Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
den Arabischen Emiraten oder in Japan
funktionieren. Xenophobie ist für Holly-
wood riskant geworden.
Doch wenn Filme massiv umgeschnitten
werden, bevor sie in die chinesischen Ki-
nos kommen, ist das problematisch. Gera-
de in diesem Jahr, in dem der 70. Jahrestag
der Volksrepublik begangen wird, scheint
die Zensur dort besonders rigide zu sein,
auch gegenüber einheimischen Produktio-
nen (SPIEGEL30/2019).
Muss man an Peking denken, wenn man
in Moabit dreht? Kann man in einer Stadt
wie Berlin, in der man immer wieder auf
in den Boden eingelassene »Stolpersteine«
stößt, die an die Opfer des Holocaust erin-
nern, oder durch Pflastersteine im Asphalt
an den Verlauf der Mauer gemahnt wird,
einen unpolitischen Film machen, der die-
ser Stadt gerecht wird?
Man merkt »Berlin, I Love You« an,
dass sich die Stadt dem »Cities of Love«-
Konzept widersetzt. Dass sie nicht, wie
Paris oder New York, eine Stadt mit klarer
Identität ist, eine Marke. Weil sie sich
unaufhörlich wandelt, ist es schwer, sie in
Bilder zu fassen.
Vielleicht sollte man eher nebenher -
rennen, statt sie einzufangen, live, wie
es der Dokumentarfilmregisseur Volker
Heise vor gut zehn Jahren in seinem Fern-
sehprojekt »24h Berlin« tat, als er mit
68 Regisseuren einen Tag lang durch die
Hauptstadt streifte.
»Berlin, I Love You« versucht – manch-
mal erfolgreich, manchmal unzulänglich –,
die vielen Subkulturen der Stadt abzu -
bilden, erzählt von sexueller Identitäts -
suche, von Freiheit und Verdrängung. Und
doch spürt man von Anfang an, dass der
Film – wie Berlin, das immer wieder zwi-
schen Großspurigkeit und Provinzialität
schwankt – kein wirklich souveränes, ent-
spanntes Selbstbewusstsein hat.
Wer das halb verfallene Postfuhramt in
Mitte betritt, in dem sich die Natur die
Stadt zurückerobert hat, kann nicht anders
als verzaubert sein. Wie ist es möglich,
dass es einen solchen Ort in einer Stadt,
in der gerade jede Brache zubetoniert
wird, immer noch gibt?
Bei den Dreharbeiten im Herbst 2017
wirkte der Schauplatz geradezu verwun-
schen. Im fertigen Film sieht man nun, wie
Max Raabe mit seinen Musikern darin auf-
tritt. Vor ihnen stehen Schilder, auf denen
zu lesen ist, wer spielt: das Palast Orches-
ter. Damit auch jeder Zuschauer in Paris,
New York oder Peking weiß, wer hier die
Musik macht. Lars-Olav Beier

114 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

http://www.spiegel-geschichte.de

Lesen Sie in diesem Heft:


Jiddisch Vom »Frauendeutsch« zur Weltsprache


Aufk lärungszeit Der Streit um gleiche Rechte


Jüdische Nazi-Jäger


»Ich tanzte auf Hitlers Asche«


X^ Auch als App für iPad, Android
sowie für PC/Mac. Hier testen:
geschichte.spiegel.de/digital

Jetzt im


Handel


Video
Liebe und Langeweile
in Berlin
spiegel.de/sp322019berlin
oder in der App DER SPIEGEL
Free download pdf