Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
101

Filme

Das Beste zweier Welten


 Es gibt zwei Gründe, ins Kino zu
gehen, so ließe sich eine Theorie dieses
Mediums zusammenfassen: entweder die
Dialoge oder die Autoverfolgungsjagden.
Die Tradition des Theaters oder die des
Jahrmarkts. So gesehen verbindet »Fast
& Furious: Hobbs & Shaw« das Beste
zweier Welten – im Redeteil des Films
beschimpfen sich die beiden Hauptfigu-
ren Luke Hobbs (gespielt von Dwayne
Johnson, bekannt geworden als Wrestler
unter dem Kampfnamen The Rock) und
Deckard Shaw (Jason Statham) endlos
und höchst amüsant. Der Rest besteht im
Wesentlichen aus vollkommen überdreh-
ten Autorennen, auf der Straße, in der
Luft, in verlassenen ukrainischen Kraft-

werken (die dabei selbstverständlich zer-
stört werden) und auf Hawaii. Als die
Filmreihe 2001 mit »The Fast and the
Furious« begann, spielte sie in der Szene
illegaler Autorennen. Von dieser ver-
gleichsweise realistischen Anmutung
hat sie sich längst befreit: »Hobbs &
Shaw«, der neunte Teil, der jetzt in
den Kinos läuft, ist eine Mischung
aus »Terminator«, »James Bond« und
»Mission: Impossible«, ein herrlich
durchgeknallter Quatschfilm, der durch
nichts anderes zusammengehalten wird,
als den Willen, zwei Stunden lang zu zei-
gen, wie Menschen an Hochhausfassaden
herumturnen oder mit dem Motorrad
durch Linienbusse krachen. Aktionen,
die im echten Leben den sofortigen Tod
zur Folge hätten – und hier aussehen wie
ein leichter und lustiger Spaß. RAP

Elke SchmitterBesser weiß ich es nicht

Krampf und Trost


In seinem sehr komischen Dia-
logroman »Die Schlange«
verarbeitet der russische
Schriftsteller Wladimir
Sorokin die geselligen
Aspekte der sowjetischen
Mangelwirtschaft. Die Men-
schen stellen sich an, das ist der Beginn
der Geschichte, ohne zu wissen, was
man am Kopf der Schlange verkauft: Es
wird schon etwas Brauchbares sein –
und man hat ja nichts zu verlieren
außer persönlicher Zeit (die sowieso
nicht verwertbar ist), doch man wird in
jedem Fall gut unterhalten.
Es brauchte unerschrockene Autoren
der Innenschau, um von den Spielarten
der Niedrigkeit in der freien Markt -
wirtschaft zu erfahren, welche sich in
der menschlichen Seele stante pede ent-
falten, wenn zum Beispiel mitten im
Feriensommer ein Konzert in einer win-
zigen Kirche auf einer kleinen ostdeut-
schen Insel gegeben wird und es mehr
Interessenten als Plätze gibt. Die
Knappheit des Gutes fördert unchrist -
liches Verhalten wie Drängeln und
Schummelei und führt zu einer gewalti-
gen Verdüsterung des Menschenbildes –
die wiederum durch Meister der Innig-
keit wie Johann Sebastian Bach und
Matthias Claudius (der ewige Hit: das
»Abendlied«) bald wieder gelöscht wird
und geradezu überirdischen Glanz auch
auf jenen Gesichtern entfaltet, die den
lieben Gott sonst über Jahrzehnte
gemieden haben (wobei Bach, heute
schwer zu glauben, vor 190 Jahren wie-
derentdeckt werden musste für das
Gedächtnis der Menschheit – durch
einen Kollegen wie Felix Mendelssohn
Bartholdy).
Nun gab es in diesen Inselferien den
musikalischen Zufall, dass zwei En -
sembles unabhängig voneinander ein
Stück des Walisers Sir Karl Jenkins im
Repertoire hatten – ein britischer Kom-
ponist unserer Tage und ein Meister
des Minimalismus mit Swing: leicht zu
hören, von diskreter Komplexität und
in humaner, geradezu nachbarschaft -
licher Weise erhebend, wie die toskani-
schen, urbanen Hügel oder das Auen-
land der Hobbits.
Und so verließ die kleine, zufällige
Gesellschaft die winzige Kirche dann
doch geläutert und unbeschwert, in der
ein Engel, androgyn, aber erwachsen,
mit einer entblößten Brustwarze
schwebt.

An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und
Nils Minkmar im Wechsel.

Literatur

Ich bin ein Wunder


 Hermann Hesse war verliebt. Gut, er
hatte die junge Erzählerin Helene Voigt
zwar noch nicht getroffen, aber sie hatte
Gedichte von ihm in einer Zeitschrift
gelesen und fand sie herrlich und schrieb
es ihm. Das war 1897, der Autor war 20.
Sie schickte ihm ein Porträt von sich, er
war begeistert, eilte zum Fotografen,
um ein Gegenbild schicken zu können.
Zu spät. Sie hatte sich
inzwischen mit einem
anderen verlobt. Hesse
war erschüttert, doch als
er erfuhr, dass der Bräu -
tigam der junge Verleger
Eugen Diederichs war,
ging es ihm gleich wieder
besser. Der könne doch
ein Buch von ihm verle-
gen, er schreibe auch
Erzählungen. Diederichs
zögerte, Helene drängte
ihn. Das Buch erschien:
»Eine Stunde hinter Mitter-


nacht«, das erste Prosawerk des späteren
Literaturnobelpreisträgers, Auflage
600 Exemplare. Im ersten Jahr verkauf-
ten sich 53 Stück. Der Dichter Rainer
Maria Rilke urteilte darüber: »Die Kunst
ist nicht ferne von diesem Buch.« Hesses
Mutter schrieb von »Wust und Schmutz«,
vor dem der Sohn hoffentlich selbst bald
Ekel empfinde. Manche Sätze seien so
unanständig, dass kein Mädchen sie
je lesen solle. Jetzt, 120 Jahre später, hat
der Diederichs Verlag das Buch neu
aufgelegt (112 Seiten;
16 Euro). Und man muss
sagen, Rilke hatte viel-
leicht die schlechteren
Augen. Heute scheint die
Kunst von diesem Buch
außerordentlich fern zu
sein, »Sternenfern« hätte
der verliebte Hermann
wohl gedichtet. Doch er
ahnte, er war noch auf
dem Weg, er schrieb:
»Ich bin ein Neuer gewor-
den, mir selbst noch ein
BARTH / BPKWunder.«VW

Hesse 1898

FRANK MASI / UNIVERSAL PICTURES

Johnson in »Fast & Furious: Hobbs & Shaw«
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