Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
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Die 737 wurde bereits Mitte der Sechzigerjahre
entworfen. Für die damals üblichen, schlanken
Triebwerke genügte ihr kurzbeiniges Fahrwerk.


737-200 1967 1970 1975 1980 1985 1990


Der Dauerbrenner


Chronik der 737-Reihe von Boeing


ausgelieferte Maschinen
der Typenfamilie Boeing 737

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1984: Einführung der 737-300 mit ver-
längertem Rumpf. Aus Platzgründen ist das
Gehäuse ihrer Triebwerke unten abgeflacht.

ab 1988: Airbus drängt mit dem
neu entwickelten A320 auf den
Markt. 1994 bis 2003 folgen
die Schwestermodelle A321,
A319 und A318.

typen eingesetzte CFM56-Triebwerk hat
einen so großen Durchmesser, dass es nicht
unter die Tragflächen der kurzbeinigen
737 passte. Die Ingenieure behalfen sich
damals so, dass sie eine kleinere Spezial-
version des Motors bestellten und die
Triebwerksgondel nach unten hin ab -
plätteten. Sie war jetzt oval, nicht mehr
kreisrund, was der Maschine ein eigentüm-
liches Aussehen verlieh. Gestört hat das
niemanden; die verbesserte »737 Classic«
verkaufte sich fast 2000-mal.
Ihr Nachfolger 737NG (»Next Genera-
tion«) kam etwa ein Jahrzehnt später auf
den Markt, verbrauchsgünstiger, größer
und geeignet, noch weitere Strecken zu be-
wältigen. Das Cockpit bot eine modernere
Instrumentierung, ähnelte den Ursprungs-
modellen der 737 aus den Sech zigerjahren
aber immer noch so sehr, dass Piloten dafür
keine neue Flugberechtigung erwerben
mussten. Das war und ist ein wichtiger Fak-
tor im Flugzeugbau, weil Airlines umfang-
reiche Fortbildungen ihrer Piloten mög-
lichst vermeiden möchten. Zeit im Simula-
tor ist Zeit, in der der Pilot nicht fliegt.
Von der 737NG wurden noch einmal
7000 Stück abgesetzt, und eigentlich woll-
te Boeing nun ein neues Kurz- und Mittel-
streckenflugzeug entwickeln. Zu Beginn
des neuen Jahrtausends begannen Inge-
nieursteams in Seattle mit Überlegungen,
wie sie die 737NG ablösen oder umrüs-
ten könnten, vor allem um Sprit zu spa-
ren. Boeing verlor viel Zeit damit, Tech-
nologien für den Bau des 787 Dreamliners
auf einen 737-Nachfolger übertragen zu
wollen; das zugehörige Projekt »Yellow-
stone 1« kam nicht voran. Die Anforde-
rungen der beiden Flugzeugformate – hier
die schmale 737, in sehr hohen Stückzah-
len und hoher Frequenz produziert, dort
die 787 »wide body« mit einer Mittelsitz-
reihe, zwei Gängen und viel größerer Ka-
bine – waren zu unterschiedlich, als dass
sich Technologien, Materialien und Ver-
fahren sinnvoll übertragen ließen.
Im Konzern entstanden zwei Lager, die
Neuerer und die Reformer, und Letztere


setzten sich, am Ende mit rein ökonomi-
schen Argumenten, noch einmal durch.
Beide Fraktionen wussten, dass die 737
technisch veraltet war. Selbst im neuesten
Modell ist der heutige Industriestandard,
»Fly by Wire«, nur teilweise eingeführt.
Zum Teil geschieht die Flugsteuerung
bei der 737 immer noch über Stahlseile
und Hydraulik. In »Fly by Wire«-Flug-
zeugen hingegen übersetzen Computer
den Steuerungsbefehl des Piloten in ein
elektronisches Signal, und Elektromoto-
ren verstellen die jeweiligen Steuerflä-
chen entsprechend. Derartige Verände-
rungen konsequent umzusetzen hätte
einen kompletten Neuentwurf erfordert,
den Abschied von der 737. Das war
Boeing zu teuer, und man fürchtete den
Zeitverlust. Denn Wettbewerber Airbus
lag weit vorn.

Die Geschichte der 737 Max, die ganze
jüngere Geschichte des Boeing-Konzerns,
ist ohne Seitenblick auf Airbus nicht zu
verstehen. Die selbstbewussten Amerika-
ner unterschätzten die Kraft des Konkur-
renten. Sie wollten nicht wahrhaben, dass
der Aufstieg dieses europäischen Start-
ups zum zweitgrößten Flugzeugbauer
der Welt ein Wirtschaftswunder war, das
das ganze Spiel veränderte. 1970 gegrün-
det, gepäppelt von Regierungen, gefördert
durch eine interessierte Industrie, gelang
Airbus im Verlauf von nur drei Jahrzehn-
ten eine Revolution auf dem Weltmarkt
für Flugzeuge. Im Jahr 1999 dann die Sen-
sation: Bei Airbus gingen deutlich mehr
Bestellungen ein als bei Boeing, und das,
obwohl der amerikanische Konzern einige
Jahre zuvor den Wettbewerber McDon-
nell Douglas geschluckt hatte.

Auf diese Demütigung reagierten Boe-
ings Konzernlenker aggressiv statt weitbli-
ckend. Es hätte die Möglichkeit einer fried-
lichen Koexistenz gegeben, ein gemütli-
ches globales Duopol, das sich bei Preisen,
Lieferbedingungen und Serviceleistungen
nicht weiter in die Quere hätte kommen
müssen – zulasten der Kunden, gewiss,
aber zum eigenen Nutzen.
Boeing zog stattdessen in den Krieg ge-
gen Airbus, in der Hoffnung, die Europäer
durch Größe und Marktmacht, über Preise
und Rabatte und auch über Klagen vor
dem Welthandelsgericht wegen unzulässi-
ger Subventionen niederzuringen. Letzte-
re wurden für Boeing selbst zum Bume-
rang, zugleich entwickelte sich ein kosten-
trächtiges Wettrennen um Platz eins, das
dem Flugzeugbau insgesamt mehr schade-
te als nutzte. Zahlen über Auslieferungen
und Neubestellungen wurden zu einer Art
Fetisch, hinter dem viel wichtigere Fragen
zurückstehen mussten – wie etwa die nach
der Sicherheit oder der Umweltfreundlich-
keit der Jets.
Die Flugschauen von Farnborough bei
London und Le Bourget bei Paris, die im
Jahresrhythmus mal hier, mal dort statt-
finden, sind die zugehörigen Bühnen des
Triumphgeheuls und gegenseitiger De -
mütigung. Beide Hersteller, Airbus wie
Boeing, bunkern das Jahr über eingehende
Bestellungen, die während der Messen
dann auf kurzfristig anberaumten Presse-
konferenzen bei Häppchen und Champa-
gner unter großem Tamtam wie Sensatio-
nen präsentiert werden.
Auf dem Pariser Salon 2017 konnte
Boeing vor allem mit der nagelneuen 737
Max punkten, für die damals sensationelle
571 Bestellungen eingingen, ein Auftrags-
wert von etwa 75 Milliarden Dollar nach
Listenpreis. Auch ein Jahr später in Farn -
borough lag Boeing klar vor Airbus, und
2018 wurde für die Amerikaner ein beson-
ders süßes Jahr: Erstmals konnten sie ihren
Umsatz auf 100 Milliarden Dollar steigern,
25 Milliarden mehr, als Airbus zu bieten
hatte. Man feierte die Auslieferung von

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Ein kostenträchtiges
Wettrennen um Platz eins,
das dem Flugzeugbau
mehr schadete als nutzte.
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