Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
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D


er Tod der Historikerin Marie Sophie Hingst bewegt
mich Tag und Nacht. Mitte Juli wurde sie leblos in
ihrer Wohnung aufgefunden. Die Frage, die nun alle
an diesem Drama Beteiligten beschäftigt, treibt mich
um: War es richtig und notwendig, über die junge Frau und
ihre Lügengeschichten zu berichten?
Mein am 1. Juni im SPIEGELveröffentlichter Text hatte
eine besondere Vorgeschichte. Ein eher zufällig zustande
gekommenes Rechercheteam war zuerst auf den Fall aufmerk-
sam geworden. Einer Historikerin, einer Anwältin, einem
Archivar sowie einem auf jüdische
Familien spezialisierten Ahnenfor-
scher waren unabhängig voneinander
Unstim migkeiten im Blog »Read on
my dear, read on« von Frau Hingst auf-
gefallen, sie tauschten sich über Face-
book und E-Mails aus. Sie fanden he-
raus, dass Frau Hingst ihre in dem Blog
verbreitete jüdische Familienbiografie
erfunden und zur Beglaubigung dieser
Legende in der Holocaust-Gedenkstät-
te Yad Vashem 22 gefälschte Opferbö-
gen hinterlegt hatte. Als Frau Hingst
auf die mehrmalige Aufforderung, die-
se Geschichten nicht weiterzuverbrei-
ten und die Einträge in Yad Vashem
zu löschen, nur empört und aggressiv
reagierte, wandte man sich an zwei
namhafte deutsche Historiker, um sie
zu einer Intervention bei der Kollegin
zu bewegen, ohne Erfolg. Schließlich
wurde ich informiert, weil ich im ver-
gangenen Jahr zusammen mit Moritz
Gerlach bereits einen ähnlichen Fall
publiziert hatte, die Geschichte des
Hochstaplers Wolfgang Seibert, der
sich ebenfalls angebliche Holocaust-
Opfer in seiner Familienvita ausge-
dacht und es so zum Vorsitzenden der
jüdischen Gemeinde in Pinneberg ge-
bracht hatte (SPIEGEL43/2018).
Nach weiteren Recherchen bat ich Frau Hingst im Mai um
ein Treffen in Dublin. Bei dem Gespräch in einem Dubliner
Hotel ging es um den von ihr kürzlich veröffentlichten Bild-
band »Kunstgeschichte als Brotbelag« sowie um ihre angeb-
liche jüdische Familiengeschichte. Sie reagierte auf meine Kri-
tik an ihren biografischen Legenden selbstbewusst und kon-
zentriert und verteidigte sich rhetorisch geschickt. Ich übergab
ihr am Ende einen detaillierten Fragenkatalog, um ihr die
Möglichkeit zu geben, auch schriftlich dazu in Ruhe Stellung
zu nehmen. Davon machte sie keinen Gebrauch. Wenn Marie
Sophie Hingst während oder nach der Konfrontation eine
öffentliche Korrektur ihrer Lügengeschichten angekündigt


  • Am 23. Mai in Dublin.


hätte, wäre der Artikel in dieser Form nicht erschienen. Zwi-
schen unserem Gespräch am 23. Mai und dem Erscheinen der
Geschichte lagen acht Tage, die ungenutzt verstrichen.
Der Berliner Korrespondent der »Irish Times«, Derek Scal-
ly, hat Marie Sophie Hingst etwa eine Woche nach der Ver -
öffentlichung aufgesucht und ein anderes Bild von ihr gewon-
nen. Er zeichnet in seinem Porträt das Bild einer verwirrten,
hilflosen Person, die an der jüdischen Familienlegende ver-
zweifelt festhält. Er behauptet, ich hätte übersehen, in welcher
katastrophalen psychischen Verfassung Frau Hingst gewesen
sei. Was er dabei übersieht, ist die
Tatsache, dass Frau Hingst vor der
Publikation des Artikels keineswegs
verzweifelt und niedergeschlagen
war, sondern souverän, kämpferisch
und entschlossen. Er ist ihr erst be-
gegnet, als ihre fiktive Identität zu-
sammengebrochen war. Wir haben
zwar dieselbe Person getroffen, aber
in zwei völlig unterschiedlichen Le-
benssituationen.
Scallys Bericht löste in den sozia-
len Netzwerken ein starkes Echo aus.
In vielen Kommentaren wird ihre
von ihm kolportierte Aussage, sie
habe sich durch den SPIEGEL»wie
bei lebendigem Leibe gehäutet« ge-
fühlt, als Beleg seelischer Grausam-
keit gesehen. Die Tatsache, dass
Marie Sophie Hingst sechs Jahre lang
systematisch Lügen über ihre an -
geblich im Holocaust umgekomme-
nen Vorfahren verbreitet hat – nicht
nur in ihrem viel gelesenen und
prämierten Blog, sondern auch in
öffentlichen Reden vor großem
Publi kum –, erscheint dagegen häu-
fig als lässliche Sünde oder wird gar
nicht thematisiert.
Die Legenden von Frau Hingst
müssen jedoch von allen wirklichen
Holocaust-Überlebenden und ihren Familien als Verhöh-
nung der Opfer empfunden werden. Zudem liefern diese
Fiktionen den Holocaust-Leugnern gefährliche Argumente.
Denn wenn – wie im Fall Hingst – manche Schicksale erfun-
den sind, könnte ja auch noch viel mehr erfunden worden
sein. Es verstört mich, dass man darauf immer wieder hin-
weisen muss. Und es irritiert mich auch, dass in einigen Kom-
mentaren auf verschwiemelte Weise darauf hingewiesen
wird, dass meine Großmutter Lilli tatsächlich in Auschwitz
ermordet wurde. Da schwingt die Unterstellung mit: Der
Mann ist ein bisschen zu sensibel bei dem Thema. Vielleicht
aber sollten vor allem jene Deutschen, die keine Angehörigen
im Holocaust verloren haben, in solchen Fällen besonders
sensibel sein.

Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem,
Redakteur Doerry, Bloggerin Hingst*

In eigener Sache


Die Verhöhnung der Opfer


Warum über Marie Sophie Hingst berichtet werden musste.
Eine Erklärung von Martin Doerry

MICHAEL KAPPELER / DPA
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