Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019 117


Nachrufe


Jesper Juul, 71
Kinder ständig zu loben, hielt er für eine sonderbare Ver -
irrung, sie zu bestrafen erst recht. Der dänische Pädagoge
Jesper Juul war überhaupt gegen die Anwendung billiger
Tricks in der Erziehung – im Lob sah er vor allem die wohl-
meinende Dressurabsicht. Der große, schwere Mann, der
als Schiffskoch, Bauarbeiter und Tellerwäscher sein Berufs-
leben begonnen hatte, zeigte ein enormes Gespür für die
Eigenständigkeit und Würde der Knirpse. Für ihn waren sie
eben keine Mängelwesen, aus denen es mittels geprüfter
Methoden etwas Komplettes herzustellen galt. In rund
40 Büchern, übersetzt in viele Sprachen, entwickelte Juul
seine Vorstellung davon, was Kinder wirklich brauchen:
Vorbilder, an denen sie abschauen können, wie gutes Leben
geht; Eltern, die ihnen auf Augenhöhe begegnen, aber
auch, wo nötig, Grenzen ziehen. Vom Bestreben, das alles
perfekt hinzukriegen, riet er hingegen dringend ab – »gut
genug« sei schon prima. Mit dieser entspannten Philo -
sophie wurde Juul zum wohl einflussreichsten Erziehungs -
experten der Gegenwart. Und er nahm unzähligen Eltern
die Angst vorm Versagen, die andere Ratgeber so gern
schüren. Jesper Juul, der an einer seltenen Autoimmun -
erkrankung litt, starb am 25. Juli in Odder bei Århus.MDW

Ulrich Finckh, 91
»Pimpf, Pfarrer, Pazifist« lautete der
Titel seiner Autobiografie. Vehement
setzte sich der Theologe für Wehr-
dienstverweigerer ein; er kritisierte
das »Zwangssystem der Wehrpflicht«
und widersprach der These, die Bun-
deswehr sei ein Spiegelbild der Ge -
sellschaft – wegen des »hohen Anteils
rechtsradikalen Gedankengutes«
bei der Truppe. Wie viele Männer seiner Generation war
Ulrich Finckh durch den Zweiten Weltkrieg geprägt worden;
mit 17 Jahren musste er zur Wehrmacht. Seit 1970 leitete er
als Pfarrer eine evangelische Kirchengemeinde in Bremen.
Doch die Seelsorge füllte ihn nicht aus. Als Vorsitzender der
Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverwei-
gerer aus Gewissensgründen stritt Finckh mit Politikern und
Militärs – zu einer Zeit, in der Wehrdienstverweigerer oft
als »Drückeberger« diffamiert wurden. »Soldatsein verroht
unglaublich«, sagte Finckh, »auch schon in Friedenszeiten.«
Ulrich Finckh starb am 25. Juli in Bremen.MWO

Johann Kresnik, 79
Gewalt und Aufruhr waren
die Hauptthemen des Tän-
zers und Regisseurs, der
neben Pina Bausch zu
einem Erneuerer des euro-
päischen Tanztheaters wur-
de. Johann Kresnik wuchs
im österreichischen Kärnten
auf und war drei Jahre alt,
als Partisanen seinen Vater
erschossen, der als Nazi -
kollaborateur galt. Nach
einer Lehre als Werkzeug-
macher, dem Beitritt zur
Kommunistischen Partei
und einer Tanzausbildung
begann er in den Sechziger-
jahren am damals fort -
schritt lichen Bremer Theater
als Tänzer und ent wickelte
in ersten Regie arbeiten
unter dem Schlachtruf

»Ballett kann kämpfen«
ein auf Handlung fixiertes
Tanztheater mit grellen
Effekten. Stets auf der
Suche nach provokanten
Bildern, manchmal auch
verletzend gegenüber Mit -
arbeitern, erzählte er von
den Schrecken kleinster
Machtgefüge (»Familien -
dialog«) und der tückischen
Strahlkraft von Künstlern
und Visionären (»Pasolini«,
»Ulrike Meinhof«), aber vor
allem von der Ungerechtig-
keit der herrschenden Ver-
hältnisse. Kresnik sorgte
in Heidelberg, Berlin und
Bonn oft für lustigen Kra-
wall und manchmal auch
für tolle Kunst; bis ins Alter
bekannte er sich zum So -
zialismus: »Wir brauchen
eine Utopie, und für die
mache ich Theater.« Johann
Kresnik starb am 27. Juli in
Klagenfurt. HÖB

Ferdinand von Bismarck, 88
Standesgemäß wohnte der
Fürst lange im Familien-
schloss, im beschaulichen
Friedrichsruh bei Hamburg.
In jungen Jahren war der
Urenkel des ersten Deut-
schen Reichskanzlers Otto
von Bismarck viel herum -
gekommen: In London,
Berlin, Rom verbrachte der
Diplomatensohn seine
ersten Kindheitsjahre. 1943,
als der Vater nach dem
Sturz Mussolinis seinen Pos-
ten als Gesandter in Rom
verlor, kam der 13-Jährige
zum Großvater nach Schwe-
den. Nach dem Zweiten
Weltkrieg studierte Ferdi-
nand von Bismarck unter
anderem Jura in Freiburg,
in Paris lernte er seine Ehe-
frau Elisabeth Gräfin Lip-
pens kennen. Als 1975 sein
Vater verstarb, erbte er den
Fürstentitel und ein großes
Ver mögen. Seine Immobi-
liengeschäfte führten ihn bis
nach Paraguay, der Forst -
betrieb Sachsenwald in
Schleswig-Holstein erwirt-
schaftet Millionenumsätze.
Wie in allen guten Adels -
familien gab es auch
Que relen, die Klatschpresse
sprach von einem »Erb -
folgekrieg«. 2014 bestimm-
te Bismarck, dass sein jüngs-
ter Sohn Nachfolger für den
Vorsitz des Hauses werden
solle. Standes bewusstsein
war dem Tradi tionalisten
nicht peinlich. Auf die Fra-
ge, ob die An rede Durch-
laucht heute noch angemes-
sen sei, antwortete er ein-
mal verschmitzt: »Selten,
aber Sie können es anwen-
den, wenn Sie denn wollen.
Ich würde nicht vom Stuhl
fallen.« Ferdinand von Bis-
marck starb am 23. Juli in
Reinbek bei Hamburg. KS

FRANZ BISCHOF / LAIF

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INGO WAGNER / DPA

JENS-ULRICH KOCH / DDPA IMAGES
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