Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.08.2019

(Rick Simeone) #1

2 politik F P M FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 4. AUGUST 2019, NR. 31


M


eistens riecht man sie,
bevor man sie sieht: die
Müllberge, die sich vor
den Reisfeldern auftür-
men, die sich in den In-
nenhöfen sammeln oder die in illegalen
Fabriken verbrannt werden. Der Ge-
stank zieht über die Felder und sitzt in
den Häusern. Anwohner klagen über
Atemnot, Hautausschlag und tränende
Augen. Manche sind abgemagert, müs-
sen sich immer wieder übergeben. Ihr
Brunnenwasser ist mit Blei, Zink und
Eisen vergiftet. Die Krokodile sind ver-
schwunden, weil die Flüsse mit den Ab-
wässern aus den Müllverarbeitungsanla-
gen verseucht sind. Palmenfrüchte ver-
rotten, bevor sie reif sind.
Das ist das erschreckende Bild, über
das die Organisation Global Alliance for
Incinerator Alternatives (Gaia) vor eini-
gen Wochen berichtet hat – es ist der All-
tag in einigen Gegenden Südostasiens.
Die Autoren haben in Malaysia, Thai-
land und Indonesien recherchiert, über-
all entdeckten sie ähnliche Zustände: Ber-
ge von Plastikmüll und Anwohner, die
über die Folgen für ihre Gesundheit und
Umwelt klagten. Und noch eine Gemein-
samkeit gab es: Der Müll kam überwie-
gend aus dem Westen.
Die Organisation fand Plastik-
flaschen und Autoradios aus den Verei-
nigten Staaten, Katzenfutterverpackun-
gen aus Spanien, Folie von französi-
schem Käse, Milchkartons aus Großbri-
tannien und Margarinebecher aus
Deutschland.
Die westliche Konsumwelt lädt ihren
Müll in Südostasien ab. Zuvor hatte
China seit den neunziger Jahren fast die
Hälfte der globalen Exporte an Plastik-
müll aufgenommen, ebenfalls mit ver-
heerenden ökologischen und sozialen
Folgen. Nachdem Peking vor einein-
halb Jahren einen weitgehenden Import-
stopp verhängt hat, gelangen immer
mehr Wohlstandsüberreste aus Amerika
und Europa nach Südostasien. Die Müll-
exporte verlagern sich nach Malaysia,
das zum größten Importeur der Welt
von Plastikmüll aufstieg. 626 000 Ton-
nen Kunststoffmüll kamen laut Green-
peace im vergangenen Jahr ins Land.
Vieles davon ist legal. Deutsche Un-
ternehmen zum Beispiel dürfen unbe-
grenzte Müllmengen ohne besondere
Genehmigung ins Ausland exportieren,
wenn die EU die jeweilige Abfallart als
ungefährlich eingestuft hat. Die Liste
der erlaubten Sorten ist lang. Neben un-
zähligen Kunststoffen enthält sie auch
Eisen-, Stahl- und Kupferschrott, be-
stimmte Elektrogeräte ohne Batterien,
Glas, Keramik, Autoreifen, Pappe und
Einweg-Kameras. Hausmüll ist verbo-
ten. Allerdings muss der Exporteur ver-
sichern, dass der Abfall im Empfänger-
land „verwertet“ und nicht einfach nur
in die Landschaft geworfen wird.
Hier aber, bei der ordnungsgemäßen
„Verwertung“ im Zielland, hakt das Sys-
tem. Im kleinen Ort Jenjarom in Malay-
sia jedenfalls haben die Bewohner den
Rechercheuren von Gaia erzählt, dass il-
legale Müllfabriken zuletzt „wie Pilze“
aus dem Boden geschossen sind. Mehr
als vierzig waren es in nur wenigen Mo-
naten. Jede Nacht wurde dort der Abfall
verbrannt.
Auch in anderen Ländern der Region
schnellten nach dem chinesischen Im-
portstopp die Einfuhren hoch. In Thai-
land wuchsen sie in einem Jahr um
mehr als tausend Prozent, in Indone-
sien um 141 Prozent. In Vietnam hatten
sich in einem Hafenterminal zwischen-
zeitlich über 8000 Container mit Plas-
tik und Papier angesammelt. Die Regie-
rungen machten das lange mit und kon-
trollierten nicht übermäßig genau, ob
die Müll-Lieferanten aus dem Westen
wirklich nur „erlaubte“ Abfälle in ihre
Container packten und ob die Empfän-
ger an Ort und Stelle den Inhalt wirk-
lich wie vorgeschrieben „verwerteten“.
Die illegalen Halden wuchsen, und
zugleich wuchs der Widerstand. Zu-
nächst waren es vor allem die Anwoh-
ner, die sich gegen die Gefährdung ih-
rer Gesundheit und ihrer Umwelt auf-
lehnten. Später erkannten auch die Re-
gierungen das Problem. Ende Mai
schickte Malaysia sechzig Container
mit nicht verwertbarem Plastikmüll und
Elektroschrott an die Absender in den
Vereinigten Staaten, Japan, Saudi-Ara-
bien, Kanada und Frankreich zurück.
„Wir sind nicht die Müllkippe der
Welt“, warnte die Umweltministerin.
„Wir wehren uns. Das ist auch eine Fra-
ge der Würde und der Souveränität.“
Rodrigo Duterte, der streitsüchtige
Präsident der Philippinen, ließ seiner-
seits 69 Container mit Hausmüll wieder
nach Kanada verschiffen. Der Müll war
schon vor Jahren auf die Philippinen ge-
bracht worden. Seitdem gab es einen di-
plomatischen Konflikt, in dessen Ver-
lauf Duterte sogar mit Krieg drohte.
Der philippinische Botschafter wurde
vorübergehend aus Ottawa abgezogen.
Zuletzt hatte sich dann auch Indonesien
entschieden, eine Lieferung von 49
Containern postwendend in die Her-
kunftsländer zurückzuschicken, auch
nach Deutschland.
Der Müll war im Hafen von Batam
gelandet, einer indonesischen Insel di-
rekt gegenüber von Singapur. Die Insel
hat sich in den vergangenen Monaten

zu einem Zentrum der Müllindustrie
entwickelt. Nach indonesischen Anga-
ben hatte die Lieferung gegen die Im-
portvorschriften verstoßen. Der Inhalt
der Container war offenbar falsch dekla-
riert worden. Es sollte eigentlich ver-
gleichsweise harmloser Plastikmüll sein,
aber als die Kontrolleure einige der
Container öffneten, strömte ihnen stren-
ger Geruch entgegen. Zwischen Plastik-
verpackungen befand sich normaler
Hausmüll, darunter gebrauchte Win-
deln und Altpapier.
Die Südostasiaten haben verstanden,
dass der Import von Müll zu ihren
Lasten geht. Doch Gesetzesverschärfun-
gen und Rücktransporte ändern noch
nichts an dem eigentlichen Problem.
Wie sich am Beispiel Chinas gezeigt
hat, ziehen die Unternehmen einfach in

ein anderes Land weiter, wenn ihnen an-
dernorts Grenzen gesetzt werden. Es
müsste sich auch etwas in den Her-
kunftsländern ändern.
Dort ändert sich tatsächlich etwas,
aber in die falsche Richtung. Vor allem
produzieren sie immer mehr Plastik,
und mehr Plastik heißt mehr Abfall.
Die weltweite Kunststoffproduktion ist
seit Mitte des letzten Jahrhunderts von
Jahr zu Jahr gewachsen, und die Wachs-
tumskurve wird immer steiler. Ein gro-
ßer Teil des weltweit hergestellten Plas-
tiks wird nach dem Gebrauch zwar ord-
nungsgemäß verarbeitet oder depo-
niert, aber nach einer Schätzung der
Deutschen Umwelthilfe landet immer
noch ein Zehntel irgendwo in einem
Fluss, auf einer wilden Halde oder im
Ozean; 35 Millionen Tonnen werden je-

des Jahr achtlos weggeworfen. Das ent-
spricht der Ladung von drei Millionen
Müllwagen. Stoßstange an Stoßstange
gereiht eine Schlange von Madrid bis
Wladiwostok – und zurück.
Die Europäische Union ist nach Chi-
na der zweitgrößte Plastikproduzent
der Welt, und innerhalb der EU steht
Deutschland in absoluten Zahlen an ers-
ter Stelle. Pro Kopf gerechnet, ist der
Plastikverbrauch nur in Estland, Irland
und Luxemburg noch höher.
In Deutschland entstandene Abfälle,
auch Plastikmüll, gehen zu einem Vier-
tel ins Ausland – in andere Länder der
EU, nach Polen und Bulgarien, aber
eben in erheblichem Maß auch nach
Südostasien. Aus den Augen, aus dem
Sinn – angeblich wird ja dort alles or-
dentlich verwertet.

Dass das eine Illusion ist, könnte
jeder, der in Deutschland mit Müll-
ausfuhr zu tun hat, eigentlich längst
verstanden haben. Bundesumweltmi-
nisterin Svenja Schulze jedenfalls hat
unlängst alle, die es wissen wollen, auf
das Problem der „illegalen Deponien in
Asien und Afrika“ aufmerksam ge-
macht, und auch die Deutsche Umwelt-
hilfe berichtet, in Malaysia seien erst
vor kurzem 139 illegale Müllfabriken
geschlossen worden. Jeder, der eine
Nase hat, spürt, das hier etwas zum
Himmel stinkt.
Wie aber kommt trotz aller wohlmei-
nenden Vorschriften all der Müll aus
Deutschland und seinen reichen euro-
päischen Nachbarländern auf wilde Kip-
pen in Malaysia? Die Antwort ist: In
der europäischen Gesetzgebung ist

zwar scheinbar alles geregelt. Bei gefähr-
lichen Müllsorten muss die Ausfuhr je-
des Mal einzeln genehmigt werden, hier
ist der Export nicht einfach. Bei der lan-
ge Liste von angeblich ungefährlichen
Abfallprodukten aber, die ohne besonde-
re Genehmigung exportiert werden kön-
nen, gibt es praktisch keine Kontrollen.
Im Ausfuhrterminal am Hafen kann der
deutsche Zoll zwar noch in den Contai-
ner sehen, da wird dann vielleicht das
eine oder andere Mal etwas Verbotenes
entdeckt. Fünf Sechstel aller Abfälle,
die Deutschland verlassen, stehen aber
auf der Liste des freien Mülls, und was
damit passiert, wenn das Container-
schiff erst hinter dem Horizont ver-
schwunden ist, prüft in Deutschland nie-
mand nach. Bei solchen Ladungen
reicht es, wenn der Exporteur ein Be-
gleitdokument vom Umfang eines
DIN- A4-Blatts ausfüllt. Dann kann der
Dampfer los.
Das Blatt erweckt den Anschein, als
sei es sicher, dass der Müll am Ende der
Reise schön ordentlich verarbeitet wird
und nicht etwa irgendwo im Straßengra-
ben verkokelt. Auf diesem Formular
nämlich muss der deutsche Exporteur
angeben, wie der verschiffte Müll am an-
deren Ende der Welt „verwertet“ wird.
Einfaches Wegwerfen ist ja nicht er-
laubt, und so gibt es Codes für alle Ver-
wertungsvarianten. R3 steht zum Bei-
spiel für Verwertung organischer Stof-
fe, R4 für Metalle, R5 für Verwertung
anorganischer Stoffe. Weiter unten im
Formular muss die „Verwertungsanla-
ge“ im Ankunftsland, also zum Beispiel
in Malaysia, dann den Empfang bestäti-
gen – mit Namen, Datum, Unterschrift
und gerne auch mit einem malaysischen
Stempelaufdruck.
Wenn der vorliegt, ist für deutsche
Behörden der Fall abgeschlossen. Der
exportierte Müll gilt als „verwertet“.
Was aber, wenn die Verwertungsanlage
auf Sumatra gar keine Verwertungsanla-
ge ist, sondern einfach nur eine faulig
riechende Wiese hinter dem Dorf?
Wenn die Unterschrift frei erfunden
und der Stempel aus einem Radiergum-
mi geschnitzt ist? Harald Junker vom
Umweltbundesamt in Dessau-Roßlau
meint: Da kann man nicht viel machen.
„Behördenmitarbeiter können ja nicht
ständig in fremde Länder reisen, um
dort Anlagen zu kontrollieren“, sagt er.
„Da haben wir keine Befugnis.“
Weil aber jeder weiß, dass es mit den
„Anlagen“ in Übersee oft nicht weit her
ist, klafft hier eine Gesetzeslücke von
der Größe eines Scheunentores. Statt
wirksam zu verhindern, dass westlicher
Plastikmüll am Ende auf einer illegalen
Deponie im Mekong-Delta landet, ver-
lässt sich Deutschland darauf, dass Emp-
fängerstaaten wie Malaysia oder Viet-
nam ihre Abfallentsorger wirksam über-
wachen. Und am Ende treibt deutscher
Müll dann über die Flüsse Südostasiens
in den Pazifik. Auf den Halden hinter
den Reisfeldern qualmen die Einwegbe-
cher aus den To-go-Cafés der Berliner
Friedrichstraße, bis die Menschen nicht
mehr atmen können, und in Europa
hat’s keiner gesehen.
Der Kunststoff aus Frankfurt oder
Berlin hat aber noch weitere Auswirkun-
gen. Der BUND und die Heinrich-
Böll-Stiftung haben kürzlich einen
„Plastikatlas“ veröffentlicht. Darin steht
zum Beispiel, wie der Latte-Macchiato-
Becher aus Berlin nach seiner Reise um
den Erdball am Ende zum Brandbe-
schleuniger der globalen Erwärmung
wird. Das geht so: Die weltweite Pro-
duktion von Kunststoff wächst seit Jahr-
zehnten exponentiell. Sowohl bei der
Produktion als auch bei der Verbren-
nung entweichen Treibhausgase in ge-
waltigen Mengen. Wenn dieses Wachs-
tum weitergeht wie bisher, könnte das
die Atmosphäre bis zum Jahr 2050 mit
56 Milliarden Tonnen Kohlendioxid
und anderen Klimagasen belasten. Das
allein schon wäre ein Zehntel der Men-
ge, welche die Menschheit insgesamt
noch produzieren darf, wenn die Tempe-
ratur auf dem Planeten nicht über die
Alarmmarke von zusätzlich 1,5 Grad stei-
gen soll. Plastik ist damit ein Klimakil-
ler, genau wie Kohle, Gas oder Kerosin.
Noch auf einem anderen Weg aber
berührt der Kunststoffrausch des Wes-
tens das globale Gleichgewicht. Die ge-
waltigen Strudel aus Plastikmüll, die
sich mittlerweile in den Ozeanen ange-
sammelt haben und die Fläche Deutsch-
lands um ein Vielfaches übertreffen,
stammen zu 95 Prozent aus zehn gro-
ßen Flüssen der Welt. Zwei von ihnen
liegen in Afrika, acht in Asien. Damit
kommen nach einer Schätzung des
Nabu sechzig Prozent des Plastikmülls
in den Meeren der Welt aus den Küsten-
staaten Südostasiens. Genau dorthin
aber schickt Deutschland seinen Müll.
So schließt sich der Kreis: In
Deutschland gehen wir mal schnell auf
einen Kaffee, und auf Borneo stirbt ein
Seevogel, weil sein Magen voll Plastik
ist. An den globalen Verteilerstationen
zwischen dem Café an der Friedrichstra-
ße und dem toten Vogel im Pazifik aber
liegen Länder wie Malaysia, die Philip-
pinen oder Indonesien. Während die
deutschen Müllexporteure brav ihre For-
mulare ausfüllen, trinken die Menschen
dort vergiftetes Wasser.

Foto AFP


In Berlin trinkt einer seinen Kaffee to go. In Malaysia kann ein anderer


nicht mehr atmen und wird krank. Da gibt es einen Zusammenhang.


Von Till Fähnders und Konrad Schuller


Unser Müll ist in Asien


nicht mehr willkommen

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