum


der Richter


Illustration Thomas Fuchs

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