Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.08.2019

(Rick Simeone) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 4. AUGUST 2019, NR. 31 feuilleton 35


D


ass dieses Buch, das auf knapp
zweihundert Seiten ein Leben
erzählt, ein Roman sei, wie
das der Umschlag behauptet:
Das möchte man, wenn man zu lesen be-
ginnt und, weil der Text so gut geschrie-
ben ist, gar nicht damit aufhören will,
aber trotzdem nicht glauben. Denn die
Person, aus deren Sicht das Buch ge-
schrieben ist, das Ich, das da spricht,
wird anscheinend von allen „Ursi“ ge-
nannt, ist in der fränkischen Kleinstadt
Herzogenaurach aufgewachsen, lebt in
Berlin, schreibt Literaturkritiken, tritt
im Fernsehen auf, war lange in der Jury
des Bachmann-Preises – und ist deshalb
von der Autorin dieses Buchs, der Litera-
turkritikerin Ursula März, kaum zu un-
terscheiden. Und vom Verlag bekommt
man, als mögliche Illustration für eine
Kritik, jederzeit ein Foto geschickt, das
die wirkliche Ursula März zeigt, zusam-
men mit der wirklichen Tante, die dem
Buch den Titel gibt.
Andererseits spielt zum Schluss hin
die Fernsehshow „Gold oder Glitter“
eine gewisse Rolle; die hat es aber nie ge-
geben – und wenn man einigermaßen
aufmerksam liest, entdeckt man immer
wieder Details, die von dem, was man zu
wissen meint, leicht abzuweichen schei-
nen. Vor allem wird einem dabei aber
ziemlich schnell bewusst, dass es nicht
Erfindungen sind, die diesen Roman

zum Roman machen – ja, dass bei die-
sem Buch die Romanhaftigkeit geradezu
davon abhängt, wie wenig Ursula März
zu erfinden brauchte. Es sind die Wider-
sprüche und die Plötzlichkeiten, die uner-
forschten Motive und die unbegründba-
ren Taten, die diesen Text zum Roman
machen. Und die die Form des Essays
überfordert hätten.
Denn die Möglichkeit des Essays
scheint in fast jedem Winkelzug der Ge-
schichte auf. Und darf beim Lesen gern
mitbedacht werden. Es geht, wenn Ursu-
la März die Geschichte der Tante Martl
erzählt, im Kern darum, wer oder was
eine Person zur Frau macht, oder eben
nicht. Und wie sich diese Person dage-
gen behauptet. Oder eben nicht.
Es ist die Geschichte von Martina,
die als dritte Tochter eines Vaters gebo-
ren wird, der nichts lieber als einen Jun-
gen haben wollte. Weshalb er es zulässt,
dass das Kind als ein Martin ins Gebur-
tenregister eingetragen wird; es braucht
eine Woche, bis er bereit ist, den Fehler
zu korrigieren. Vor dem Gesetz ist
Martl, wie sie genannt wird, fortan weib-
lich. Vor dem Vater ist sie ein Unglück,
ein Fehler, das Scheitern seiner patriar-
chalischen Ambitionen. Er schlägt sie,
kommandiert sie herum, lässt sich von
ihr bedienen. Zur Strafe dafür, dass sie
kein Junge geworden ist, wird ihr nicht
gestattet, ein Mädchen zu sein und spä-

ter eine Frau, so verschließt sich Martl
der Welt.
Was besonders deutlich sichtbar wird,
wenn Martl neben Rosemarie steht, ihrer
älteren Schwester, der Mutter der Erzäh-
lerin, einer Frau, die ihr eigentlich sehr
ähnlich sieht. Und die doch charmant
und eloquent ist, der Welt und den Män-
nern zugewandt, von allen gemocht und
geliebt. Und allseits als Schönheit gefei-
ert.
Das Buch beginnt mit Martls Geburt,
es endet mit ihrer Beerdigung – was kein
Zeichen für konventionelles oder konser-
vatives Erzählen ist. Eher zeugt es vom
Respekt der Autorin vor ihrem Gegen-
stand. Eine selbstbewusstere Form, eine
eigenwilligere Struktur wäre Ursula
März womöglich wichtigtuerisch erschie-
nen: so, als ginge es um sie und nicht um
jene Tante Martl.
Der Eigensinn der Autorin offenbart
sich eher in dem, was sie sich versagt: We-
der lädt sie, wie das sonst so oft die Famili-
enromane tun, Blutsverwandtschaft mit
biblischer Schicksalhaftigkeit auf. Noch
bricht sie die große Geschichte auf die
privaten Dramen herunter. Sie erzählt
vor allem von dieser einen Frau. Sie er-
zählt, wo es nötig ist, von jener anderen
Frau, die die Schwester der Heldin und
die Mutter der Erzählerin ist. Und die
dritte Frau ist die Erzählerin, die nach-
fragt, Erinnerungen sammelt und das al-
les in eine Ordnung und Struktur bringt,

in der Männer allenfalls eine Nebenrolle
spielen. Nicht einmal Martls Vater, des-
sen Fehler die ganze Geschichte doch
erst angestoßen hat, bekommt dafür die
Rolle des großen Schurken gegönnt. Es
ist, gewissermaßen, ein matrilineares Er-
zählen; die Geschichten und Erfahrun-
gen werden von den Frauen an die Frau-
en vererbt.
Die Geschichte von Martl fängt damit
an, dass sie zu etwas gemacht wird, einer
quasi geschlechtslosen Dienerin, einem
scheuen, unauffälligen Wesen. Und sie
läuft darauf hinaus, dass Martl das, was
aus ihr gemacht worden ist, als Chance
begreift und sich Freiheiten nimmt, die
sich weiblichere Frauen niemals gestat-
ten würden.
Die Geschichte von Rosemarie fängt
damit an, dass sie mit sich selbst absolut
einverstanden ist. Und sie läuft darauf hin-
aus, dass aus der schönen, klugen und be-
gehrten Frau eine alternde Prinzessin
wird, eine Frau, der man eine akademi-
sche Karriere nicht gestattet hat. Und die
dann ihre Tage im Bett vergeudet.
Und die Geschichte von Ursi, der Er-
zählerin, spielt insofern eine Rolle, als sie,
einerseits, ganz andere Probleme und,
vor allem, eine ganz andere Freiheit hat.
Und der doch, indem sie die Erzählun-
gen und Erinnerungen sortiert und auf-
schreibt und reflektiert, bewusst wird,
wie problematisch und fragil noch immer
diese Verbindung ist, frei und Frau sein
zugleich.

Natürlich ist dieses Buch ein Beitrag
zu jenem Selbstgespräch der Gesell-
schaft, in dem es umsexundgender, um
biologisches und soziales Geschlecht geht
und um die Frage, ob wir das, was aus uns
gemacht wird, wirklich als Schicksal erlei-
den müssen. Und natürlich kann man die-
ses Buch, das überhaupt nicht traurig ist,
sondern geschrieben im Ton einer heite-
ren Nüchternheit, trotzdem auch als Kla-
ge darüber lesen, dass eine Frau, in den
zwanziger Jahren hineingeboren in die
deutsche Provinz, sich ein selbstbestimm-
tes Leben nur um den Preis der Einsam-
keit, Ehelosigkeit, des Verzichts auf die ei-
gene Weiblichkeit leisten kann. Und na-
türlich wäre das auch ein interessanter Es-
say geworden, mit Martl und Rosemarie
als Fallbeispielen. Und Ursi als Stimme,
die abwägt, wertet, historisiert, am
Schluss ein Fazit formuliert.
Nur sind eben Martl und Rosemarie
als Romanfiguren noch interessanter; und
der Umstand, dass sie sich nicht bloß an
den Fäden einer Argumentation durch
den Text bewegen, sondern rätselhafte,
unverständliche, unbegründete Dinge sa-
gen und tun, ist eigentlich das stärkste Ar-
gument dieses Buchs, in dem es nicht nur
um die Freiheit seiner Figuren, sondern
auch um die des Lesers geht.
CLAUDIUS SEIDL
Ursula März: „Tante Martl“. Piper-Verlag, 192 Seiten, 20
Euro

Absperrung vor dem Haus, in dem der Täter verdächtigt wird, Laëtitia Perrais im Januar 2011 umgebracht zu haben. Teile ihres Körpers werden erst Monate später in der Nähe gefunden. Foto AFP


Weiblich, vor dem Gesetz


W


enn ein Historiker ein
Buch schreibt, das sich liest
wie ein Roman, und der Ver-
lag dieses Buch auch genauso
bewirbt: „packend wie ein Krimi, einfühl-
sam wie ein Roman, fundiert wie eine so-
ziologische Studie“, dann könnte man
dies für eine gute Nachricht halten.
Denn nicht selten ist das ja das Problem
mit historischen Büchern: dass sie trotz
des Wissens und der Analysen, die sie ent-
halten, unzugänglich bleiben, in der Spra-
che sperrig, dass sie mühsam zu lesen
sind. Ivan Jablonka, Professor für Ge-
schichtswissenschaft in Paris, will das än-
dern. Wann, fragt er, werden endlich
Schreibschulen für Historiker und Sozio-
logen eröffnet? Und wann begreifen auch
Historiker ihre Arbeit als eine „Writing
Culture“, wie es in den achtziger Jahren
des zwanzigsten Jahrhunderts James Clif-
ford und George Marcus für die Ethnolo-
gie forderten, weil der beschreibende For-
scher mit seiner Beschreibung nicht nur
über seinen Forschungsgegenstand be-
richtet, sondern allein durch seinen Blick
und die Auswahl, die er trifft, immer
auch über sich selbst?
Jablonka, heute 45 Jahre alt, hielt
schon vor zwei Jahren an der Freien Uni-
versität in Berlin einen Vortrag, in dem
er die Thesen seines Manifests „L’Histoi-
re est une littérature contemporaine“,
„Geschichte ist zeitgenössische Litera-
tur“ präsentierte. Könnte es sein, dass
die „Krise der Geisteswissenschaften“
von der Aushöhlung ihrer eigenen Me-
thoden und Formate herrührt, fragt er
darin. Und fordert, dass im Sinne einer
Erneuerung umfassend über neuartige li-
terarische, publizistische und mediale
Formen und Formate nachgedacht wer-
den müsse, die zu einem besseren Ver-
ständnis unserer Gesellschaften beitra-
gen könnten. Historische Forschung sei
auch Ermittlung, sie könne durchaus Ele-
mente der Reportage enthalten, zwi-
schen Vergangenheit und Gegenwart hin
und herwechseln und den Gebrauch der
ersten Person Singular, des „Ich“, erfor-
dern. Deshalb sei sie auch mit dem litera-
rischen Schreiben verwandt, was nicht
heiße, dass sie mit Literatur, also „Fikti-
on“, identisch sei. Doch gelte es, die his-
torische Erzählung und die literarische
Methode miteinander zu „versöhnen“.
Der Sozialhistoriker hatte zu diesem
Zeitpunkt bereits ein viel beachtetes Buch
über seine Großeltern Matès und Idesa Ja-
blonka geschrieben, „Histoire des
grands-parents que je n’ai pas eus“, „Ge-
schichte der Großeltern, die ich nicht hat-
te“, deren Leben er von Polen über das
Exil in Frankreich unter dem Vichy-Re-
gime bis zu ihrem Tod in Auschwitz er-
zählte. Und er hatte mehrere Preise für
„Laëtitia ou la fin des hommes“ erhalten,
ein Buch über das Leben und den Tod
der 18-jährigen Kellnerin Laëtitia Perrais,
die im Januar 2011 in Pornic, im Départe-
ment Loire-Atlantique, entführt und spä-
ter brutal ermordet aufgefunden wurde.
Einer dieser Preise war der „Prix littérai-
re“ der Zeitung „Le Monde“. Ein Preis,
über den er sich ganz besonders freute:
Dieser Preis trage dazu bei, zu zeigen,
sagte er in einem Interview mit „Le Mon-
de“, „dass Geschichte zur zeitgenössi-
schen Literatur gehört. Die Texte der So-
zialwissenschaften bilden nicht nur eine
eigene Literatur, sondern auch eine neue
literarische Form.“
„Laëtitia“ erscheint nun, drei Jahre
nach dem Original, im Verlag Matthes
& Seitz auch auf Deutsch, mit dem etwas
seltsam klingenden Zusatz „Laëtitia oder
das Ende der Mannheit“. Warum nicht
„Laëtitia oder das Ende der Männer“?
Und tatsächlich verspricht der Verlag

mit der Ankündigung, dass das Buch sich
„packend wie ein Krimi, einfühlsam wie
ein Roman, fundiert wie eine soziologi-
sche Studie“ lese, nicht zu viel. All das
trifft zu. Nur ist das auch das Problem.
Der Fall Laëtitia Perrais ist nicht bloß
ein Fall, schreibt Jablonka zu Beginn sei-
nes Buchs, er ist eine „Staatsaffäre“ und
in jeder Hinsicht außergewöhnlich –
durch sein Echo in den Medien und der
Politik, durch das Aufgebot an Mitteln,
um die Leiche zu finden, durch die zwölf
Wochen andauernden Ermittlungen,
durch den Eingriff des Präsidenten und
den Streik der Richter. Das Mädchen hat-
te ein unauffälliges Leben in einer Pflege-
familie geführt, in der man sie zusam-
men mit ihrer Zwillingsschwester unter-
gebracht hatte. Der Mörder wurde zwei
Tage später verhaftet, doch dauerte es
mehrere Wochen, bis man die Leiche
fand. Der französische Präsident Nicolas
Sarkozy kritisierte den Strafvollzug im
Fall des Mörders und beschuldigte die
Richter diverser „Fehler“, auf die er
„Strafen“ folgen zu lassen versprach. Er
löste damit einen Streik der Richter aus.
Im August 2011 wurde – ein Fall im Fall –
ein Ermittlungsverfahren gegen den Pfle-
gevater wegen sexueller Übergriffe auf
Laëtitia Perrais’ Zwillingsschwester ein-
geleitet. Bis heute weiß man nicht, ob
auch Laëtitia Opfer einer Vergewalti-
gung durch ihren Pflegevater oder ihren
Mörder wurde.
Ivan Jablonka begibt sich auf die Spur
der Biographie von Laëtitia Perrais. Er
trifft Freunde und Angehörige, inter-
viewt die Protagonisten aus Ermittlung,
Politik und Sozialbehörden und wohnt
2015 dem Prozess des Mörders Tony

Meilhon bei. Aus all diesen Gesprächen,
den Dokumenten, Protokollen, der Sich-
tung von Videomaterial und Medienbe-
richten formt er eine Erzählung, die
man als eine Gegenerzählung zu dem
von Michel Foucault herausgegebenen
„Der Fall Rivière“ lesen kann: Foucault
und seine Mitarbeiter waren bei ihren
Untersuchungen zur Geschichte der Be-
ziehungen zwischen Psychiatrie und
Strafjustiz auf diesen Fall gestoßen, über
den 1836 eine Dokumentation publiziert
worden war, unter anderem ein Memoire
Pierre Rivières über seine Tat: der Er-
mordung seiner Mutter, seiner Schwes-
ter und seines Bruders. Sie trugen die
Dokumente zusammen, um die Funktio-
nen der vielfach sich überlagernden und
gegeneinander gerichteten Diskurse zu
analysieren. Etwas, was im Fall von
„Laëtitia“ durchaus auch interessant ge-
wesen wäre.
Doch geht es Jablonka darum, „Ge-
schichte als zeitgenössische Literatur“ zu
inszenieren. Wenn er in seinem Buch
„Geschichte der Großeltern, die ich nicht
hatte“ schon im Titel „Ich“ sagte, so tat
er dies im Rahmen der Geschichte seiner
eigenen Familie, die zugleich ein Doku-
ment der Trauer war. Der Soziologe Di-
dier Eribon, der in „Rückkehr nach
Reims“ von seiner eigenen Geschichte
und Herkunft erzählt, sagt bekanntlich
auch „Ich“. Das „Ich“, das in „Laëtitia“
spricht, wird funktionaler sein, vermutet
man deshalb. Ein „Ich“, das die Subjekti-
vität der Perspektive in der Erzählung re-
flektiert; das daran erinnert, inwiefern
hier keine objektive Geschichte erzählt
werden kann. Überraschenderweise ist
das aber nicht der Fall. Denn Jablonka

will für Laëtitia sprechen: „Ich kenne
nicht eine Erzählung eines Verbrechens,
die nicht den Mörder auf Kosten des Op-
fers aufwertete. Ich möchte das Gegenteil
tun und Frauen und Männer von ihrem
Tod befreien, sie dem Verbrechen entrei-
ßen, das ihnen das Leben und sogar ihre
Menschlichkeit nahm. Nicht ihrer als
,Opfer‘ gedenken, sondern sie wieder in
ihrem Leben verankern. Zeugnis für sie
ablegen. Mein Buch wird nur eine Hel-
din haben: Laëtitia.“
Da der Autor mit viel Pathos daher-
kommt, sagt er in seiner mit Suspense-
Technik angelegten und in den Quellen
oft nicht nachvollziehbaren Erzählung
ohne Fußnoten vor allem aber auch pa-
thetisch „Ich“. Und dieses „Ich“ steht die
ganze Zeit im Weg herum und versperrt
den Blick auf das, was das Buch hätte
sein können: eine Analyse der gegenwär-
tigen französischen Gesellschaft. Dabei
mag es der Ich-Erzähler Ivan Jablonka
gern poetisch: „Ich träume nicht von ei-
ner Auferstehung der Toten, sondern ich
versuche, die vergänglichen Kreise an
der Wasseroberfläche nachzuzeichnen,
die Menschen bei ihrem plötzlichen Ver-
schwinden hinterlassen.“ Wie der Hub-
schrauber auf der Suche nach der jungen
Frau fliegt er die Orte ab, an denen sie
ihr Leben verbracht hat: „Meerwasser,
von Stürmen aufgeschäumte Gischt, Ge-
zeiten, Fischerdörfer, Kutter, Küsten-
schifffahrt, Salinen, Wasser als Kapital
(.. .). Stehendes, klebriges Wasser, in
dem der Körper festhängt, zahllose, trost-
lose Sümpfe, Binsen, Morast des Lebens,
Pfützen, Regentropfen, Tränen.“ Oder
er interpretiert Laëtitias Tod als „Allego-
rie vom guten und schlechten Regieren“:

„Worte wurden im Mund von Nicolas
Sarkozy zu dem, was die Metallsäge in
den Händen von Tony Meilhon gewesen
ist: ein Schneidewerkzeug, ein Tranchier-
messer. Seine Reden waren ein Akt der
Spaltung, der eine blutende Gesellschaft
hinterließ.“ Patrick Modiano sagt, es sei
die Rolle des Dichters, das Geheimnis,
das sich in jeder Person verberge, bloßzu-
legen. „Das ist auch die Rolle des Sozial-
historikers“, findet Jablonka und dichtet
über Laëtitia: „Sie starb als freie Frau.“
Einmal schlägt er der Anwältin von
Laëtitia Perrais’ Zwillingsschwester Jessi-
ca vor, dass er für Jessica gern einen Text
schreiben würde, „damit sie beim Beru-
fungsprozess nicht sprachlos dastehe
und, durch den Mörder ihrer Schwester
eingeschüchtert, darauf reduziert sei, vor
ihm zu weinen“. Die Anwältin gibt ihm
zu verstehen, dass dies keine gute Idee
sei. Jessica äußere sich nicht in Worten,
sondern in Haltungen: Reserviertheit,
Freundlichkeit, der Fähigkeit zuzuhören,
der Pflege des Grabs ihrer Schwester.
Manchmal spreche ihr Körper für sie:
durch Schmerzen oder Hautausschläge.
Jablonka aber lässt sich nicht davon ab-
bringen, Laëtitia und ihre Schwester mit
poetischen Mitteln ins Recht zu setzen:
„Die Welt der Gewalt zehrte die Worte
auf, diese Worte möchte ich Laëtitia zu-
rückgeben.“ Seine in so vielen Details in-
teressante Recherche liest sich auf diese
Weise wie die Geschichte einer Anma-
ßung – und wie die schlechte Poesie ei-
nes Historikers, der offenbar lieber
Schriftsteller wäre. JULIA ENCKE
Ivan Jablonka: „Laëtitia oder das Ende der Mannheit“.
Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Mat-
thes & Seitz, 384 Seiten, 28 Euro

Ein Historiker,


der lieber


Schriftsteller


wäre,


rekonstruiert


einen Mord: Ivan


Jablonkas


„Laëtitia oder das


Ende der


Mannheit“


Ein Roman, der
womöglich kein Roman
ist und schon gar kein
Essay – und gerade

deshalb einer der
heitersten Beiträge zur
Genderdebatte: Ursula
März’ „Tante Martl“

Geschichte ist nicht Literatur


Ivan Jablonka Foto Laif


Ursula März mit Tante, 1966 Foto Archiv

Free download pdf