Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

schluss wenige Stunden, die USA nahmen
sich dafür drei Tage Zeit. Seither stehen
550 der neuen Flugzeuge rund um den
Globus still, Listenpreise bis zu 135 Mil-
lionen Dollar. Ginge es nach dem Boeing-
Konzern, wäre die Maschine längst wieder
im Einsatz, geflickt mit einem »Software-
update«. Aber seitdem selbst dieses Up-
date Ende Juni bei Tests versagt hat, geht
die Krise weiter. Die Max bleibt am Boden,
Boeing im Fokus.
Ein Team von Redakteuren und Repor-
tern des SPIEGELhat in den vergangenen
Wochen unter anderem in Seattle, New
York, Chicago und Washington, in Addis
Abeba, Jakarta und Paris recherchiert, um
die Vorgänge zu erhellen. Sie führten In-
terviews mit Boeing-Offiziellen und Air -
linemanagern, besuchten Boeing-Fabriken
und ließen sich von Fachleuten – auch in
einem Flugsimulator – die technische Seite
der Probleme erklären. In Äthiopien und
Indonesien machten sie Augenzeugen der
Abstürze ausfindig und führten rund um
die Welt Gespräche mit Hinterbliebenen,
Anwälten und Experten.
Dabei lernte der SPIEGELviel über die
bizarren Gepflogenheiten amerikanischer
Zulassungsverfahren und erfuhr von der
Beschwerde eines Whistleblowers aus dem
Boeing-Konzern, der sich im Juni mit
schweren Vorwürfen gegen den eigenen
Arbeitgeber an die europäische Luftauf-
sichtsbehörde Easa wandte.
Ein Best-Case-Szenario ist für den Aus-
gang dieser Affäre kaum noch vorstellbar.
Nur wenn sich am Ende aller Ermittlungen
und Verfahren herausstellen sollte, dass
sich in Indonesien und Äthiopien Unfälle
in herkömmlichem Sinn ereignet haben,
deren Verlauf sich nur zufällig ähnelt,
blieben die Risikoabwägungen unseres
modernen Way of Life intakt, trotz allem.
Wenn aber klar werden sollte, dass
346 Menschen starben, weil Industrie und
Aufsichtsbehörden grob fahrlässig oder so-
gar vorsätzlich lax zu Werke gingen, dann
hätte das weitreichende Folgen für die In-
dustrie, die Glaubwürdigkeit der Behör-
den sowie für unser gesamtes, alltägliches
Leben.


In New York war es Nacht, als die Boeing
in Äthiopien zerschellte, Marc Moller hör-
te davon am Sonntagmorgen gleich nach
dem Aufwachen. Eine Maschine der Ethio -
pian Airlines sei auf dem Weg nach Nairo-
bi verunglückt, 157 Seelen an Bord. Sein
erster Gedanke war: Lion Air.
Bald schon riefen die ersten TV-Sender
bei ihm an, CNN, NBC, die immer Exper-
ten brauchen, wenn »Breaking News«
über die Ticker laufen. Die Produzenten
der Nachrichtenkanäle haben die Nummer
des New Yorker Anwalts für alle Fälle ge-
speichert, in denen irgendwo auf dieser
Welt ein Flugzeug vom Himmel fällt. Der


80-jährige Anwalt ist unter seinen Kolle-
gen eine Legende. Wenn es darum geht,
Hinterbliebene zu vertreten, macht ihm
keiner etwas vor. Airlines, Flugzeugbauer,
aber auch Autoverleiher haben gelernt,
ihn zu fürchten. Wenn ein Fall es hergibt,
hat Moller kein Problem damit, die Ge-
genseite als »Massenmörder« zu verun-
glimpfen. Als er Angehörige der German-
wings-Opfer vertrat, warf er den Ausbil-
dern des Suizid-Piloten vor, nicht bemerkt
zu haben, »wie kurz die Zündschnur die-
ser ›Bombe‹ war«.
Einen Tag nach dem Absturz traf sich
Moller, ein Seniorpartner der Anwalts-
kanzlei Kreindler & Kreindler an der Third
Avenue von Manhattan, mit Justin Green,
der vor seinem Leben als Anwalt Kampf-
flugzeuge für die Marines geflogen hatte.
Green hatte sich schon an die Arbeit ge-
macht und die Radardaten von Ethiopian
302 ausgewertet. Nun legten sie die Daten
von Lion Air 610 daneben. »Auch ohne
die Auswertung der Flugschreiber war uns
klar, was für eine Ähnlichkeit die beiden
Abstürze aufwiesen«, erinnert sich Moller.
Für die Anwälte bestand kein Zweifel. »Da
muss etwas ganz grundsätzlich faul sein
mit der 737 Max.«
Beide Flugzeuge zogen vor ihren Sturz-
flügen unerklärliche Schlangenlinien in
den Himmel, vertikal, ein wildes Hoch
und Nieder. Es wirkte, als würden die Pi-
loten mit ihren Maschinen kämpfen. Sie
stiegen, sie sanken, um Hunderte Fuß, und
sie wurden dabei zum Ende hin immer

schneller, und sie sanken immer steiler, bis
am Ende so viel Druck auf den Steuerklap-
pen der Heckflosse gelegen haben muss,
dass ein Pilot übermenschliche Kräfte ge-
braucht hätte, um sie noch mechanisch
und per Hand zu »trimmen«. Moller und
Green von Kreindler & Kreindler, spezia-
lisiert auf Katastrophen, hatten einen Fall,
und was für einen.
Die beiden erzählen davon bei einem
Besuch in Mollers kleinem Büro mit Blick
auf den East River. An den Wänden hän-
gen Bilder, die das Zimmer in eine Ruh-
meshalle verwandeln. Es sind Gerichts-
zeichnungen, in deren Mittelpunkt stets
Moller selbst steht.
»Hier«, sagt er, »das bin ich beim Ame-
rican-Airlines-Fall«, 1995 war das, damals
verirrte sich eine Boeing 757 im kolum-
bianischen Gebirge und krachte am Ende
gegen einen Berg. Eine andere Zeichnung
zeigt Moller vor einem Richter, dem sie
gerade einen Film über die Rekonstruk -
tion des Absturzes einer Avianca-Maschi-
ne in New York vorgeführt hatten. Der
Richter schaut Moller über die Schulter,
blickt in die Augen des gegnerischen
Anwalts. »Als er den Anwalt fragt, ob das
Video korrekt sei, da wusste ich, dass wir
gewinnen werden.«
Seit 1964 macht Moller den Job, seine
Laufbahn begann mit einem der schlimms-
ten Unglücke in der Geschichte der zivilen
Luftfahrt, als eine Maschine der Turkish
Airlines, Flug 981, wegen einer schlecht
schließenden Laderaumluke am Himmel
zerbarst. 346 Menschen starben damals in
der Nähe von Paris an Bord einer DC-10,
und Moller hatte seine Berufung gefunden.
Er vertrat Angehörige, und bis heute tut
er, was er am besten kann: Er verhilft den
Hinterbliebenen zu Geld, viel Geld, mit
allen legalen Mitteln, und er findet nichts
Unanständiges dabei. Während die Hin-
terbliebenen mit ihrer Trauer kämpften,
sagt Moller, forderten sie vollkommen be-
rechtigt Rechenschaft und volle und faire
Wiedergutmachung. »Die einzige Wäh-
rung, die es für eine trauernde Familie gibt,
ist Geld«, sagt er. »Das ist die traurige
Wahrheit.«
Im Gegensatz zu Green, dem jungen
athletischen Partner, ist Moller »der Nicht-
Piloten-Typ«, ein Büromensch mit schma-
lem Kopf und auffallend großen Händen,
die stets aus den Ärmeln eines Anzugs ra-
gen. Das Geheimnis seines Erfolgs liege
darin, sagt er, dass er selbst nur so schlau
sei wie die Leute in der Jury, kein Fach-
mann für Aerodynamik oder Flugsteue-
rung oder sonst Technisches. Außerdem
habe er im Lauf von 55 Berufsjahren ge-
lernt, dass es für jeden Flugzeugabsturz
am Ende immer eine einfache Ursache
gibt: »Jury und Richter können mit ihrem
gesunden Menschenverstand zum richti-
gen Ergebnis kommen.«

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C2 PHOTOGRAPHY / DER SPIEGEL

Hinterbliebenenanwalt Moller

Als er vom Unglück
in Äthiopien hörte,
war sein erster Gedanke:
Lion Air.

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