Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.08.2019

(Rick Simeone) #1

  1. AUGUST 2019 NR. 31 SEITE 47 FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG


Reise


ermatt an ei-
nemnormalen sonnigen Tag: Zahnrad-
bahnbergsteiger, übergewichtige Männer
mit Zigarren, unterernährte Hündchen
mit Pelzumhang. Über allem thront der
Berg, dazwischen tobt der ganz normale
touristische Wahnsinn.
Selbst wenn man das Matterhorn auf
Hunderten von Postkarten, Fotos, Bil-
dern und Werbeschildern gesehen hat,
ist man tief beeindruckt, wenn man es in
echt sieht. Wie nah diese 4448 Meter
hohe Felspyramide ist, wie sie Zermatt
bedrängt, das Dorf überragt und be-
stimmt, wie sie sich von allen anderen
Gipfeln rundherum abhebt und dabei
formvollendet die Wolken aufspießt.
Auch vom „Hotel Bristol“ aus sieht
man das „Horu“, wie die Zermatter sa-
gen – wenn man aus den Fenstern in der
Lobby nach links schaut. Blickt man da-
gegen nach vorne, schaut man auf den
Friedhof, und damit sind wir schon ziem-
lich weit in der Geschichte, um die es
hier geht: Theodor W. Adornos letzte
Reise vor genau fünfzig Jahren, seine
Flucht von Frankfurt ins Wallis, nach
Zermatt, ins „Hotel Bristol“ und zum
Matterhorn, an dessen Fuß er eine Berg-
tour machte, in der Folge einen Herzin-
farkt erlitt und am 6. August 1969 starb.
Zermatt als letzter Ort für einen ver-
geistigten Philosophen aus Frankfurt,
das mag zunächst nicht so recht zusam-
menpassen. Tatsächlich aber hat sich
Adorno sein ganzes Leben lang für die
Berge und ihre Natur begeistert. Sein
Abituraufsatz trug den Titel „Die Natur,
eine Quelle der Erhebung, Belehrung
und Erholung“. Später bezeichnete er
sich als einen „Bergmenschen“ und reis-
te nach Berchtesgaden und Salzburg,
Südtirol, Crans-Montana und immer
wieder nach Sils Maria. Aber kein Berg
hat ihn so fasziniert wie das Matterhorn.
„In Zermatt“, schrieb Adorno in der „Äs-
thetischen Theorie“, „präsentiert sich
das Matterhorn, Kinderbild des absolu-
ten Bergs, wie wenn er der einzige Berg
auf der ganzen Welt wäre.“ Vor Ort ge-
nügt auch heute ein Blick nach oben, in
den südwestlichen Himmel, um diesem
Satz vollumfänglich zuzustimmen.
Das verhängnisvolle Jahr 1969 ließ
Adorno kaum Zeit zum Durchatmen.
Als Professor in Frankfurt entglitt ihm
die Lage. Im Januar besetzten Studenten
das Institutgebäude, im April bedrängten
ihn mehrere Studentinnen etwa so wie
das Matterhorn Zermatt bedrängt. Im
Hörsaal umringten sie den kleinen
Mann, streuten Blumenblüten, rückten
ihm zu Leibe und zeigten schließlich
ihre Brüste. Im Schutz seiner Aktenta-
sche floh er vor dem, was seither als „Bu-
sen-Attentat“ im kulturellen Gedächtnis
verankert ist. Und im Juli wurde es ihm
schließlich zu viel. „Herr Professor Ador-
no, der gestern, in völlig überarbeitetem
und ramponiertem Zustand, in die Feri-
en gefahren ist, läßt Ihnen für Ihre Brie-
fe sehr danken“, antwortete seine Sekretä-
rin dem Philosophen Alfred Sohn-Re-
thel. Gemeinsam mit seiner Frau Gretel
war der ramponierte Adorno bereits auf
dem Weg ins Wallis.
Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit. So
lange, dass sich in Zermatt fast niemand
mehr an Adorno erinnert. Wer? Ein
deutscher Philosoph? Im Tourismusbüro
gibt es keine Unterlagen über seinen Auf-
enthalt. Im Krankenhaus in Visp auch
nicht, weil in den achtziger Jahren ein
Brand alles vernichtet hat. Doktor Nan-
zer, der ehemalige Chefarzt, ist 88, kann
sich erinnern, kennt jemanden, den Ador-
no damals getroffen hat. Nach ein paar
Tagen ruft er zurück und teilt mit, dass
derjenige auch schon verstorben sei. Edy
Schmid, Museumsleiter und Dorfchro-
nist, ist erst in den siebziger Jahren nach
Zermatt gekommen, eine andere Chro-
nistin erst vor ein paar Wochen gestor-
ben, und der Schuhmacher, bei dem die
Adornos damals waren, kann sich auch
nicht mehr erinnern. Der Juniorchef des
„Hotel Bristols“ antwortet: Nein, er wis-
se leider gar nichts darüber. Der Senior-
chef sei vor ein paar Jahren verstorben,
und in den Gästebüchern sei auch nichts
zu finden.

Fünfzig Jahre haben auch Zermatt
komplett verändert. Aus dem Bergbauern-
dorf ist eine städtebauliche Entgleisung
geworden, die Bahnhofstraße eine Mi-
schung aus alten Holzhäusern, leerstehen-
den Zweckbauten und geschmacklosen
Hotelbunkern aus den siebziger Jahren,
daneben alte Grandhotels und dazwi-
schen wahlweise Apotheken, Bäckereien,
Sport- oder Uhrengeschäfte. Es gibt heu-
te hundert Restaurants und fünfzig Bars,
hundertzehn Hotels und zwölfhundert Fe-
rienwohnungen. In der Hochsaison teilen
sich knapp sechstausend Zermatter die
Stadt mit etwa dreißigtausend Touristen.
Elektroautos surren durch die Gassen,
und Bergbahnen bringen die Gäste in
drei Himmelsrichtungen auf die Gipfel,
seit Ende der siebziger Jahre sogar aufs
3883 Meter hohe Klein Matterhorn – die
höchste Bergbahn der Alpen. Das Matter-
horn muss als Werbeträger für Schokola-
de, Wasser, Uhren und Kondome herhal-
ten. Egal wo man ist und hinschaut, ir-
gendwo ist immer, wirklich immer, ein
Abbild des Berges zu sehen. Das „Natur-
schöne“ wird überlagert von seiner steten
Simulation. Adorno – der die massenhaf-
te Verbreitung kulturindustriellen Kit-
sches verurteilte – hätte es gehasst.
Aber auch 1969 war in Zermatt schon
einiges los. Die Gornergratbahn brachte
internationale Touristen auf dreitausend
Meter Höhe, eine Seilbahn fuhr aufs Rot-
horn und eine weitere zum Trockenen
Steg. Seit 1865 das Matterhorn bestiegen
worden war, kamen prominente Gäste,
um diesen Berg zu sehen: Winston Chur-
chill, Franklin Roosevelt, die Rockefel-
lers, Luis Trenker, der auch im „Bristol“
wohnte. Und mit den Gästen wuchs die
Infrastruktur. Andererseits grassierte nur

sechs Jahre vor Adornos Besuch in Zer-
matt noch eine Typhusepidemie mit vier-
hundert Erkrankten und drei Toten.
Das „Hotel Bristol“ hat 1959 eröffnet
und befindet sich mitten im Ort, gleich
hinter der Brücke über der rauschenden
Vispa. Neben Matterhorn-fotografieren-
den asiatischen Touristen führen heute
ein paar Stufen hinauf zur Lobby. An der
Bar steht eine ältere Dame aufrecht am
Tresen und trinkt Kaffee – eine regel-
rechte Erscheinung, würdevoll, gedie-
gen, mit Pelzmantel, Halstuch, blondier-
ten Haaren, sie scheint gerade vom Fri-
sör gekommen zu sein, und es ist voll-
kommen klar, dass sie die Seniorchefin
Heidi Perren ist. Wir kommen ins Ge-
spräch, sie ist offen und erzählt gerne.
Seit neunundfünfzig Jahren lebt sie in
Zermatt, kam damals in ihren frühen
Zwanzigern aus dem Tal in die Berge.
Dann waren Sie ja 1969 schon hier? „Jaja,
schon eine ganze Weile.“ Wir setzen uns
an einen der Tische auf dem Parkett ne-
ben dem Kamin. Und Theodor Adorno,
können Sie sich noch an Theodor Ador-
no erinnern? Da sagt sie: „Ja, die Ador-
nos, da kann ich mich noch gut erin-
nern. Sehr warmherzige Leute waren
das. Sie haben in Zimmer Nummer 30
gewohnt.“ Und nun beginnt eine beein-
druckend genaue Rekonstruktion der
letzten Tage des großen Philosophen
und seiner Frau Gretel. Eine Rekonstruk-
tion, die offenbar auch Heidi Perrens
Sohn, dem Juniorchef des Hotels, nicht
bekannt war.
„Sie waren vierzehn Tage bei uns, hat-
ten Halbpension“, erzählt Heidi Perren.
„Sie waren das erste Mal in Zermatt und
erzählten, dass sie schon immer mal kom-
men wollten.“ Sie blickt sich um, sagt:

„Damals sah das alles hier noch anders
aus. Die Teppiche, die Möbel, auch die
Zimmer waren anders aufgeteilt. „Die
Adornos blickten von ihrem Zimmer aus
nicht aufs Matterhorn, sondern auf den
Friedhof.“ Man braucht keinen übertrie-
benen Sinn für Symbolik, um hier kurz
zu stocken.
Gastgeber und Herr des Hauses sei da-
mals ihr Mann gewesen. „Der könnte ih-
nen mehr erzählen, der war ein Aus-
kunftsbüro, auch was das Matterhorn be-
triff, aber er ist vor viereinhalb Jahren ge-
storben“, sagt die Seniorchefin. Adorno
habe sich mit ihrem Mann über „alte Zei-
ten in Zermatt“ unterhalten, wollte alles
wissen über den Ort und seine Berge.
Sie sprachen wohl auch über die dramati-
sche Erstbesteigung um den Engländer
Edward Whymper und die Tragödie, die
sich beim Abstieg ereignete: Ein Seil
riss, und vier Männer stürzten in den
Tod. Und vermutlich sprachen sie auch
über die Bergführerlegende Ulrich Inder-
binen, der Adorno vielleicht auch noch
über den Weg gelaufen ist. Im Jahr 1900
geboren, also nur drei Jahre älter als
Adorno, war Inderbinen in seinem Le-
ben unglaubliche 371 Mal auf das Matter-
horn gestiegen. Als er im Alter von 104
Jahren starb, so wird unter Bergführern
erzählt, sei er morgens aufgestanden und
habe gesagt: „Heute ist mein letzter
Tag.“ Seitdem liegt er auf dem Friedhof
gegenüber dem Hotel.
„Adorno ist mir vorgekommen wie Ro-
ckefeller“, resümiert Heidi Perren. Ro-
ckefeller sei eine Legende in Zermatt ge-
wesen, die alle kannten. „Mit immer glei-
cher Kleidung und einer Flasche Wein
für die Bergführer, die er mochte. In sei-
ner Art, wie er sprach und aussah, hat

mich Adorno an ihn erinnert.“ Er sei bei
den Hotelgästen als attraktiver Diskussi-
onspartner sehr beliebt gewesen. Wenn
man sich all das vorstellt – das Charisma,
der Zauberberg-hafte Auftritt, die Ge-
spräche in der Lobby, die Gelehrtheit im
Speisesaal –, lässt sich das nur schwer
mit seinem baldigen Tod vereinbaren.
Die Bergtour, die sie vermutlich in
den ersten Augusttagen unternommen
hatten, trug allerdings beinahe suizidale
Züge. „Die Frau hat noch gesagt, er
habe Herzprobleme“, erinnert sich Hei-
di Perren. Und dass ein Arzt in Deutsch-
land gesagt habe, er solle nicht in die
Höhe gehen „,Zermatt geht schon, aber
nicht höher‘, hat sie erzählt. Aber er woll-
te unbedingt wandern.“ Wandern und
sich „der Sonne exponieren“, wie Ador-
no selbst einmal schrieb. Ungeachtet ir-
gendwelcher Herzprobleme. Sie schaut
ins Leere und sagt: „Das ist mir noch so
geblieben.“
Warum sind die Adornos 1969 nicht
nach Sils Maria ins Engadin gefahren? In
den fünfziger und sechziger Jahren hat
Adorno alle seine Geburtstage (am 11.
September) in Sils Maria gefeiert und
mehr als vierhundertzwanzig Tage dort
verbracht. Im „Waldhaus“, in dem vor
ihm auch Albert Einstein und Thomas
Mann gastierten, traf er sich mit Herbert
Marcuse und sprach mit ihm über Nietz-
sche, Walter Benjamin und Paul Celan.
Die alpine Seenlandschaft des Engadins
ist lieblicher, die Berge nicht so hoch wie
im Wallis, und gerade die Gäste im
„Waldhaus“ besinnen sich mehr auf intel-
lektuelle Gespräche im Speisesaal als auf
alpine Touren. Und wer doch wandert,
der tut das für gewöhnlich zwischen
2000 und 2500 Meter, nicht auf 3000.

Für ein krankes Herz ist das ein entschei-
dender Unterschied. Warum also 1969
plötzlich Zermatt und nicht Sils Maria?
Abwechslung? Ausflucht? Todessehn-
sucht? Oder wollte er einfach nur das
Matterhorn sehen?
„Ich weiß nicht mehr genau, auf wel-
chem Berg sie waren“, erzählt Heidi Per-
ren. „Vielleicht auf dem Rothorn, auf
dem Breithorn wohl eher nicht.“ Auf
dem Gornergrat wohl auch nicht, denn
der eignet sich nicht zum Wandern. Das
Rothorn ist 3103 Meter hoch, der Gorner-
grat 3089, das Breithorn sogar 4164 Me-
ter. Heute gilt der Berg als der leichteste
Viertausender in den Alpen, weil man
mit der Bahn aufs Klein Matterhorn
fährt und von dort über den Theodulglet-
scher die restlichen 300 Höhenmeter
zum Gipfel geht. Diese Bahn wurde je-
doch erst 1979 gebaut. Zur heutigen Mit-
telstation „Trockener Steg“ fuhr aber
schon 1969 eine Bahn.
Das links abgebildete Foto eines unbe-
kannten Fotografen gibt Aufschluss. Es
zeigt Adorno, mit Hut, zusammen mit
Gretel; sie sitzen gemeinsam mit zwei
Frauen auf der Gandegghütte auf 3029
Meer Höhe, etwa eine halbe Stunde
vom Trockenen Steg entfernt. Vermut-
lich sind sie mit der Seilbahn von Zer-
matt hoch gefahren und haben die Wan-
derung erst oben begonnen. Die Sonne
strahlt auf eine gleißend weiße Glet-
scherwelt. Von rechts schiebt sich das da-
mals noch schnee- und eisbedeckte Breit-
horn ins Bild. Überhaupt sitzen sie zwi-
schen damals noch deutlich stärker ver-
gletscherten Bergen als heute – auch
hier hat ein halbes Jahrhundert Spuren
hinterlassen. Oben in der Mitte des Fo-
tos erhebt sich die weiße Kuppe des 4527
Meter hohen Liskamms, und hinter
dem schindelgedeckten Hüttendach spit-
zelt der Monte Rosa hervor. Die Blicke
der Adornos richten sich jedoch auf ei-
nen Berg außerhalb des Bildes, der noch
viel interessanter ist – natürlich auf das
etwas weiter westlich gelegene Matter-
horn.
Was genau nach dieser Bergtour pas-
sierte, ist schwer zu rekonstruieren. Be-
kannt ist, dass Adorno Probleme mit sei-
nem Bergschuh hatte und einen Schuster
suchte. Deswegen mussten sie hinunter
nach Visp. Das ist heute wirklich nicht
mehr vorstellbar. In Zermatt ist jeder drit-
te Laden ein Sport- und Schuhgeschäft.
„Aber damals gab es keine Sportgeschäfte
hier oben. Damals war das hier ein
Dorf “, sagt Heidi Perren, und es klingt
so, als könne sie selbst nicht glauben, was
diese fünfzig Jahre aus Zermatt gemacht
haben. Es gab nur ein paar Sportgeschäf-
te und den Schuster Otto Burgener, der
auch die Lederschuhe für die Bergführer
herstellte. Auch Ulrich Inderbinen trug
einen Burgener-Schuh. Aber er habe
Adorno wohl nicht helfen können, und so
seien sie hinunter nach Visp gefahren,
um dort die Schuhe reparieren zu lassen.
Da ging es Adorno noch gut. „Ich kann
mich nicht erinnern, dass er hier bei uns
Herzprobleme hatte“, erinnert sich Heidi
Perren.
Und so fuhren sie am 5. August 1969
hinunter nach Visp im Rhonetal zu ei-
nem Schuster, zu welchem, ist nicht be-
kannt, die beiden Schuster, die es heute
in Visp gibt, können nichts dazu sagen.
Irgendwo auf dem Weg müssen die Herz-
beschwerden eingesetzt haben, sie fuh-
ren ins Visper Krankenhaus St. Maria.
Und dann ging alles sehr schnell: Ador-
no blieb über Nacht und starb am nächs-
ten Vormittag um 11.20 Uhr an einem
Herzinfarkt. So stand es jedenfalls tags
darauf im „Walliser Boten“ in der Rubrik
„Letzte Lokalnachrichten“.
Gretel Adorno fuhr allein wieder zu-
rück nach Zermatt ins „Hotel Bristol“.
„Frau Adorno war traurig und niederge-
schlagen. Ich habe ihr dann beim Packen
geholfen“, erinnert sich Heidi Perren,
und es geht ihr noch heute sichtbar
nahe. „Sie saß im Zimmer auf dem
Stuhl, und ich habe den Koffer gepackt.“
Nach einer längeren Pause sagt sie noch:
„Ich glaube, mein Mann hat sie dann hin-
unter ins Tal gefahren.“
ANDREAS LESTI

Theodor W. Adorno mit seiner Frau
Gretel auf der Gandegghütte
Foto Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/Main

Z


Aber er wollte


unbedingt wandern


Vor fünfzig Jahren erlebte Theodor W. Adorno seine letzten Tage in Zermatt. Im


touristischen Hochbetrieb des Jahres 2019 kann sich daran niemand erinnern. Fast.

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