Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

K


aum eine europäische Metropole
verändert sich so rasant wie Ber-
lin. Die Stadt wächst seit einiger
Zeit um fast 48 000 Menschen
pro Jahr, Baulücken, die seit dem Zweiten
Weltkrieg bestanden haben, schließen sich
wie im Zeitraffer. Wer diese Stadt porträ-
tieren will, muss ein guter Sprinter sein.
Die Planungen an dem Episodenfilm
»Berlin, I Love You« begannen vor rund
zehn Jahren. 2015 wurde das erste Seg-
ment gefilmt, der größte Teil der Drehar-
beiten fand im Sommer und Herbst 2017
statt. Nun kommt der Film ins Kino. Es ist
eine zehn Episoden umfassende deutsche
Produktion, in der Hollywoodstars wie
Helen Mirren, Keira Knightley und Mickey
Rourke mitspielen, und sie schiebt sich mit
letzter Kraft über die Ziellinie, während
die Stadt Berlin in der Zwischenzeit schon
einige weitere Runden gedreht hat.
»Berlin, I Love You« ist eine filmische
Großbaustelle, die mit großer Verzöge-
rung fertiggestellt wurde – wohl auch des-
halb streiten sich nun die Verantwortlichen
erbittert, wer Schuld daran hat, dass bei
diesem Projekt so viel schiefgelaufen ist.
Produzenten, Lizenzgeber und Verleiher
werfen sich gegenseitig Versäumnisse, Ver-
stöße gegen getroffene Vereinbarungen
und Vertragsbrüche vor. Der chinesische
Künstler Ai Weiwei, dessen Episode aus
dem Film herausgeschnitten wurde, erhebt
Zensurvorwürfe (SPIEGEL20/2019).
Und dann ist da noch die Katastrophe
um den Filmtrailer. Als er Anfang des Jahres
veröffentlicht wurde, brach ein Shit storm
los. Eine »Unverschämtheit« sei es, so viele
Berlinklischees aufeinander zu tür men, hieß
es, das Werk sei »film gewordene Schuppen-
flechte«. Gesehen hatte den Film zu diesem
Zeitpunkt noch kaum jemand.
Der deutsche Verleih will offenbar, dass
es dabei bleibt, und zeigte »Berlin, I Love
You« nur sehr wenigen Journalisten. Auch
eine Premierenfeier wird es nicht geben.
Der Film scheint vom Verleih eher ver-
steckt als herausgebracht zu werden.


* Mit den Schauspielern Veronica Ferres, Michelangelo
Fortuzzi und Diego Luna, Mickey Rourke, Helen
Mirren und Liam Gross, Max Raabe, Keira Knightley.

Tatsächlich ist »Berlin, I Love You« weit
davon entfernt, ein geglückter Film zu
sein – ein Desaster ist er aber auch nicht.
Es gibt stille und starke Momente, platte
und peinliche. Ein Sammelsurium, so
hetero gen wie die Stadt, die er zeigt. Vor
allem wird deutlich, wie schwer es ist,
einen Film über Berlin zu drehen und die
ungewöhnlichen Orte der Stadt mit guten
Geschichten zu füllen.
»Berlin, I Love You« ist der fünfte Teil
einer Reihe von Stadtporträts, die 2006
mit »Paris, je t’aime« begann und 2008
mit »New York, I Love You« fortgesetzt
wurde. Der französische Produzent Em-
manuel Benbihy hatte die Idee, Liebesge-
schichten aus den Metropolen dieser Welt
zu erzählen.
Trotz Stars wie Gérard Depardieu oder
Natalie Portman und prominenter Regis-
seure wie den Coen-Brüdern oder Fatih
Akin spielten die Filme über Paris und

New York nur wenig Geld ein. Der deut-
sche Produzent Claus Clausen, schon an
»New York, I Love You« beteiligt, ent-
schloss sich dennoch, auch ein Berlinpor-
trät in Angriff zu nehmen.
Berlin sei »die Essenz der Welt«,
schwärmte er im September 2017, als er
mit seinen Partnern im Produktionsbüro
nahe dem Alexanderplatz saß. »Du kannst
dich in dieser Stadt frei entfalten, wer jung
und hip ist, will nach Berlin.« Das weit-
räumige Büro, in Paris oder New York un-
bezahlbar für die Produzenten eines Sie-
ben-Millionen-Euro-Films, war vollgestellt
mit visuellen Entwürfen für die einzelnen
Episoden. Es war verblüffend zu sehen, wie
viele unverbrauchte, aufregende Schau-
plätze diese Stadt noch hat.
Zum Beispiel das ehemalige Postfuhr-
amt in Berlin-Mitte. Eingefallenes Glas-
dach, meterhohe Bäume ragen aus dem
Gebäude in die Höhe. Eine »Alice im Wun-

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Kultur

Katastrophenfilm


Kino »Berlin, I Love You« sollte vom Hype um die deutsche Hauptstadt profitieren,


mit Stars wie Helen Mirren, Keira Knightley und Mickey Rourke. Das ging
ziemlich schief. Nun läuft er an – und einige der Beteiligten bekämpfen sich erbittert.

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

Szenen aus »Berlin, I Love You«*
Bilder einer widerspenstigen Stadt
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