18 wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 4. AUGUST 2019, NR. 31
Der Lohn der Friseure
I
n Deutschland spielt die Industrie,
und hier vor allem die Automobilin-
dustrie und ihre Zulieferer, traditio-
nell eine sehr große Rolle, und so
findet ihr Wohlergehen besondere Auf-
merksamkeit. Die schlechten Nachrich-
ten aus der Industrie erklären denn auch,
warum sich der vielbeachtete Geschäfts-
klima–Index des Ifo-Instituts auf seinem
niedrigsten Stand seit April 2013 befindet
und die deutsche Wirtschaft nach ersten
Schätzungen im zweiten Quartal des lau-
fenden Jahres vermutlich nicht gewach-
sen ist. Sollten die internationalen Han-
delskonflikte eskalieren, dürfte darunter
vor allem die exportlastige deutsche In-
dustrie leiden.
Auf lange Sicht dürfte der Wohlstand
Deutschlands wie das anderer traditionel-
ler Industrieländer aber vor allem von der
wirtschaftlichen Leistungskraft der
Dienstleistungen abhängen. Denn die ge-
samtwirtschaftliche Bedeutung der
Dienstleistungen wächst und wächst.
Heute arbeiten im Durchschnitt der In-
dustrienationen rund 70 Prozent der Be-
schäftigten im Dienstleistungsgewerbe –
Tendenz steigend. Die aktuell gute Nach-
richt lautet: Es ist vor allem das Dienst-
leistungsgewerbe, das sich im Moment
noch recht robust zeigt und verhindert,
dass die deutsche Wirtschaft in eine Re-
zession stürzt.
Auf lange Sicht ist die wachsende Be-
deutung der Dienstleistungen, in denen
sich der allmähliche Wandel traditionel-
ler Industriegesellschaften in moderne
Wissensökonomien spiegelt, aber nicht
ohne Herausforderungen. Denn im
Durchschnitt der Industrienationen liegt
die Arbeitsproduktivität in den Dienstleis-
tungen rund 40 Prozent unter jener in
der Industrie, und es besteht die Gefahr
einer Vergrößerung dieser Kluft, wenn
sich die Trends aus der Vergangenheit
fortsetzen. Leider ist das jährliche Wachs-
tum der Arbeitsproduktivität in den
Dienstleistungen deutlich geringer – und
da die Bedeutung der Dienstleistungen
für die gesamte Wirtschaft zunimmt, ver-
langsamt sich damit das Wachstum der
Arbeitsproduktivität in der Gesamtwirt-
schaft. Hier liegt ein Grund für die be-
scheidene wirtschaftliche Dynamik, die
in der jüngeren Vergangenheit in vielen
Industrienationen konstatiert wird und
zu niedrigen Zinsen beiträgt.
Wie erklären sich diese Trends? Die
im Vergleich zur Industrie niedrigere Pro-
duktivität der Dienstleistungen wird häu-
fig mit geringeren Möglichkeiten einer
Automatisierung begründet. Lehrer,
Krankenpfleger und Friseure lassen sich,
zumindest bis heute, nicht so leicht durch
Roboter ersetzen wie Fabrikarbeiter. Zu-
dem sind viele Märkte für Dienstleistun-
gen – wieder ließe sich der Friseur anfüh-
ren – lokaler Natur, was oft den Wettbe-
werb beschränkt.
Häufig lässt sich für Dienstleistungen
sinnvoll auch gar keine Produktivität be-
rechnen, weil sie nicht auf privaten Märk-
ten angeboten werden. Wie könnte man
die Produktivität des Militärs messen, wie
die Produktivität des staatlichen Bildungs-
wesens und wie die Produktivität in der
Krankenpflege?
Während der raschere Produktivitäts-
fortschritt in der Industrie die Produkti-
on mit immer weniger, aber dafür bes-
ser bezahlten Arbeitnehmern gestattet,
führen die steigenden Einkommen der
Arbeitnehmer zu einer wachsenden
Nachfrage nach personalintensiven
Dienstleistungen.
Die durch steigenden Wohlstand ge-
triebene Nachfrage ist nicht der einzige
Grund für das Wachstum der Dienstleis-
tungen. Unternehmen investieren immer
mehr in sogenanntes immaterielles Kapi-
tal wie Markenrechte, Software oder die
Qualifikation ihrer Mitarbeiter, weil sie
sich hiervon höhere Renditen verspre-
chen als von Investitionen in traditionel-
les industrielles Sachkapital wie Fabriken
und Maschinen. Zudem sorgt die Alte-
rung der Gesellschaft für eine steigende
Nachfrage nach Dienstleistungen zum
Beispiel in der Altenpflege.
Vom allgemeinen Trend zu höheren
Einkommen profitieren auch viele
Dienstleistungsberufe, obgleich deren
Produktivität sich nicht so einfach stei-
gern lässt: „Irgendwann wird es schwie-
rig, die Zeit zu reduzieren, die notwen-
dig ist, um bestimmte Aufgaben auszu-
führen, ohne dabei gleichzeitig die Quali-
tät zu reduzieren. Wer versucht, die Ar-
beit von Chirurgen, Lehrern oder Musi-
kern zu beschleunigen, hat gute Chan-
cen, eine verpfuschte Operation, schlecht
ausgebildete Schüler oder ein merkwürdi-
ges Konzert zu bekommen“, beschrieb
der amerikanische Ökonom William Bau-
mol (1922 bis 2017) ein Phänomen, das in
der Wirtschaftstheorie als „Kostenkrank-
heit“ bekannt geworden ist.
Heißt dies nun, dass der Übergang
von Industriegesellschaften zu stark
durch Dienstleistungen geprägte moder-
ne Wissensökonomien notwendigerwei-
se mit niedrigem Wirtschaftswachstum,
niedrigen Zinsen und, in vielen Fällen,
niedrigen Löhnen einhergeht? Das ist
nicht der Fall. Die Dienstleistungen eint
zwar, dass sie im Unterschied zu Gütern
immateriell sind. Aber es gibt sehr unter-
schiedliche Dienstleistungen und dar-
unter auch solche, bei denen die digitale
Revolution deutliche Produktivitätsstei-
gerungen verspricht, zum Beispiel in
der Informationstechnologie. Außer-
dem sind Automatisierungseffekte auch
da möglich, wo man sie bisher nicht er-
wartet hätte, zum Beispiel durch autono-
mes Fahren.
Die Frage nach der nachhaltigen Stei-
gerung der Produktivität im Dienstleis-
tungsgewerbe kann durchaus zu einer
wirtschaftlichen Schicksalsfrage der
nächsten Dekaden werden, weil sie we-
sentlichen Einfluss auf das Wirtschafts-
wachstum und das Zinsniveau nehmen
dürfte. Ein Arbeitspapier aus der Organi-
sation für wirtschaftliche Zusammenar-
beit und Entwicklung (OECD) befasst
sich unter anderem mit der Frage, wie die
Politik diesen Prozess sinnvoll begleiten
kann. Und hier spielt, auch gestützt auf
Erfahrungen aus den Vereinigten Staa-
ten, eine Kategorie der Wirtschaftspoli-
tik eine Rolle, die lange Zeit zu wenig Be-
achtung gefunden hat: die Wettbewerbs-
politik. Denn im Zeitalter der digitalen
Plattformwirtschaft stellt sich die Frage
nach der wirtschaftlich sinnvollen Aus-
breitung technischer Innovationen, wenn
wichtige Plattformen unter der Kontrolle
monopolartiger Giganten von der ameri-
kanischen Westküste stehen. Allein die
Idee von Facebook, eigene Plattformen
für die Verbreitung einer neuen privaten
Währung („Libra“) mit potentiell mehre-
ren Milliarden Kunden zu nutzen, zeigt
das Machtpotential der Herren aus dem
Silicon Valley.
Weitgehend unbestritten ist die Aufga-
be der Politik, durch die Flexibilisierung
von Arbeits- und Produktmärkten die
Voraussetzungen für Innovationen und
ihre Verbreitung zu schaffen. Eine Aufga-
be besitzt der Staat auch, wenn es darum
geht, Menschen, die als Folge der Auto-
matisierung ihren bisherigen Job verlie-
ren, Unterstützung für eine neue berufli-
che Qualifikation zu leisten.
Stéphane Sorbe, Peter Gal, Valentine Millot: Can productivi-
ty still grow in service-based economies? OECD Arbeits-
papiere. Paris 2019
Dienstleistungen werden
immer wichtiger, aber
viele sind wenig
produktiv. Das schadet
uns allen.
Von Gerald Braunberger
E
s ist das Modewort der Sai-
son. Wer es schon immer
viel bequemer fand, mit
der Bahn von Berlin nach
Frankfurt zu fahren, der behauptet
neuerdings, dass er auf das Auto
„verzichtet“. Wer vor lauter Frei-
zeitstress lieber mal ein Wochenen-
de entspannt daheim verbringt, der
redet vom Verzicht auf einen Kurz-
trip per Flugzeug. Und, logisch:
Wer bequem per Mausklick auf
Ökostrom umsteigt, der rühmt sich
des Verzichts auf Kohlestrom.
Man fragt sich, was am Verzicht
eigentlich so anziehend ist. Jahre-
lang haben gerade Öko-Aktivisten
wieder und wieder betont, dass die
schöne grüne Zukunft doch eigent-
lich viel attraktiver sei als die graue
fossile Vergangenheit. Jetzt, auf ein-
mal, reden auch sie wieder vom Ver-
zicht – zumindest in Schweden,
Deutschland und einigen anderen
Ländern, die kulturell vom Protes-
tantismus geprägt sind (und, neben-
bei bemerkt, zu den Spitzenreitern
beim CO2-Ausstoß zählen).
Das legt den Verdacht nahe, dass
es da einen Zusammenhang gibt.
Man könnte, wenn es sein muss,
auch von Einschränkungen reden
oder von Kosten. Aber im Verzicht
schwingt anderes mit: Selbstbeherr-
schung, Selbstkasteiung, ein ur-
sprünglich religiöses Konzept, das
sich im Lauf der Zeit säkularisiert
hat, zu einem allgemeinen Prinzip
der Lebensführung. Von „inner-
weltlicher Askese“ sprach der Sozio-
loge Max Weber, die eine Akkumu-
lation von Kapital erst ermöglichte
und das moderne Wirtschaften in
Schwung brachte.
Davon ist in der hedonistischen
Konsumgesellschaft nicht viel üb-
rig geblieben, und so nimmt es
nicht wunder, dass inzwischen auch
der Verzicht hedonistische Züge an-
genommen hat: Wer sich be-
schränkt, wer fastet oder die Woh-
nung entrümpelt, der fühlt sich
gut, besser jedenfalls als zuvor: Sim-
plify your life. Und er kann sich
von anderen für seine Bereitschaft
zum Verzicht bewundern lassen.
Mit Klimaschutz hat das wenig
zu tun. Nicht Askese rettet das Kli-
ma, sondern der Ausstoß von weni-
ger Kohlendioxid. Der Atmosphäre
ist es egal, ob der Konsument sich
dabei gut fühlt oder schlecht. Der
SUV, der in der Stadt bloß herum-
steht, fördert die Erderwärmung
weniger als der Kleinwagen auf
dem Land, der täglich lange Stre-
cken zurücklegt. Natürlich sind Au-
tos in Innenstädten fehl am Platz,
aber da geht es vor allem um Le-
bensqualität, weniger um Klima-
schutz. Auch hier würde mehr ana-
lytische Schärfe helfen, zumal es
mittlerweile populär geworden ist,
den Klimakiller CO2 ein „Giftgas“
zu nennen: Das ist es ja gerade
nicht, es ist allgegenwärtig, das ist
Teil des Problems.
Schlimmer als der „Verzicht“ ist
nur die „Scham“. Sie ist etwas, was
einem von außen eingeredet wird –
in Bezug auf abweichendes Verhal-
tensweisen oder gar auf unveränder-
liche Eigenschaften, die für sich ge-
nommen eben gerade nicht ver-
werflich sind: Früher schämten
sich zum Beispiel Behinderte ihrer
Behinderung und versuchten sie so
weit als möglich zu verstecken; von
Homosexuellen wurde erwartet,
dass sie sich nicht outeten; Ältere
mit wenig Geld trauten sich nicht,
zum Amt zu gehen und Grundsi-
cherung einzufordern – was ja heu-
te noch als Argument für die Ein-
führung einer Grundrente dient.
In all diesen Fällen hat die Scham
nichts besser gemacht und keine
Missstände beseitigt. Im besten Fall
hat sie Trotz geweckt und Wider-
stand begünstigt. Ganz ähnlich ist
es mit der „Flugscham“. Was soll
das überhaupt sein? Im Wortsinn
wäre es die Aufforderung, weiterhin
zu fliegen, aber gefälligst mit jenem
ordentlich schlechten Gewissen,
ohne das man in Nordeuropa zum
Lebensglück offenbar nicht finden
kann. Und dass man sich für den
kurzen Inlandsflug zur kranken
Großmutter im Schwäbischen
mehr „schämen“ müsse als für den
zigmal schädlicheren Vergnügungs-
trip in die Karibik, das lässt sich
ebenfalls nur schwer begründen –
abgesehen davon, dass „Vergnü-
gungstrip“ auch schon wieder ein
Geschmacksurteil aus dem Arsenal
der Verzichtsfreunde und Beschä-
mer beinhaltet.
Das alles wäre nicht so ärgerlich,
wenn die Sache nicht wirklich
drängte. Das Begrenzen der Erder-
wärmung duldet keinen Aufschub
mehr. Deshalb geht es jetzt um Fak-
ten, um Taten, um institutionelle
Arrangements. Fürs lustvolle Ba-
den in „Scham“ oder „Verzicht“ ha-
ben wir keine Zeit mehr.
B
ald ist der Mauerfall dreißig Jahre
her, ein Zeitraum von mehr als ei-
ner Generation. Es folgte ein knap-
pes Jahr kreativer Ost-Anarchie, bis am 3.
Oktober 1990 der erste Tag der Deut-
schen Einheit gefeiert wurde. Welch ein
Aufbruch! Ich erinnere mich an eine Re-
cherche-Reise als Wirtschaftsjournalist
im kalten Januar 1990 nach Leipzig, Hal-
le und Ost-Berlin (damals noch „Haupt-
stadt der DDR“), die mir erschien wie
die Entdeckung eines unbekannten Kon-
tinents. Den Grenzübertritt in Herles-
hausen muss man sich vorstellen wie den
Wechsel von Farbe zu Schwarzweiß mit-
ten in einem Film. Hinter der Grenze
waren die Häuser überall grau. Ich sollte
die für das „Leseland DDR“ legendären
Verlage des Ostens besuchen. Bei Re-
clam Leipzig hatten sie gerade den ver-
schlafenen Direktor gefeuert und setzten
nun auf einen von den Mitarbeitern ver-
walteten Betrieb, eine Art jugoslawische
Arbeiter-Kommune als Modell für die
neue Zeit. Lauter sympathische Träumer
waren das, „gärig“ könnte man die Stim-
mung nennen, wäre das Wort nicht
durch Alexander Gauland kontaminiert.
Und heute? Katzenjammer, Ignoranz
und viele böse Worte. Die Helden von
damals streiten wie die Kesselflicker,
wem das revolutionäre Vorrecht der welt-
historischen Zäsur zusteht – den träu-
menden Protagonisten der DDR-Opposi-
tion oder dem Volk der Realisten, das
endlich leben und konsumieren wollte
wie die Brüder und Schwestern im westli-
chen Kapitalismus. Irgendwie sind sich
alle einig, dass die Sache der Wiederver-
einigung nicht richtig gelungen ist – vor
allem nicht in den inzwischen in die Jah-
re gekommenen „neuen Bundeslän-
dern“, die immer mehr einer Art Natio-
nalpark gleichen mit vielen blühenden
Landschaften und immer weniger, dafür
aber immer lauter werdenden Enttäusch-
ten, Abgehängten und Traumatisierten.
Die erzählen sich und uns im Westen
eine Geschichte der Entwürdigung und
Entwertung. Vorige Woche lief auf
ZDF-Info ein sehenswerter Film „Sach-
sen zwischen Mauerfall und Rechtspopu-
lismus“, in dem das derzeit vorherrschen-
de Ost-Narrativ zu Wort kam: Die westli-
chen Kapitalisten haben nach 1990 den
Osten plattgemacht, um ihn als Absatz-
markt für ihre Westprodukte und als ver-
längerte Werkbank für billige Arbeits-
kräfte zu missbrauchen. Als Instrument
dieser perfiden Politik gilt die alles priva-
tisierende Treuhand-Anstalt, auf die sich
AfD, Linke und Teile der SPD (etwa die
sächsische Integrationsministerin Petra
Köpping) seit geraumer Zeit eingeschos-
sen haben. Es sieht gerade so aus, als hät-
te es vor 1990 zwischen Ostsee und Elb-
sandsteingebirge blühende Landschaften
gegeben, welche aus eigennützigen Grün-
den vom Westen zerstört wurden – eine
Geschichtskonstruktion, die zwingend
vom DDR-Sozialismus über den Neoli-
beralismus (Treuhand) in den AfD-Na-
tionalismus führt.
Dass diese Deutung eine Pervertie-
rung der Wahrheit ist, hat die ehemalige
Treuhand-Chefin Birgit Breuel vor zwei
Wochen im F.A.S.-Interview klarge-
macht. Die Chemie-Region Bitterfeld-
Leuna sei ihr vorgekommen „wie eine
Welt, die vergessen hatte unterzugehen“.
Weit und breit nichts von blühenden
Landschaften. Wo aber lagen dann die
Fehler, dass Helmut Kohls Versprechen
von damals vielen heute wie Hohn er-
scheint? In den neunziger Jahren gab es
die vorherrschende Deutung, wonach
die Währungsunion (eine Ostmark ge-
gen eine D-Mark) und die von Gewerk-
schaften und Arbeitgebern im Kartell be-
schleunigt vollzogene Lohnerhöhung ost-
deutsche Arbeit und Produkte derart ver-
teuert habe, dass diese am Markt nicht
mehr absetzbar gewesen seien. Das Argu-
ment ist auch heute nicht falsch, klingt
aber doch sehr theoretisch. Was hätte
ein solcher Wettbewerbsvorteil ge-
bracht? Der Treck nach Westen wäre
nicht aufzuhalten gewesen, der Brain-
drain noch viel dramatischer ausgefallen.
Seit der Flüchtlingskrise kennen wir
Push- und Pullfaktoren: Zwischen Mag-
deburg und Wolfsburg gibt es noch
nicht einmal ein Mittelmeer.
Man stelle sich für einen Moment vor,
die DDR existiere heute immer noch
und die Maueröffnung stehe am 9. No-
vember 2019 erst noch bevor. Alle (auch
die klügsten Ökonomen) wären vorberei-
tet und könnten alles besser machen. Ich
wage die Vermutung, die Geschichte
würde nicht viel anders verlaufen:
Schock und Trauma des Systemwechsels
wären nicht zu vermeiden, so fatalistisch
es klingen mag. Woran das liegt? Es
könnte damit zusammenhängen, dass es
in einer Marktwirtschaft keine „objekti-
ven“ Werte gibt. Das ist schwer zu ertra-
gen, weil es in Revolutionszeiten eine Er-
fahrung von Entwertung und Entwürdi-
gung nach sich ziehen muss. Plötzlich wa-
ren die Fabriken und die DDR-Produkte
nichts mehr wert. Niemand, auch nie-
mand in Osteuropa und selbst in den neu-
en Bundesländern, wollte noch einen
Trabant kaufen, den zugeteilt zu bekom-
men kurz vorher noch ein großer Wert
gewesen wäre. An der objektiven Beschaf-
fenheit des Trabant hatte sich nichts ge-
ändert. Trotzdem war er wertlos gewor-
den: Dabei hatten die Arbeiter ihn im-
mer noch so gewissenhaft gefertigt wie
früher. Aber ihre Arbeit wurde plötzlich
nicht mehr gebraucht. Solch eine Ent-
wertung vergisst man nie. Womöglich
kommt die Wut erst Jahre später.
Man kann sich diese „subjektive“
Wertlehre der Marktwirtschaft an einem
anderen historischen Beispiel klarma-
chen: Als am 11. November 1918 genau
um elf Uhr zwischen den kriegführen-
den Parteien des Ersten Weltkriegs ein
Waffenstillstandsabkommen unterzeich-
net wurde, waren die modernsten briti-
schen Panzer, die auf Befehl von Rüs-
tungsminister Winston Churchill gerade
fertig geworden waren, auf einen Schlag
nichts mehr wert. An den Panzern selbst
hatte sich nichts geändert – bloß der
Preis verfiel. Der aber ist entscheidend,
weil einzig er den Wert einer Sache defi-
niert. Er hängt bekanntlich von Angebot
und Nachfrage ab. In den neunziger Jah-
ren haben offenkundig noch nicht einmal
die Marktwirtschaftler aus dem Westen
ihrer subjektiven Werttheorie geglaubt.
Anders wäre es nicht erklärbar, dass Det-
lev Rohwedder, der erste Präsident der
Treuhand, den „Wert“ der ostdeutschen
Wirtschaft anfangs auf 700 Milliarden
DM taxierte; am Ende stand da ein Defi-
zit von über 200 Milliarden DM, das vom
(west-)deutschen Steuerzahler beglichen
werden musste. Selbst wenn die Fabriken
im Osten weniger verrottet gewesen wä-
ren, als sie es faktisch waren: sie wären
wertlos geworden, nachdem keiner die
Produkte mehr haben wollte.
Karlheinz Paqué, ein Ökonomieprofes-
sor aus Magdeburg, der viel über die
deutsche Vereinigung geforscht hat, ver-
mutet, dass uns das Verständnis für die Ir-
relevanz des Sachkapitals heute, im digi-
talen Zeitalter, vertrauter geworden sei.
„Flixbus“ ist nicht erfolgreich, weil der
Firma viele grüne Busse gehören. Die
standen früher wertlos auf den Fuhr-
parks der Provinz herum. Der „Wert“
von Flixbus beruht auf einer simplen
Idee, nämlich einer Plattform, welche
die Wünsche der Kunden koordiniert.
Vielleicht wüssten wir eines heute besser:
Es kommt nicht auf Kapital und Trans-
fers an, es kommt auf Ideen an. Aber wer
hätte für diese Erkenntnis weitere 30 Jah-
re Sozialismus in Kauf nehmen wollen?
DER SONNTAGSÖKONOM
HANKS WELT
Schluss
mit Verzicht
und Scham!
Von Ralph Bollmann
Das Trauma der
deutschen Einheit
Oder: Warum die Marktwirtschaft keine
objektiven Werte hat.Von Rainer Hank