Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
heit auszuhebeln. Dies sind die Fragen für
eine Art Zeitreise durch die Salzburger
Festspiele.
Die simpelste Reihung der Zeit ist die
Chronologie, und deshalb beginnt dieser
Text im zweiten Anlauf mit dem ersten
Tag der Reise, dem Samstag der ver -
gangenen Woche. Er beginnt, welch
schöner Name, am Irrsee, der rund eine
halbe Autostunde von Salzburg entfernt
zwischen niedrigen Bergen liegt. Hier
schlägt eines der Herzen der Salzburger
Festspiele.
Am Ufer in Zell am Moos hockt etwas
erhöht der alte Gasthof Zum Seewirt, der
nach zeitgemäßer Lesart Zur Seewirtin hei-
ßen müsste. Hier herrscht seit Langem die
wunderbare Johanna Enzinger, Inhaberin,
gute Seele, Theater- und Opernkennerin
und große Trösterin von Theater- und
Opernmenschen. Schon Wochen vor dem
Festival, während der Probenzeit, wohnen
sie hier, die Regisseure, Schauspieler, Dra-
maturgen und Bühnenbildner, nicht alle,
aber viele, sitzen auf der Terrasse, essen
fangfrische Reinanken, trinken österrei-
chische Weine und schöpfen Ideen aus den
Tiefen des Irrsees.
Es sieht nach Gewitter aus, und Johanna
Enzinger, die einen herzhaften Dialekt
spricht und ein Dirndl trägt, hält einen
Besen in der Hand, weil sie unter einem
Tisch kehren will, an dem gerade ein
Kind gegessen hat, aber jetzt hält sie inne,
denn jetzt muss es raus. Ein »Schas« sei
das mit der Politik in ihrem Heimatland,
was man wahrscheinlich mit ein »Scheiß«
übersetzen muss. Was sie besonders auf-
regt, was sie verletzt, ist ein Satz, den sie
kürzlich gehört hat. Österreich habe dieses
Ibiza-Video, diesen Heinz-Christian Stra-
che verdient, lautet dieser Satz. Verdient?
Wo die Menschen hier schuften wie sie,
die Seewirtin, anständig sind, Steuern zah-
len und nicht zu knapp. Nun gut, ein paar
Schlawiner kennt sie auch, aber keinen,
der einen Heinz-Christian Strache ver-
dient hat. Der Besen in ihrer Hand legt
einen Gedanken nahe, aber der verfliegt
schnell. Sie fegt weiter, begrüßt neue
Gäste.
Am Sonntag beginnt es mittags leise zu
regnen, Schnürlregen, der für Salzburg
typisch sein soll. Ein Mittagessen mit
Tobias Moretti steht an, der aktuell die
Titelrolle im »Jedermann« spielt, der
Konstante im Salzburger Programm. Wird
er offen über seine Ansichten zur Politik
in seinem Heimatland sprechen? Er hat
das Restaurant vom Hotel Blaue Gans vor-
geschlagen, kommt aber nicht, sagt auch
nicht ab.
Am Abend ist die Premiere von
»Jugend ohne Gott« im Landestheater.
Horváth erzählt die Geschichte eines Leh-
rers, der seine Schüler einen Aufsatz über
den Sinn von Kolonien schreiben lässt. Als

er darauf besteht, dass auch Afrikaner
Menschen sind, bekommt er Ärger. Bei
Horváth steht »Neger«, ein Wort, das die
Zeit zu Recht von der Bühne vertrieben
hat.
Die Schulklasse fährt dann in eine Art
Bootcamp, wo man die Jungs auf Krieg
vorbereitet. Ein Mädchen taucht auf, ein
Mord passiert. Der Lehrer könnte dazu et-
was sagen, schweigt aber lange, bis er doch
noch zur Wahrheit findet. Dann geht er
nach Afrika, um an einer Missionsschule
zu unterrichten.
Regisseur Thomas Ostermeier, eigent-
lich Intendant der Schaubühne am Lehni-
ner Platz in Berlin, lässt seine Schauspieler
zumeist zurückhaltend agieren, vor einem
Dschungel aus kahlen Bäumen. Insgesamt
ein gelungener Abend, das Publikum
klatscht heftig. Auch Jochen Jung macht
mit, am Ende ist er doch noch zufrieden
mit der Inszenierung, die ihm im eigent -
lichen Horváth-Teil aktuelle Bezüge er-
spart. Keine Anspielung auf Strache oder
sonst wen.
Fragt sich nur, warum Ostermeier die-
sen Monolog an den Anfang gesetzt und
so überdeutlich in unsere Zeit platziert hat.
Die Worte stammen aus einem authenti-
schen Brief aus dem Jahr 1935. Ein Mann,
der wieder Arbeit gefunden hat, bedankt
sich bei Hitler. Was soll uns das sagen,
wenn ein Zeitgenosse das Gleiche tut?

Im Programmheft sagt Ostermeier,dass
er keine »Art Schablone« für aktuelle Dis-
kussionen liefern wolle. So tut er es doch.
Ein Rätsel. Aber Rätsel kann man ja lösen.
Während »Jugend ohne Gott« im Lan-
destheater läuft, regnet es draußen, es reg-
net die ganze Nacht, und am Morgen reg-
net es immer noch, und die zuvor so
freundlich dahinfließende Salzach ist ein
brauner reißender Strom. Im Umland wur-
de schon eine Brücke weggeschwemmt, in
den Gassen der Stadt stoßen die Schirme
der betrübten Touristen gegeneinander.
Gegen Mittag lässt der Regen nach, und
die braunen Fluten beruhigen sich. Salz-
burg ist gerettet.
In diesen düsteren Stunden ist es eine
Freude und Erleichterung, die Galerie von
Thaddaeus Ropac aufzusuchen. Er hat Bil-
der von Roy Lichtenstein aufhängen las-
sen, selten gezeigte, ohne Comicfiguren,
nicht so viele Punkte. Die Freude kommt
von den Farben, die so schön leuchten in
dieser graubraunen Regenwelt.
Ropac, ein eleganter Mann, einer der
führenden Galeristen der Welt, hat sich
das Ibiza-Video nicht angeschaut, das will
er gar nicht sehen. Ihm reicht das, was er
gelesen hat. Es sei zum »Fremdschämen«,
sagt er. Meist ist Ropac nur den Sommer
über in Salzburg, während der Festspiele,
und dann ist er einer der fleißigsten Kon-
zert- und Theatergänger. An höchstens

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019 103


Kultur

ARNO DECLAIR

seine Dankesrede auf Hitler, die in Hor-
váths Text gar nicht vorkommt, wird dann
von anderen Schauspielern umgezogen, in
Kleidung, die nach den Dreißigerjahren
aussieht. Die Zeit fließt zurück, nun be-
ginnt das eigentliche Stück.
Zeit ist das bestimmende Thema zu Be-
ginn der Salzburger Festspiele, die Frage,
wie sich die Zeiten überlagern, ineinander -
fließen. Stücke aus alten Zeiten treffen auf
eine Gegenwart, die an vergangene Tage
anzuschließen scheint, in Österreich, auch
in Deutschland. Die rechten Parteien sind
stark, Rassismus macht sich breit, aber
lässt sich das mit dem Nationalsozialismus
gleichsetzen? Und wie wirkt sich die poli-
tische Krise auf diese Theater- und Musik-
tage aus, der Zusammenbruch der Regie-
rung nach dem infamen Ibiza-Video, in dem
sich FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache
bereit zeigte, Staatsräson und Pressefrei-

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