Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.08.2019

(Rick Simeone) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 4. AUGUST 2019, NR. 31 politik 3


W


ie immer warten Men-
schen am Frankfurter
Hauptbahnhof auf ihre
Züge, aber diese Woche ist
etwas anders als sonst: Die Reisenden ste-
hen in der Mitte des Bahnsteigs, weit
weg von der Kante. Blumen und Kerzen
an Gleis sieben erinnern daran, dass dort
am Montag ein offenbar psychisch kran-
ker Mann eine Mutterund ihr Kind vor
den einfahrenden Zug gestoßen hat. Die
Mutter konnte sich gerade noch rechtzei-
tig zur Seite rollen und retten, ihr acht
Jahre alter Sohn ist tot.
Wie immer, wenn Schreckliches pas-
siert, fragt man sich: Hätte das verhin-
dert werden können? Durch eine andere
Flüchtlingspolitik in Berlin, wie die AfD
sogleich geiferte, sicherlich nicht. Denn
der eritreische Mann bat in der Schweiz
um Asyl, nicht in Deutschland, und das
schon lange bevor das Wort von der
Flüchtlingskrise die Runde machte.
Aber vielleicht durch eine andere Si-
cherheitspolitik? Der Bundesinnenmi-
nister hat sofort von Konsequenzen ge-
sprochen. Er werde über „technische
Verbesserungen zur Sicherheit an den
Bahnsteigen“ nachdenken, sagte Horst
Seehofer bei einer Pressekonferenz am
Dienstag. Das hatte die Bahn allerdings
schon für Unfug erklärt: ein Ding der
Unmöglichkeit, würde Millionen kos-
ten. Es ist die übliche Art der Bahn, auf
Unfälle zu reagieren. Als ein vierzehn
Jahre alter Junge im bayerischen Schro-
benhausen auf einem Bahnübergang
ums Leben kam, sagte eine Bahnspre-
cherin: „Ein Zaun, der mitunter gefor-
dert wird, müsste bei der Länge des
Schienennetzes zweimal um den Äqua-
tor reichen.“ Als wäre es lächerlich,
nach Sicherheit auch nur zu fragen.
Seehofers Unmut über solche Denk-
verbote war bei der Pressekonferenz
deutlich zu spüren. „Wenn es um Men-
schenleben geht, gefällt mir das Argu-
ment mit dem Geld überhaupt nicht.“
Eine Diskussion führe zu nichts, „wenn
jeder am Anfang nur definiert, was aus
seiner Sicht nicht in Frage kommt. Das


liebe ich in der Politik überhaupt nicht.“
Und noch mal: „Was ich überhaupt
nicht akzeptiere, ist: Das kostet Millio-
nen, und deshalb machen wir’s nicht.
Das ist kein Argument.“
Das klang, als würde jetzt etwas pas-
sieren, als müsste die Deutsche Bahn
sich auf etwas gefasst machen. Seehofer
will mit Verkehrsminister Andreas
Scheuer und der Bahn-Spitze beraten,
was getan werden kann. Und zwar, da-
mit keine Missverständnisse über die
Machtverhältnisse aufkommen, „unter
Verantwortung der Minister und Beizie-
hung der Bahn“.
Erst eine Woche vor dem Frankfurter
Fall hatte ein Mann im niederrheini-
schen Voerde eine Mutter vor den Zug
und in den Tod geschubst. Wie viele
Menschen jährlich insgesamt auf Schie-
nen verunglücken, rechnet die Bundes-
polizei gerade aus. Ein Sprecher sagt,
das sei schwer zu zählen, da viele Selbst-
mörder darunter seien. Aber auch Kin-
der, die leichtsinnig auf Gleisen spielen.
Wie viele Menschen geschubst werden,
könne man gleich gar nicht sagen. Aber
auch eine Zahl aller Unfälle auf Gleisen
oder Gleisübertretungen möchte er lie-
ber nicht nennen.
In den Regionalzeitungen der vergan-
genen Jahre lassen sich viele Fälle nach-
lesen. Tragische Unfälle und spontane
Gewaltattacken. Jugendliche rangeln im
Suff. Obdachlose streiten um eine Jäger-
meisterflasche. Eheleute zanken sich bis
aufs Blut. Und dann schubst einer den
andern plötzlich vor den Zug. In Wup-
pertal rammte ein Mann seine Frau ins
Gleisbett, in Hamburg eine Frau ihren
Lebensgefährten. In Berlin wurde ein
Obdachloser erst ausgeraubt, dann in
den U-Bahn-Schacht gestoßen. In Pforz-
heim verweigerte ein gerade Volljähri-
ger einem Schläger die Zigarette und
landete mit brutaler Wucht im Schienen-
graben. In Berlin floh ein Schwarzfahrer
und stieß einen Fremden vor die
U-Bahn. In Hamburg rempelte eine jun-
ge Frau in Eile einen Wartenden an, der
stieß sie vor den Zug. In all diesen Fäl-

len überlebten die Opfer, manche
schwerverletzt. Einige konnten sich gera-
de noch retten oder verdanken ihr Le-
ben mutigen Helfern.
Doch immer wieder ist alles zu spät.
In Nürnberg stießen zwei Jugendliche
drei andere im Streit auf die Schienen,
von denen nur einer dem Zug entkam,
die andern kamen ums Leben. In Mün-
chen, Berlin und Stuttgart stießen psy-
chisch Kranke Fremde vor einfahrende
Züge. Die Opfer waren sofort tot.
Psychopathen, Säufer und Schläger
wird es immer geben, aber werden unse-
re Bahnhöfe bleiben, wie sie sind? Könn-
te man es den Gewalttätern nicht schwe-
rer machen?
Man kann den Ruf nach mehr Sicher-
heit billig finden. Kann sagen: Mörder
finden immer Wege. Hundertprozenti-
ge Sicherheit gibt es nicht. Man kann
auch an der Verhältnismäßigkeit zwei-
feln. Kann fragen: Sollen wir Millionen
für Maßnahmen ausgeben, obwohl die
statistische Wahrscheinlichkeit gering
ist, in den Tod geschubst zu werden?
Aber man kann auch schauen, wie ande-
re Länder das machen. Länder, die beim
öffentlichen Verkehr weiter sind als
Deutschland.
Viele Bahnhöfe in Asien sehen aus
wie die Zukunft. In Peking, Schanghai,
Hongkong, Tokio, Seoul, Bangkok, Tai-
peh, Singapur und auch in kleineren
Städten gibt es Türen zwischen Zug
und Bahnsteig. Erst wenn ein Zug einge-
fahren ist, öffnen sie sich. Das können
Glaswände bis zur Decke sein oder halb-
hohe Tore. Auf die Schienen zu fallen
ist hier unmöglich. Ein Vorteil der Wän-
de ist außerdem, dass es beim Warten
leiser und windstiller ist. In heißen Län-
dern können die Stationen klimatisiert
werden.
Die Bahn sagt, das sei nicht auf das
deutsche Schienennetz übertragbar. Un-
sere Bahnhöfe sind schließlich alt und
eng, viele davon sind Sackbahnhöfe.
Dass sich Glastüren auf den Millimeter
genau vor den Zugtüren öffnen, geht
laut Deutscher Bahn nur bei fahrerlosen

automatisieren Bahnen. Bei uns, wo je-
der Regionalzug und jeder ICE die Tü-
ren an einer anderen Stelle hat, könne
man das vergessen.
Tatsächlich sind viele der asiatischen
Zukunftsbahnhöfe neu, und man konnte
die Glastüren von Anfang an einplanen.
Aber in China und Japan etwa wurden
auch sämtliche alten Stationen umge-
baut. Und obwohl chinesische und japa-
nische Schnellzüge ebenso unterschied-
lich sind wie bei uns, gibt es dort auch
an einigen Fernbahnhöfen Barrieren auf
dem Bahnsteig. In der chinesischen Futi-
an-Station beispielsweise sind die Glastü-
ren so gebaut, dass dahinter noch genug
Platz ist, um auch zur schräg gegenüber-
liegenden Zugtür zu gelangen.
In Singapur sind schon seit 1987 aus-
nahmslos alle Metrostationen mit
Schutzwänden ausgestattet. Die allerers-
te Metrostation mit Bahnsteigtüren welt-
weit wurde sogar schon 1961 eröffnet, in
St. Petersburg. Dort sind die Wände
nicht gläsern, sondern aus schwerem
Stein. Die Stahltüren dazwischen öffnen
sich gemeinsam mit den Metrotüren wie
bei Aufzügen. Aber auch in unserer un-
mittelbaren Nachbarschaft sind die Tü-
ren längst angekommen. Im französi-
schen Lille gab es schon 1983 automati-
sierte U-Bahn-Linien mit Schutzwän-
den für die Wartenden. Auch in Paris,
London, Rom, Turin, Mailand, Barcelo-
na, Sevilla und Stockholm gibt es sie an
vielen Metrostationen. In Kopenhagen
sogar an allen.
In den alten Eisenbahnhöfen aus dem


  1. Jahrhundert ist das mit den Glastü-
    ren tatsächlich schwierig. Für andere Si-
    cherheitsvorkehrungen gilt das aber
    nicht. Denn auch da sieht es in anderen
    Ländern besser aus. In Russland und
    China wird das Gepäck durchleuchtet
    wie am Flughafen. In Großbritannien,
    Spanien, Italien und Holland kann man
    den Bahnsteig meist nur mit Ticket be-
    treten. Auch an den Pariser Kopfbahnhö-
    fen müssen Passagiere ihre Tickets vor-
    zeigen, um durch Schranken zum Gleis
    zu kommen. Das hält Mörder natürlich


nicht ab. Aber die Hemmschwelle dürf-
te höher sein. Sich spontan ins Getüm-
mel begeben, um Ärger zu suchen, geht
eher nicht. Außerdem gibt es an vielen
Bahnhöfen Aufenthaltsräume mit Bän-
ken und Stühlen. Oft betreten die Fahr-
gäste erst dann den Bahnsteig, wenn der
Zug schon steht. Das dauert länger, ist
aber sicherer. An manchen Bahnhöfen
gibt es solche schützenden Aufenthalts-
häuschen auch direkt am Gleis.
In Deutschland gab es auch mal Bahn-
steigkarten. Und offenbar hat das gut
funktioniert, jedenfalls soll Lenin einst
gesagt haben: „Wenn diese Deutschen ei-
nen Bahnhof stürmen wollen, kaufen
die sich erst eine Bahnsteigkarte!“ 1965
hat die Bahn die Karten aber abge-
schafft, „um unseren Fahrgästen entge-
genzukommen“ und Staus zu vermei-
den. Wohl war ihr nicht dabei. Aller-
dings nicht wegen der Sicherheit, son-
dern weil sie fürchtete, dass „ohne Risi-
koschwelle“ die Schwarzfahrerei über-
handnähme.
Dort, wo Züge mit mehr als zweihun-
dert Stundenkilometern durch Bahnhö-
fe durchfahren, sind Sicherheitsbarrie-
ren auch in der deutschen Eisenbahn-
Bau- und Betriebsordnung festgeschrie-
ben. Also zum Beispiel zwischen Berlin
und Hamburg. Dort gibt es am Bahnhof
Paulinenaue im Havelland Geländer mit
Warnschildern am Bahnsteig: „Zutritt
erst, wenn Zug hält!“ Die halbhohen
Gitter sind so aufgestellt, dass man
durch die Lücken zum Zug kommt,
ohne dass sich dafür ein Tor öffnen
muss. Vor Schubsern bieten solche Git-
ter und auch der größere Abstand zur
Bahnsteigkante Schutz.
Es gibt also viele Möglichkeiten. War-
um aber auch bei völlig neuen Bahnhö-
fen wie dem Berliner Hauptbahnhof
nicht neu gedacht wurde, beantwortet
die Deutsche Bahn nicht. Man wolle
den Gesprächen mit Innenminister See-
hofer nicht vorgreifen, sagt eine Spre-
cherin. Auch konkrete Fragen, die ei-
gentlich leicht zu beantworten sein müss-
ten, lässt sie offen. Welche Sicherheits-

vorkehrungen es schon gibt? Ob Bahn-
steige grundsätzlich mit Nothalteschal-
tern ausgestattet sind? Ob es überall
Schutzräume zwischen den Gleisen gibt,
auf die man sich im Notfall rollen kann


  • wie die Mutter des überfahrenen Jun-
    gen aus Frankfurt?
    Es gibt aber Städte in Deutschland,
    die mit gutem Beispiel vorangehen. In
    Hamburg wird gerade die Strecke der
    neuen U5 gebaut, an deren Stationen es
    Bahnsteigtüren geben soll. An großen
    Flughäfen gibt es zwischen den Termi-
    nals automatische Züge mit Glastüren.
    In München werden Bahnsteigtüren
    künftig in einem Pilotprojekt im
    U-Bahnhof Olympiazentrum getestet.
    Am Freitag stellte die Münchner Ver-
    kehrsgesellschaft eine Studie vor, die er-
    gab, dass Bahnsteigtüren grundsätzlich
    nachgerüstet werden können. Die Aus-
    stattung des kompletten U-Bahn-Sys-
    tems würde allerdings Jahre dauern und
    Millionen kosten. Mittelfristig erwägt
    die MVG aber Bahnsteigtüren an „zu-
    mindest hoch frequentierten Stationen“.
    In Nürnberg schließlich fahren schon
    seit zehn Jahren zwei von drei U-Bahn-
    Linien ohne Fahrer und vollautomati-
    siert. Dort gibt es zwar keine Glastüren,
    aber dafür ein technisches Sicherungs-
    system. Hochfrequenz-Transponder-
    Strahlen bilden ein Gitternetz, das über
    dem Bahnsteiggleis liegt. Fallen größere
    Gegenstände oder gar Menschen ins
    Gleis, wird der anfahrende Zug automa-
    tisch gestoppt. Das funktioniert mittler-
    weile sehr gut, auch wenn es am Anfang
    noch Probleme gab. In der Testzeit ha-
    ben immer wieder Tauben den Alarm
    ausgelöst und Züge zum Stehen ge-
    bracht. Inzwischen kann das System die
    Tiere aber erkennen. Zuletzt kam es im
    Mai rettend zum Einsatz, als ein Blinder
    in die haltende Bahn einsteigen wollte,
    aber eine Tür ins Leere nahm und aufs
    Gleis stürzte. Der Zug wurde sofort an
    der Abfahrt gehindert. Noch bevor ein
    Mitarbeiter bei dem Blinden war, hatten
    ihn andere Fahrgäste aus dem Gleis ge-
    zogen. Er war unversehrt.


D


ie Stintenburg ist eine kleine In-
sel im Schaalsee, gelegen genau
auf der Grenze zwischen Schles-
wig-Holstein und Mecklenburg-Vorpom-
mern. Ein idyllischer Flecken, viel Wald,
Felder und Wasser. Dass ausgerechnet
hier die DDR-Staatssicherheit ganz im
Geheimen eine Schule für sogenannte
Grenzaufklärer unterhielt, wurde erst
jetzt durch eine Forschungsarbeit be-
kannt. Grenzaufklärer waren eine Art Eli-
tetruppe bei den DDR-Grenztruppen.
Von der wusste man zwar schon länger,
nicht aber vom umfassenden Einfluss
der Staatssicherheit.
Früher gehörte die Stintenburg zum
Herzogtum Lauenburg. Durch eine Brü-
cke ist sie aber mit dem Ostufer des Sees
verbunden, mit Mecklenburg. Drei Jahr-
hunderte lang gehörte die Insel zum Be-
sitz der Familie von Bernstorff. Die be-
trieb hier Landwirtschaft und Fischerei.
Einer ihrer berühmtesten Gäste war der
Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock,
dessen Ode „Stintenburg“ die Idylle be-
singt: „Insel der froheren Einsamkeit,/
Geliebte Gespielin des Wiederhalls/
Und des Sees, welcher jetzt breit, dann,
versteckt/ Wie ein Strom, rauscht an des


Walds Hügeln umher.“ Albrecht Graf
von Bernstorff, ein namhafter Diplomat,
stand im Widerstand gegen Hitler. Im
April 1945 erschoss ihn die Gestapo in
Berlin. Die Stintenburg wurde bei
Kriegsende zunächst von den Amerika-
nern besetzt, dann von den Briten. Nach
einer Grenzbegradigung lag sie schließ-
lich in der sowjetisch besetzten Zone.
Wer hier noch lebte, floh über den See
in den Westen oder wurde im Osten um-
gesiedelt. Nur wenige Menschen konnten
und wollten bleiben. 1952 übernahmen
die DDR-Grenztruppen das Herrenhaus
und die umliegenden Bauten. Je perfekter

die innerdeutsche Grenze ausgebaut wur-
de, desto wichtiger wurde auch die Stin-
tenburg. Seit Anfang der siebziger Jahre
war sie die Zentralschule für Grenzaufklä-
rer. Die Geheimhaltung war so groß,
dass die Einheimischen bis zum Ende der
DDR nichts davon ahnten, ja nicht ein-
mal allen Soldaten, die hier ausgebildet
wurden, ganz klar blieb, dass die Staatssi-
cherheit der Hausherr war. Auch im Wes-
ten war von alledem nichts bekannt.
In jeder Grenzkompanie entlang der
1400 Kilometer langen innerdeutschen
Grenze gab es mehrere solcher Grenzauf-
klärer, alle Berufsunteroffiziere. Sie wa-

ren besonders ausgerüstet, hatten eine
Doppelbewaffnung aus Maschinenpisto-
le und Pistole, einen Diensthund, ein
Motorrad, eine kleine Harke, um ihre
Spuren zu verwischen, oft auch spezielle
Fototechnik. Sie waren allein unterwegs


  • anders als die üblichen Grenzposten
    aus Wehrdienstleistenden. Sie streiften
    im Grenzgebiet umher, auch unmittelbar
    an der eigentlichen Grenzlinie, also vor
    den Sperranlagen, „feindwärts“, wie das
    genannt wurde. Sie prüften etwa die
    Grenzsteine und meldeten Beschädigun-
    gen. Ihre Aufgabe war es außerdem, den
    Kontakt zu den zivilen „Grenzhelfern“
    zu halten. Die waren in „Grenzaktivs“ or-
    ganisiert, alles Einheimische, die ebenso
    wachsam sein sollten wie die Uniformier-
    ten an der Grenze selbst und jede ver-
    dächtige Bewegung zu melden hatten.
    Grenzaufklärer waren auch sonst häufi-
    ger in den Grenzortschaften unterwegs.
    Eine nur angelehnte Stalltür, eine Leiter,
    die irgendwo herumstand, Werkzeug,
    das herumlag, Baufahrzeuge, die nicht
    abgeschlossen waren – all das konnte den
    Einheimischen schon Ärger bereiten, bot
    es doch „Grenzverletzern“ womöglich
    eine Hilfe. Die Aufklärer durften auch


beliebig Menschen im Grenzgebiet kon-
trollieren, denn dort brauchte jeder spe-
zielle Stempel im Ausweis oder Passier-
scheine. Und schließlich beobachteten
sie den „Feind“ auf der Westseite, etwa
den Bundesgrenzschutz. Sie kontrollier-
ten auch die einfachen Posten im Grenz-
dienst, „Anscheißen“ wurde das genannt.
Vor allem aber kamen sie zum Ein-
satz, wenn es eine „Grenzverletzung“
gab, wenn jemand versuchte, die Grenze
zu überwinden. Michael Gartenschläger
wurde von Grenzaufklärern aus der Hin-
terhalt erschossen, als er versuchte, von
der Westseite her sogenannte Selbst-
schussanlagen, mörderische Waffen di-
rekt am Grenzzaun angebracht, abzu-
montieren. Grenzaufklärer waren beson-
ders ausgesucht. Sie selbst nannten ihre
Überprüfungen auf politische Zuverläs-
sigkeit mitunter scherzhaft eine „3B-Be-
stätigung“, was meinte: „Bestätigt bis
Bonn“. Noch heute geistert im Internet
ein Lehrfilm für die Truppe von 1986
herum, ein Schwarzweißstreifen, der in
aller Offenheit die Perfidie des Grenzre-
gimes zeigt. Etwa, wie „Grenzverletzer“
mit vorgehaltener Pistole überwältigt
wurden oder wie harmlose Pilzsammler,

die sich auf DDR-Gebiet verirrten, von
Schwerbewaffneten gejagt wurden.
In Stintenburg dürften etwa tausend
Grenzaufklärer ausgebildet worden sein.
Insgesamt soll es 1500 von ihnen gegeben
haben. Schon vor dem DDR-Ende war
die Schule verlegt worden. Es gab Pläne,
aus dem Gelände ein Ferienobjekt für die
Grenztruppen zu machen. Darüber ging
die Zeit hinweg. 1993 bekamen die Berns-
torffs Gut und Herrenhaus zurück. Seit-
dem wohnt ein Teil der Familie dort und
betreibt ein Restaurant im alten Forst-
haus. Auf dem Gelände zwischen Herren-
haus und Seeufer stellte die Familie einen
Gedenkstein für Albrecht Graf von Berns-
torff auf. Die Stintenburg liegt heute mit-
ten im Biosphärenreservat Schaalsee und
ist ein beliebtes Ausflugsgebiet. An die
Grenzaufklärer erinnert so gut wie nichts
mehr, nur ein paar Reste von DDR-Tape-
ten und alte Nummern an einigen Zim-
mertüren. Der Schweriner Autor Wolf
Karge hat jetzt die bislang unbekannt ge-
wesene DDR-Geschichte aufgeschrieben.
Das Heft „Stintenburg“ erschien in der
Schriftenreihe der Landesbeauftragten
von Mecklenburg-Vorpommern für die
Aufarbeitung der SED-Diktatur. F.P.

Als die DDR-Staatssicherheit mitten im idyllischen
Schaalsee eine Elitetruppe ausbildete

Vor den Zug


gestoßen


Illustration F.A.S.


Geheimsache


Stintenburg


Immer wieder sterben Menschen auf


Gleisen. Dagegen ließe sich was machen.


Von Livia Gerster

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