Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

Seit März arbeiten sie bei Kreindler an
Ethiopian Airlines 302. Es ist für sie der
wichtigste Fall seit Jahrzehnten. 8 Ameri-
kaner waren an Bord der Maschine, 22 Uno-
Mitarbeiter, Entwicklungshelfer, Wissen-
schaftler, Männer und Frauen aus 35 Na-
tionen. Die Toten sind Verpflichtung, die
Umstände aufzuklären, viele Angehörige
begründen ihre Klagen gegen Boeing da-
mit, dass sichergestellt werden müsse, dass
sich vergleichbare Katastrophen nie mehr
wiederholen. Zur Aufgabe der Anwälte ge-
hört es, hinter den abstrakten Opferzahlen
die einzelnen Menschen wieder sichtbar
zu machen. 157 Tote, im Fall der Ethiopian
Airlines, das sagt sich schnell. Das Ausmaß
des Unglücks entfaltet sich erst, wenn die
Menschen, die es aus dem Leben riss, ein-
mal hervortreten.


Sara Gebremichael ist tot,sie war Ste-
wardess an Bord der Maschine, am Tag ih-
res Todes verließ sie ihre Wohnung gegen
sechs Uhr, ein Sammeltaxi der Airline hol-
te sie ab. In den Tagen zuvor war sie viel
unterwegs gewesen; erst Brasilien, dann
Indien, nun Nairobi, Kenia, ein kurzer
Flug, vergleichsweise. Ihr Mann erzählt


davon, er ist umgezogen nach dem Tod
seiner Frau, weil er es als Witwer in der al-
ten Wohnung ohne sie nicht aushielt. In
der neuen hat er einen kleinen Altar auf-
gebaut, auf einem Tisch am Fenster, darauf
stehen Fotos von ihr, wie sie lacht, wie sie
schaut, wie sie war und wie sich ihr Mann
an sie erinnert.
Getnet Alemayehu ist tot, er war Chef -
logistiker für Hilfslieferungen beim CRS,
Christian Relief Services, einer katholi-
schen Hilfsorganisation aus den USA. Seit
17 Jahren mit Rahel verheiratet, einer Pro-
grammiererin, sie kam erst kurz vor dem
Unglück von einer Dienstreise aus Lon-
don wieder. Ihre gemeinsame Tochter
Naomi ist 16, ein selbstbewusstes Mäd-
chen, das das Gespräch mit dem SPIEGEL
im Mai fast allein bestritt. Naomi ver-
brachte viel Zeit mit ihrem Vater in der
Woche vor dem Absturz, tags zuvor ging
die Familie noch einmal in ein Kaffeehaus,
wo sie keinen Kuchen aßen, weil noch
Fastenzeit war, aber schwarzen Kaffee
tranken, mit viel Zucker. Seine Frau erfuhr
vom Absturz durch CNN und sah sich
erst tags darauf dazu imstande, die Nach -
richt mit ihrer Tochter zu teilen. Die Wit-

we hat nicht gegen Boeing geklagt. Sie
hofft nur darauf, sagt sie, einen Teil ihres
Mannes zu bekommen, einen Finger, ei-
nen Zeh, irgendetwas, das sie begraben
könne.
Jared Getachev ist tot, der Kapitän der
Ethiopian Air 302. Rund vier Stunden, be-
vor er die Kontrolle über seine Maschine
verlor, machte er sich auf den Weg zum
Flughafen, seine Nachbarin Fasika, die
gerade von der Frühmesse kam, hat ihn
noch einmal gesehen. Er trug seine Pilo-
tenuniform mit den vier goldenen Streifen,
reiste mit leichtem Gepäck und plante, am
Abend wieder in Addis zu sein. Fasika
kannte den Piloten schon seit acht Jahren,
so lange wohnten sie Tür an Tür in einem
Wohnblock im Nordosten der Stadt.
Die Wohnungen hier sind klein, ihre
Flure eng; zu den Apartments gelangt man
wie in billigen amerikanischen Motels
über Außentreppen. Fasika erzählt, dass
sie und Getachev Freunde waren. »Er ver-
misste seine Familie, die in Kenia lebt«,
sagt sie, und »ich vermisse meinen Sohn,
der in den USA studiert«. So stützten sie
sich gegenseitig. Jared Getachev verließ
seine Familie im Alter von 19 Jahren, um

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SAMUEL HABTAB / AFP

Um Opfer des Absturzes Trauernde in Äthiopien

In den aufgebahrten Särgen befand sich nur Erde vom Unglücksort.


DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

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