Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.08.2019

(Rick Simeone) #1

60 wissenschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 4. AUGUST 2019, NR. 31


I


n der Frühphase der digitalen Mu-
sikerzeugung war das Komponie-
ren am Computer recht kompli-
ziert. Anstatt einzelne Stimmen oder
Melodien direkt auf einer Klaviatur
einzuspielen und abzuspeichern, muss-
te man seinerzeit sogenannte Sequen-
cer bedienen. Das waren Computer-
programme oder eben auch elektroni-
sche Geräte, bei denen jeder Ton ein-
zeln an die richtige Stelle einer Matrix
gesetzt werden musste: Die X-Achse
der Matrix verkörperte üblicherweise
die Zeitachse in einem voreingestell-
ten Taktmaß, auf der Y-Achse waren
die einzelnen Tonspuren oder auch
Tonhöhen verzeichnet.
So lästig das damals auch war, es
konnten auf diese Weise durchaus
komplexe Kompositionen realisiert

werden, die sich nicht einfach mal so
per Klaviatur einspielen lassen. Wie,
das können Sie im Browser ausprobie-
ren. Unter http://www.beepbox.co dürfen
Sie Ihre eigenen Stücke komponie-
ren, indem Sie mit der Maus einzelne
Töne auf den grauen, waagerechten
Balken plazieren. Rechter Hand fin-
den Sie nicht nur die Steuerungstas-
ten für Start/Stop/Zurückspulen, son-
dern auch allerlei Einstellmöglichkei-
ten für den Klang (Type), Effekte
(Reverb) oder das Taktmaß
(Rhythm). Bis zu vier verschiedene
Spuren können gleichzeitig erklin-
gen; Genaueres erklärt Ihnen die aus-
führliche Anleitung. Der besondere
Clou: Einmal erzeugte Songs können
Sie sogar als URL abspeichern und ei-
nem Publikum zur Verfügung stel-
len. Viel Vergnügen!
Nun unser Rätsel: Wie nennt man
die oben vorgestellte Art Sequencer,
bei denen jeder einzelne Schritt von
Hand eingegeben werden muss? Bitte
schicken Sie Ihren Lösungsvorschlag
an [email protected]. Unter allen rich-
tigen Einsendungen verlosen wir ei-
nen ebook-Einkaufsgutschein im
Wert von 25 Euro. Einsendeschluss ist
der 7. August 2019, 21 Uhr. Die Lö-
sung des Rätsels der vergangenen Wo-
che lautet „Rorschach-Test“, gewon-
nen hat Sonja Herzberg aus Berlin.

E


s gilt als kulturkritischer Allge-
meinplatz, dass die moderne
Gesellschaft den Tod ver-
drängt. Im Gegensatz zu früheren Ge-
sellschaften, denen der Tod und das
Sterben vertraut waren, werde der
Tod heute verborgen, versteckt, ja ge-
radezu tabuisiert. Wo sich die Soziolo-
gie mit dem Sterben befasste, hat sie
sich dieser Kritik angeschlossen und
in Studien zur Kommunikation mit
Sterbenden und deren Angehörigen
ein medikalisiertes und dehumanisie-
rendes Bild vom Tod im Krankenhaus
gezeichnet. Das Gegenbild ist das
„gute Sterben“ eines Patienten, der
seinen bevorstehenden Tod offen ak-
zeptiere und darin von der Organisati-
on und seinen Angehörigen unter-
stützt und begleitet werden sollte. Die-
se Offenheit gelte nun als Grundbe-
dingung einer menschlichen Versor-
gung von Sterbenden, so Irmhild Saa-
ke, Armin Nassehi und Katharina
Mayr in ihrem Beitrag zur Gegenwart
von Sterbenden in palliativmedizini-
schen Einrichtungen. Und doch zeig-
ten eine Vielzahl an Studien zur Wirk-
lichkeit des begleiteten Sterbens, dass
die Patienten über ihren Tod nicht
sprechen möchten. Die Organisation
mache ihnen das Angebot eines offe-
nen und ehrlichen Umgangs mit ih-
rem baldigen Ende, doch die damit
Angesprochenen verweigerten sich
dieser Etikettierung als Sterbende
und damit der erwarteten Mitwir-
kung am eigenen Tod. Aber muss
man das dann als professionelles Ver-
sagen des medizinischen Personals
werten, wenn ein Sterbender sein Ster-
ben verleugnet? Kann man nicht auch
„gut sterben“, wenn man sein Sterben
nicht „akzeptiert“?
Saake, Nassehi und Mayr stellen
diese Fragen und eröffnen mit ihrer
empirischen Studie dazu einen ganz
anderen Blick auf die Möglichkeit ei-
nes guten Sterbens. Man könnte sa-
gen, sie geben dem Beschweigen des
Todes seine menschliche Würde und
organisatorische Vernunft zurück. Sie
haben dazu auf zwei deutschen Pallia-
tivstationen mit Ärzten, Pflegern, So-
zialarbeitern und Seelsorgern Inter-
views geführt und die Interviewten
auch bei ihrer Arbeit begleitet. Um
auf ihr Fazit vorauszugreifen: Offen-
bar gebe es nicht nur regelmäßig gar
keinen Bedarf für das Sprechen über
den Tod selbst auf solchen, darauf
doch eigentlich spezialisierten Statio-
nen. Vielmehr liege in diesem Ver-
zicht der Thematisierung des Ster-
bens sogar ein organisatorischer
„Funktionssinn“. Die Autoren kom-
men zu dieser These, indem sie gera-
de nicht mit der Frage beginnen, war-
um sich das Gesprächsideal des guten
Sterbens nicht entfaltet, sondern zu-
nächst davon ausgehen, dass das Per-
sonal der Stationen und deren Patien-
ten ganz unterschiedliche Perspekti-
ven haben. Am deutlichsten wird das

bei Patienten, die selbst auf der Pallia-
tivstation noch von der Möglichkeit
einer wie auch immer wundersamen
Erholung oder gar Heilung über-
zeugt sind. Andere Studien haben
eine solche Verleugnung als eine
noch nicht gelungene „Institutionali-
sierung der Sterberolle“ beschrieben,
die letztlich als ein Versagen der pro-
fessionellen Bemühungen des Perso-
nals begriffen wurde. Saake, Nassehi
und Mayr kommen zu einem anderen
Ergebnis: Die Perspektiven von Perso-
nal und Patienten seien eigentlich gar
nicht übersetzbar. Den Ärzten und So-
zialarbeitern der Station ginge es dar-
um, „Sterbende in einer Organisati-
onskarriere mit einem unvermeidbar
negativen Verlauf “ einzufügen. Die
Sterbenden selbst hingegen bemerk-
ten an sich vor allem eins: Dass ihr Le-
ben ja weitergeht, solange sie denken
könnten. Hier komme eine Grenzer-
fahrung der menschlichen Existenz in
den Blick: Dass das eigene Ende eben
nur denkbar, aber nicht erlebbar ist.
Erleben kann man nur das Sterben
der anderen.
Als Soziologen stellen Saake, Nasse-
hi und Mayr natürlich zu Recht fest,
dass es für solche Erfahrungen doch
ebenfalls Experten gibt. Richtig, es ist
eigentlich die Aufgabe der Seelsorger
der Stationen, den Patienten hierfür
das Gespräch anzubieten – für das Un-
sagbare, das Rätselhafte und Untröstli-
che des Todes. Doch was die Seelsor-
ger in den Selbstbeschreibungen von
ihrer Arbeit preisgeben, entspricht ei-
gentlich gerade nicht der Erwartung,
sie wären die Experten für das Ge-
spräch über den Tod. Vielmehr seien
sie, so eine Seelsorgerin, professionel-
le „Zeitschenker“. Als die Einzigen,
die von den organisatorischen Zwän-
gen und Zielen befreit sind, geben sie
den Sterbenden Gegenwart. Sie ha-
ben Zeit – für die Patienten mit ih-
rem zutiefst menschlichen Bedürfnis,
noch eine Zukunft zu haben. Sie
könnten es sich als Einzige erlauben,
in der Interaktion mit dem Sterben-
den gemeinsam mit ihm von seinem
Sterben abzusehen. Dafür sorgt natür-
lich die Organisation im Hinter-
grund, die sich „um den Rest“ küm-
mere, also den verwalteten Tod.
Die Studie von Saake, Nassehi und
Mayr ist nicht nur ein glänzender Bei-
trag zu einer systemtheoretisch inspi-
rierten Organisationssoziologie. Sie
wirft auch ein Licht auf aktuelle Fra-
gen zum Bedeutungsverlust des Reli-
giösen in der modernen Gesellschaft,
wie ihre Autoren erklären. Abschlie-
ßend beantworten können sie diese
Fragen natürlich nicht, aber allein der
Mut, sie soziologisch an der Wirklich-
keit des Sterbens auf einer Palliativsta-
tion überprüfen zu wollen, macht die-
se Studie unbedingt lesenswert.
Irmhild Saake, Armin Nassehi, Katharina Mayr:
Gegenwarten von Sterbenden. Eine Kritik
des Paradigmas vom „bewussten Sterben“, in:
KZfSS (2019) 71: 27-52.

V


ier Milliardenneue Bäume will
man in Äthiopien bis zum Herbst
gepflanzt haben. Dass die ersten
354 Millionen gleich in Rekordzeit gesetzt
wurden, erfuhr ich auf meinem Balkon
mit dem Laptop auf dem Schoß, einer
Tasse Kaffee in der Hand und verschluck-
te mich prompt. Nur noch drei Prozent
des Landes seien von Wald bedeckt, las
ich im Worldwide Web. In den 1960er
Jahren waren es noch vierzig Prozent, die
wichen allerdings nach und nach – den
Kaffeeplantagen.
Was trank ich da eigentlich gerade mit
Milch und Zucker? Den Schwarzen Tod
des Regenwaldes oder den Lebensunter-
halt für die Majangir und Shekacho? Be-
ruhigend war dann die Information, dass
in Äthiopien fünf Unesco-Biosphärenre-
servate bestehen, denn in Bergregenwäl-
dern gedeihen die dort endemischen Kaf-
feepflanzen, und ein wilderCoffea arabica
ist ja so vieles mehr als nur ein Biopro-
dukt, mit dem sich der Sommer auf Balko-
nien ohne schlechtes Gewissen genießen
lässt. Hier kann man aber nebenbei an in-
ternationalen Programmen zum Schutz
der Biene beziehungsweise Insekten und
Bestäubern teilnehmen und sich individu-
ell der Stadtbegrünung widmen. Natür-
lich inoffiziell. Sogar Projekte der Auf-
forstung sind möglich, wobei jeder einzel-
ne Blumenkasten sich in eine wahre
Kampfzone verwandelt, wenn sich darin

Lavendel zum Beispiel gegenüber einer
Birke behaupten muss.
Seit mehreren Jahren beobachte ich
nun schon das Drama, das sich in und auf
wenigen Kubikzentimetern Erde abspielt.
Längst zum Busch verholzt, bietetLavan-
dula angustifoliamit duftenden Blüten zu-
mindest Hummeln etwas Nahrung, wäh-
rend die zwei Meter hoch ragendeBetula
pendulavor allem Ameisen anzieht. Da-
zwischen haben sich Gras, Moos und
Sternmiere angesiedelt – das Wurzelwerk
der Birke lässt kaum Raum für anderes.
Sie kam ungefragt, wie es für die Pioniere
ihrer Gattung seit Jahrmillionen üblich
ist, vom Winde verweht, der den Samen
nur über einen Hinterhof tragen musste.
Wie Konfetti im Karneval schneit es hier
raue Mengen geflügelter Nussfrüchte,
was ein Birkhuhn wohl zu schätzen wüss-

te, das sich aber leider nur selten auf ei-
nem Balkon mitten in der Frankfurt nie-
derlässt. Stattdessen muss der Staubsau-
ger helfen, und die Pflanzkästen werden
von allen unerwünschten Sprösslingen be-
freit. Einen jedoch ließ ich gewähren,
heimlich hoffend, dass in einem Gen na-
mens LAZY kleine Mutationen auftre-
ten, die meinem Bäumchen eine andere
Gestalt geben, auf natürliche Weise. Wäh-
rend das von der EU geförderte Bet-
wood-Projekt tatsächlich auf solche Varia-
tionen stieß und „selective sweeps“ ent-
deckte, durch die es Birken in der Vergan-
genheit möglich war, sich in der nördli-
chen Hemisphäre lokal anzupassen, ist
meine hessischeBetula balconiadoch eher
ein Paradebeispiel dafür, was bald den
Wäldern in ganz Europa droht.
Wenn der Klimawandel einheimischen
Baumarten zu schaffen macht, weil ihnen
Dürreperioden oder Wetterextreme scha-
den, wird es Gewinner und Verlierer ge-
ben. Daher haben polnische Forstwissen-
schaftler einmal untersucht, wie zwölf
Spezies mit drei unterschiedlichen Szena-
rien im Zeitraum 2061 bis 2080 zurecht-
kommen. Nicht nur fürBetula pendula
sieht es dann offenbar recht schlecht aus,
und ich befürchte, mein Exemplar wird
schon diese Sommersaison nicht mehr
überstehen. Es triumphiert der Lavendel,
in der Nachbarschaft reifen Feigen, sollte
man es einfach mal mitCoffeaversuchen?

V


or einem Jahr, am 1. August
2018, haben die kongolesischen
Behörden offiziell den Ausbruch
von Ebola gemeldet. Die Epide-
mie im Osten des Landes hält nach wie
vor an, mittlerweile sind in der Demokra-
tischen Republik Kongo (DRK) mehr als
2700 Menschen erkrankt und 1823 gestor-
ben. Die Millionenstadt Goma hat ver-
mutlich einen dritten und vierten Fall,
darunter ein einjähriges Mädchen – die
Tochter eines kürzlich an Ebola verstorbe-
nen Mannes –, und Ruanda hat nun die
Grenzen zum Nachbarstaat geschlossen.
Mit Impfungen versucht man die Situati-
on in den Griff zu bekommen, doch das
ist nicht genug.

Herr Berkley, was halten Sie von den
jüngsten Entwicklungen?
Mich überrascht es nicht, dass die Gren-
zen geschlossen wurden, angesichts der
Vorkommnisse. Allerdings wechseln dort
täglich Tausende von einem Land ins an-
dere. Wenn jetzt die Grenzen zu sind,
werden sich manche einen anderen Weg
suchen – fern der normalen Kontrollstel-
len, wo man Fieber feststellen könnte.
Und das bereitet mir Sorgen.
Sie kamen erst vor wenigen Tagen
aus dem Krisengebiet zurück. Was
war der Zweck Ihrer Reise?
In gewisser Weise bestand der Trip aus
zwei Teilen, und es fing mit einem sehr
wichtigen Workshop in Kinshasa an.
Inwiefern war das Treffen in der
Hauptstadt bedeutend?
Zum einen fand es unter der Schirm-
herrschaft des Präsidenten statt, und die
Gouverneure aller 26 Provinzen nah-
men daran teil. Wir diskutierten etwa
darüber, wie sich das System verbessern
lässt, um die Immunisierung voranzutrei-
ben und die Routine zu stärken. Am
Ende haben alle unterzeichnet, darauf
die Priorität zu setzen. Denn Sie dürfen
nicht vergessen, dass im Moment tat-
sächlich mehr Menschen an Masern ster-
ben als an Ebola, so schrecklich diese
Epidemie auch ist. Im Land herrscht
der derzeit größte Masern-Ausbruch
weltweit. Routine-Impfungen haben
hier nur eine geringe Reichweite, erfas-
sen nur schätzungsweise 35 Prozent, und
das ist eine echte Krise. Wir waren also
auch im Land unterwegs und haben uns
vor Ort über den Mashoko-Plan infor-
miert, den der vorherige Gesundheitsmi-
nister bereits in den besonders proble-
matischen Provinzen initiiert hatte.
Vor etwa zwei Wochen ist Gesund-
heitsminister Oly Ilunga Kalenga je-
doch zurückgetreten. Aus Protest,
weil man ihm die Aufsicht über die
Ebola-Aktionen entzogen und an ein
Komitee unter Kontrolle des Präsi-
denten übergeben hatte. Man habe
seine Arbeit behindert und wolle ei-
nen weiteren, experimentellen Impf-
stoff einsetzen, damit sei er nicht ein-
verstanden gewesen, heißt es.
Ich habe ihn als vernünftigen Minister
kennengelernt, als „data driven“. In der
kongolesischen Republik bestehen aller-
dings einige Langzeitprobleme, aktuell
muss sich die Regierung neu bilden.
Und der neue Gesundheitsminister wird
sich gleich um mehr als nur ein Portfo-
lio kümmern müssen.
Wohin führte Sie die Reise noch?
Im zweiten Teil widmeten wir uns den
Fragen zur Ebola-Epidemie, reisten
auch nach Goma und trafen verschiede-
ne UN-Kräfte. Es wird sich dort noch
zeigen müssen, ob es sich nur um wenige
isolierte Einzelfälle handelt oder ob sich
die gefährlichen Viren weiter ausbreiten,
schließlich ist es eine riesige Stadt.
Um den Ebola-Ausbruch einzudäm-
men, wurde inzwischen die Impfstra-
tegie geändert. Man setzt nun auf
„Pop-up“-Stationen, wird das helfen?

Nach meinen bisherigen Beobachtun-
genglaube ich, man muss diese Frage
umfassender angehen. Dank des helden-
haften Engagements sind bereits mehr
als 180 000 Menschengeimpftgegen
Ebola, und es war schön zu sehen, dass
eine funktionierende Kühlkette aufge-
baut wurde; der Wirkstoff muss bei mi-
nus 80 Grad gelagert werden. Es ist also
vieles als positiv zu bewerten, aber, und
das fällt mir wirklich nicht leicht zu sa-
gen, weil ich ein großer Impfverfechter
bin: In diesem Fall ist die Impfung nicht
die Lösung. Wir können noch einmal so
viele Menschen impfen, aber das wird
den Ausbruch nicht stoppen.

Woran liegt es?
Die Impfung ist ein fabelhaftes Werk-
zeug, und beim vorherigen Ausbruch –
ich war damals am Tag der Lieferung
dabei – hat sich bestätigt, was sie leisten
kann. Allerdings muss man Infizierte
schnell finden und alle um sie herum
impfen. Leider sieht es dieses Mal an-
ders aus, obwohl wir die Dosis herabset-
zen konnten, so dass genügend Wirk-
stoff zur Verfügung steht. Ein Drittel
der Fälle treten jedoch in Gemeinden
auf, und der Weg der Übertragung ist
oft unbekannt, auch ist es kaum mög-
lich, alle Kontaktpersonen aufzuspüren.
Wenn geimpft wird, dann zu langsam.
Solange man aber nicht schnell reagie-
ren kann, wird die Epidemie weiterhin
schwelen. Deshalb ist es so wichtig, alle
Fälle zu identifizieren, zu 100 Prozent,
und mit den entsprechenden „Public
Health“-Maßnahmen zu reagieren.
Ausgerechnet jetzt, da ein Impfstoff
existiert, hilft uns dieser kaum?
Sicher, wir haben eine großartige Vakzi-
ne, undman ist im Moment beschäftigt,

die Menschen damit zu impfen. Aber
selbst wenn man 80 Prozent derjenigen
erreicht, die eine solche Hilfe benötigen,
würde man doch 20 Prozent verpassen –
die Epidemie ginge weiter. Es ist eine be-
sondere Situation. Was hingegen eine
schnelle Reaktion bewirken kann, sahen
wir in Uganda, wo man die Situation
bald wieder im Griff hatte. Der Impf-
stoff ist effektiv in solchen Notfällen,
man muss aber Fälle identifizieren, isolie-
ren und Ring-Impfungen ausführen.
Die Weltgesundheitsorganisation hat
den Ausbruch nach einem Jahr zur
„gesundheitlichen Notlage von inter-
nationaler Tragweite“ erklärt. Macht
das nun einen Unterschied?
Offen gesagt, es ist jetzt nichts passiert,
was nicht schon für einen langen Zeit-
raum galt.Es herrscht Notstand, und
die Zahl der Fälle steigt ja noch immer.
Der politische Druck war groß, aber die
Entscheidung wirkt eben nicht wie ein
Lichtschalter, der es auf einmal hell wer-
den lässt und schlagartig alles verändert.
Nun ist Ebola bei weitem nicht das
einzige Gesundheitsproblem, Masern
haben Sie bereits erwähnt...
...außerdem grassieren Affenpocken,
und die Cholera ist ausgebrochen, auch
dagegen verteilen wir Impfstoffe. Es
gibt durchaus mehrere Risiken, deshalb
ist es so wichtig, ein stabiles Gesund-
heitssystem aufzubauen, mitsamt Routi-
neimpfungen, denn im Notfall kann
man dann auf die etablierten Strukturen
zurückgreifen. Es ist zwar nachvollzieh-
bar, dass man normale Impfungen aus-
setzt, damit Menschen sich nicht ansam-
meln und womöglich Ebola verbreiten.
Dadurch sind aber jede Menge Kinder
empfänglich für diese Krankheiten, das

zeigen uns die Ausbrüche. Ihre Immuni-
sierung hat also Priorität, und Gavi, die
Impfallianz, wird jetzt eine landesweite
Masern-Impfkampagne finanzieren.
Wird sich Gavi in Zukunft noch mehr
auf solche Szenarien einstellen müs-
sen und auf Epidemien reagieren?
Als Gavi gegründet wurde, ging es uns
vor allem darum, Impfstoffe, die in den
Industrienationen wie Deutschland oder
Japan gebräuchlich sind, für die ärmsten
Länder bereitzustellen. Aber Klimawan-
del, Migration, Flucht und weitere Aspek-
te sorgen seit ein paar Jahren dafür, dass
Epidemien stärker in unseren Fokus rü-
cken. Gavi verwaltet Vakzinvorräte für
Gelbfieber, Cholera, Meningitis und in
gewisser Weise auch Ebola. Auf Ebola
zu reagieren, das gehörte ursprünglich
nicht zu unseren Aufgaben, jetzt schon.
Deutschland unterstützt diese Arbeit,
die Finanzierung läuft aber 2020 aus.
Wir sind gerade dabei, die Strategie für
die nächste Periode auszuarbeiten. Natür-
lich wollen wir uns nach wie vor dafür
einsetzen, dass auch die Ärmsten wichti-
ge Vakzine erhalten. Doch wir werden
uns wohl noch mehr auf Ausbrüche vor-
bereiten. Dieses Thema ist Deutschland
ebenfalls ein Anliegen, und wir hoffen
weiterhin auf eine starke Förderung.
Die Fragen stellte Sonja Kastilan.

INS NETZ GEGANGEN


MEHR SPUREN,


MEHRKLANG
VON JOCHEN REINECKE

Seit einem Jahr grassiert in der Demokratischen Republik Kongo das


Ebola-Virus. Zugleich sorgen Masern und Cholera für noch viel größere


Probleme. Ein Gespräch mit dem Epidemiologen Seth Berkley.


Sterbende Patienten wollen nicht
übers Sterben reden. Warum sollten sie auch?

Von Gerald Wagner


AB IN DIE BOTANIK


IM GESPRÄCH


SOZIALE SYSTEME


Plan Ebola


Seth Berkley,Mediziner
und Epidemiologe, seit
2011 Geschäftsführer
der Impfallianz Gavi,
einer internationalen
Organisation mit
Sitz in Genf.
Foto Archiv

Illustration Charlotte Wagner


Das gute Tabu


BETULA, DU


ALTE PIONIERIN
VON SONJA KASTILAN

Mussa Kathembo wird zu Grabe getragen. Er ist eines von mehr als 1800 Opfern der aktuellen Ebola-Epidemie. Foto AP/Jerome Delay

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