Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

E


thiopian Airlines Flug 302 brauch-
te am 10. März ungefähr sechs
Minuten von Addis Abeba nach
Ejere, einer weit zersiedelten An-
sammlung kleiner Bauernhöfe am Rand
des gewaltigen Hochlands von Abessinien.
Mit dem Auto ist die Strecke in drei Stun-
den zu schaffen, die Fahrt geht erst an Roh-
bauten entlang in den südöstlichen Vor -
orten der äthiopischen Hauptstadt, dann
über den makellosen, sechsspurigen Ad-
dis-Adama-Expressway, der von Chinesen
erbaut und 2014 eröffnet wurde. Auf hal-
ber Strecke ist eine Ausfahrt zu nehmen,
dann ist man bald auf schmalen, steinigen
Schotterpisten unterwegs, gerade breit ge-
nug für ein Auto oder ein Fuhrwerk. Hier
draußen liegt die Stelle des Unglücks. Ob
Tatort treffender wäre, ist zu ermitteln.
Im welligen Gelände 2000 Meter über
dem Meer wirken Erde und Gräser ver-
brannt, das einzige Grün stammt von Eu-
kalyptusbäumen, die vereinzelt in der
Landschaft wachsen und den Hirten und
ihren Ziegen Schatten spenden. An den
Wegen stehen mannshohe Verschläge, die
sich an Markttagen in Schankbuden ver-
wandeln, aus denen der von den Bauern
gebrannte Schnaps verkauft wird. Es ist
ein karger Landstrich.
Der Krater, den das Flugzeug am



  1. März um 8.44 Uhr schlug, ist unge-
    fähr zehn Meter tief, sein Durchmesser ist
    nach den Bergungsarbeiten mit Schaufel-
    baggern schwer zu bestimmen. Aber Men-
    schen sehen klein aus, wenn sie am Rand
    der Grube stehen. Mit 500 Knoten raste
    die Maschine am Ende auf den Grund zu,
    926 Kilometer pro Stunde, und dann setz-
    te die Physik ihre Urkräfte frei. Der Flieger
    bohrte sich tief in den Boden, Erde und


Steine wurden schätzungsweise 50 Meter
und höher in die Luft geschleudert, mit al-
lem, was einmal ein Flugzeug war.
Der Rumpf, das Fahrwerk, die Trag -
flächen, Triebwerke, Türen, Fenster, Sitz-
reihen, das Gepäck, die Menschen wurden
brutal gestaucht, in Stücke gerissen und
umhergeschleudert, viele Metallteile noch
zusätzlich grotesk verdreht, weil die Ma-
schine unmittelbar vor dem Aufprall eine
Kurve flog, die keine Rettung mehr brach-
te. Das Kerosin in den Tanks explodierte
nicht, nichts brannte, der Treibstoff ver-
dampfte augenblicklich aufgrund der ex-
tremen Geschwindigkeit, die alle Materie
erfasst hatte.
Von Beginn an stellten sich bittere Fra-
gen, von denen die quälendste lautet, ob
dieses Unglück vermeidbar gewesen wäre,
ob es nicht sogar hätte verhindert werden
müssen. Unerträglich ist die Vorstellung,
dass die 157 Toten von Ejere zu Opfern ei-
nes Industrieskandals geworden sein könn-
ten. Der Krater wäre dann als Unfallstelle
falsch bezeichnet, er müsste Tatort heißen.
Der Punkt, an dem die Spurensuche be-
ginnt.
Von hier führen direkte Verbindungs -
linien nach Indonesien, wo am 29. Okto-
ber, keine fünf Monate zuvor, Lion Air
Flug 610 ebenfalls in rasendem Sturzflug
auf die javanische See aufschlug, auch nur
Minuten nach dem Start. Dies im Gedächt-
nis und die neuen Trümmer von Äthiopien
vor Augen, tat sich in der Welt der Fliege-
rei im März ein Abgrund schlimmer Ah-
nungen auf. Alle Augen richteten sich auf
ein Flugzeug, das erst seit Kurzem auf dem
Markt war: die Boeing 737 Max.
Die Maschine wurde aus dem Verkehr
gezogen, China brauchte für diesen Ent-

Titel

Kopflos

in Seattle

KatastrophenDer Absturz zweier baugleicher Flugzeuge


bedroht nicht nur den Boeing-Konzern. Er stürzt
auch alle am Flugbetrieb beteiligten Branchen in eine

Sinnkrise: Sind die 346 Toten von Indonesien
und Äthiopien die Opfer mörderischer Konkurrenzkämpfe?

Geparkte 737-Max-Jets auf Boeing-Field in Seattle

Es geht um nichts weniger als die Existenz des Konzerns.


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