Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.08.2019

26 geld&mehr FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 4. AUGUST 2019, NR. 31

Vermisst:

die Inflation

M

ario Draghi hat in seiner

Zeit als Präsident der Eu-

ropäischen Zentralbank

(EZB) eine Fähigkeit per-

fektioniert: Der Italiener

hat ein Pokerface. Es ist für Außenstehen-

de schlechterdings unmöglich, ihm sei-

nen Gemütszustand anzusehen. Für ei-

nen Mann, der mit seinen Äußerungen

die Finanzmärkte in Bewegung bringen

kann, ist das viel wert.

Am Donnerstag vor einer Woche setz-

te Draghi wieder mal sein Pokerface auf.

Nach der Sitzung des EZB-Rats trug er

in gewohnter Gelassenheit vor, dass die

EZB sich vorstellen könne, die ohnehin

schon niedrigen Zinsen noch weiter zu

senken. Die Hoffnung auf höhere Zin-

sen, die manch ein Sparer womöglich

noch gehegt hatte, war damit zerronnen.

Aufhorchen ließ aber die Begründung,

die Draghi vortrug: Die gemessene und

die erwartete Inflation lägen deutlich un-

ter dem Ziel von knapp zwei Prozent,

sagte er. Draghi sprach es in diesem Mo-

ment nicht aus, aber der Italiener dürfte

so eine Entwicklung wohl kaum erwartet

haben, als er im Jahr 2006 zuerst in den

Dienst der italienischen Notenbank trat

und dann 2011 an die Spitze der EZB be-

rufen wurde.

Denn jahrzehntelang hatte die Arbeit

von Notenbankern anders ausgesehen.

Für stabile Preise sollten sie sorgen. Des-

halb wurde die Notenbank in vielen Län-

dern möglichst unabhängig von der Re-

gierung angelegt: Regierungen haben

nun mal ein Interesse daran, zugunsten

geringer Arbeitslosigkeit mit viel Geld

die Wirtschaft zu überhitzen. Dann aber

droht hohe Inflation. Also muss es eine

unabhängige Organisation geben, die

über das Geld wacht und dafür sorgt,

dass die Inflation nicht zu hoch wird.

Der Kampf gegen die Inflation gehört

zu den wichtigsten Aufgaben der Noten-

banker, alle großen Notenbanken haben

Preisstabilität als gesetzlich festgelegtes

Ziel – doch tatsächlich kämpfen sie seit

Jahren nicht mehr gegen die Inflation.

Die Preisstabilität zu sichern, das heißt

für viele Notenbanken auf der Welt in-

zwischen: Sie kämpfen darum, dass die

Preise überhaupt noch in nennenswer-

tem Maß steigen.

Denn die Preise wollen sich seit Jah-

ren kaum noch nach oben bewegen. Bei-

spiel Nudeln: Für die 500-Gramm-Pa-

ckung Spaghetti wies die Stiftung Waren-

test vor vier Jahren einen Preis von

1,59 Euro aus. Diesen Betrag verlangt

Edeka heute noch. Beispiel Duschgel:

Da kostete eines im Oktober 2012 im Son-

derangebot von Rewe 79 Cent pro Fla-

sche, heute gibt es die gleiche Marke

ebenfalls im Sonderangebot für 77 Cent.

Kindermöbel, Flugtickets und weinhalti-

ge Getränke – das sind nur einige der vie-

len Produkte, für die das Statistische

Bundesamt in den vergangenen Jahren

keine Preissteigerung gemessen hat. Über

Lange kämpften die Notenbanken gegen zu hohe Inflation.

Nun ist sie zu niedrig. Das bringt alles durcheinander.

Von Patrick Bernau und Dennis Kremer

Die Skyline von Frankfurt mit den Bankentürmen(linke Seite)und der Europäischen Zentralbank(rechte Seite)

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