Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

mit ihren beiden Kindern beim
Frühstück, glücklich, es könnte
ein Werbefilm sein. Dann ent-
deckt Medea, dass ihr Mann sie
betrügt. Trennung, der Vorhang
geht auf. Auf der Bühne entfal-
tet sich das Drama, das mit dem
Mord der Mutter an den beiden
Kindern endet, weil ihre Gegen-
wart sie ständig an den Betrug
erinnert.
Diese Geschichte, die rund
2500 Jahre alt ist, versetzt der
Regisseur Simon Stone in die
Jetztzeit, schafft dabei großarti-
ge Bilder. Wer sie gesehen hat,
für den wird eine Tankstelle für
eine Weile nicht nur eine Tank-
stelle sein, sondern der Ort, an
dem Medea das Auto mit ihren
Kindern anzündet. Jubel.
Allerdings hat es der unpoli-
tische Stoff mit den Zeiten leich-
ter als der politische. Die Gefüh-
le einer Mutter, einer betroge-
nen Frau sind zeitlos, während
politische Verhältnisse über die
Jahrzehnte und Jahrhunderte
nur schwer zu vergleichen sind.
In der Pause steht draußen
inmitten all der Smokings und
großen Abendgarderoben ein
eher lässig gekleideter Mann und
raucht. Das ist Thomas Ostermei-
er, und dies ist die Gelegenheit, das Rätsel
zu lösen.
Herr Ostermeier, warum lassen Sie Ihre
Aufführung mit dem Dankesbrief begin-
nen?
Er lacht kurz, erzählt dann von einem
alten Genossen aus linksradikalen Zeiten
in einer Splittergruppe. Auch Ostermeier
hängt den Gedanken von damals längst
nicht mehr an, aber jener einstige Genosse
ist weit nach rechts marschiert, ins Reich
des Rassismus und der AfD. Ostermeier
nennt den Namen, möchte aber, leider, lei-
der, nicht, dass er in diesem Bericht auf-
taucht. Herrn X hat er gleichsam auf die
Bühne geschickt, damit er sich bei Hitler
bedankt. Also eher eine persönliche Ge-
schichte als eine didaktische. Was ein Zu-
schauer wie Jung aber nicht wissen kann.
Am Mittwoch schreibt die »Kronen Zei-
tung«: »Je heftiger sich die Dreckschleu-
dern drehen, desto normaler erscheint der
entlarvende Ibiza-Auftritt des ehemaligen
FPÖ-Chefs.«
Die große Mehrheit der FPÖ-Anhänger
möchte, dass Strache in die Spitzenpolitik
zurückkehrt, zeigt eine aktuelle Umfrage.
Einigen Leuten ist nicht zu helfen. Sie sind
entkoppelt, haben eigene Maßstäbe.
Die Premiere am Abend zeigt eine an-
dere Entkopplungsgeschichte, »Sommer-
gäste« von Maxim Gorki. Hier ist das Da-
tum der Uraufführung interessant, Novem-


ber 1904. Einige Wochen später brach in
Russland eine erste Revolution aus.
Die Bühne von Raimund Orfeo Voigt
ist zeitlos schön, hohe Räume, mit Holz
vertäfelt, hohe, schmale Fenster. Langsam,
fast unmerklich verschiebt sich dieses
Interieur zur Seite. In der schmucklosen
Kühle versammeln sich zwei Dutzend
Menschen, rasen, wüten, flackern, tanzen,
hohes Tempo, viel gespielte Nervosität,
Überspanntheit.
Es sind zum großen Teil Intellektuelle,
die aus Langeweile zusammen sind, aber
nicht zueinanderfinden. Liebe kann hier
nicht gelingen, jeder denkt letztendlich
nur an sich. Eine Frau überlegt kurz, wie
den sozial Schwachen zu helfen sei, aber
man ahnt schon, dass das nichts wird. Ein
Selbstmord am Ende, aber als gesellschaft-
liche Wesen sind alle längst Untote.

Auch diese Intellektuellen sind Entkop-
pelte, Bewohner einer Blase würde man
heute sagen. Denn das Stück wurde später
als Vorbote der Revolution von 1905
gesehen. Im Programmheft schreibt die
Schriftstellerin Olga Grjasnowa: »Die
Sommergäste sind noch immer – oder
eher schon wieder – ein erstaunlich aktu-
elles Werk. Das Bürgertum, das immerzu
lamentiert und sich besonders unzufrieden
gibt, ohne zu handeln, scheint der Jetztzeit
entnommen zu sein.«

Aber riecht es nach Revolu -
tion? In Österreich nicht, in
Deutschland nicht. Es geht im-
mer weiter. Wobei die meisten
Menschen in den Vorjahren der
großen Revolutionen nicht ge-
ahnt haben, dass sie bald einen
Umsturz erleben werden. Im
Moment alarmiert eher die
schleichende Auszehrung der
Politik, die Verkommenheit hier
und dort, die Etablierung von
Rassismus und anderer Men-
schenfeindlichkeit. Das Theater,
sosehr es sich bemüht, auch wie-
der in Salzburg, wird das nicht
ändern. Es wird vor allem von
Sommergästen für Sommergäs-
te gemacht.
Von einer Zeit war hier noch
nicht die Rede, von der Unzeit.
Zur Unzeit kommen die schreck-
lichen Dinge, der Tod zum Bei-
spiel, besonders der allzu frühe
Tod. Im Eingang zum Geburts-
haus des Salzburger Dichters
Georg Trakl läuft eine Audio-
Installation, die den Namen
»Club 27« trägt. Mitglieder die-
ses Klubs sind Amy Winehouse,
Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim
Morrison, Kurt Cobain und
Georg Trakl. Sie alle waren
große Künstler, sie alle sind mit
27 Jahren gestorben. Aus Lautsprechern
tönen ihre Texte.
In der Gemäldegalerie des Trakl-Hauses
arbeitet Dietgard Grimmer, ein weiterer
Fan des Festivals. Der Besuch bei ihr stand
nicht am Ende der Recherche, aber es geht
um das Ende. Der Zeitpfeil ist jetzt aufge-
brochen, es geht zurück zum Montag.
Grimmer hält das Ibiza-Video für eine
»katastrophale Peinlichkeit«, und ihr fehlt
der Aufstand der Kunst. Woran das liegt?
Sie sagt, etwas überraschend: »Es ist nicht
mehr schick, als Künstler betrunken im
Wirtshaus rumzusitzen.« Früher hätten
sich die Künstler getroffen, hätten sich in
Rage geredet und wären so auf Ideen ge-
kommen. Das sei weitgehend vorbei.
Die Künstler vernetzten sich im Inter-
net, aber man müsse miteinander reden.
Die Folge sei »Einzelkämpfertum«, das
nicht genug Durchschlagskraft entwickle
für Zeiten wie diese.
Am Ende dieses Besuchs erzählt sie
noch eine Geschichte. Einmal hatte sie
einen unangenehmen Termin, vor dem
sie sich fürchtete. Sie ging von der Galerie
aus los, lief durch den Eingang, und in
jenem Moment hörte sie eine Liedzeile
von Jim Morrison: »This is the end.« Sie
musste lachen, und der Termin verlief
glimpflich, das Ende muss warten. Ein
guter Schlusssatz.

106 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019


THOMAS AURIN
Szene aus »Médée« mit Sopranistin Stichina
Die schrecklichen Dinge kommen zur Unzeit, der frühe Tod etwa
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