Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
Boeings Ingenieure platzieren die neuen, riesigen
Triebwerksgondeln der 737 Max höher und weiter vorn
an den Tragflächen, um ausreichend Bodenfreiheit
zu gewinnen. Dadurch ändern sich der Schwerpunkt
der Maschine, Auftriebs- und Trimmungsverhalten.

1995 2000 2005 2010 2015 2018 737 Max 8


626
580

241

282

401

ausgelieferte Maschinen
der Typenfamilie A

2016: Erste Auslieferung des A320neo. Dessen
geringer Spritverbrauch setzt Boeing unter Druck.

2017: erste Auslieferung
der 737 Max
376

806 Flugzeugen binnen eines Jahres, das
war Rekord. Und man konnte volle Auf-
tragsbücher für die kommenden sieben
Jahre verkünden.
Der Absturz der Lion-Air-Maschine
Ende Oktober 2018? War für Boeing kein
Thema. Er sorgte auch ökonomisch letzt-
lich nur für einen kleinen Knick; nach
Weihnachten hob die Boeing-Aktie wieder
ab und flog buchstäblich auf ihren histori-
schen Höchststand von 446 Dollar und ei-
nen Cent, gemessen neun Tage vor dem
Absturz in Äthiopien am 1. März 2019.
Dann kam der Crash von Ejere.
Beim diesjährigen Salon von Le Bourget
im Juni war Boeing zum Leisetreten ver-
urteilt, wirkte aber wenig glaubwürdig da-
bei. Vorstandschef Dennis Muilenburg hat-
te im Lauf der Wochen zuvor schon einige
Fernsehauftritte absolviert, in denen er das
Thema »Sicherheit über alles« variierte,
er hatte einen offenen Brief geschrieben,
und die anfängliche Zerknirschung wich
zunehmend Formulierungen, die offen-
kundig von den Hausjuristen mit Blick auf
kommende Prozesse gewählt waren. Die
Tragödien in Verbindung mit Lion Air und
Ethiopian lasteten zwar auf den »Herzen
und Hirnen« (»hearts and minds«) aller
Boeing-Leute, sagte Muilenburg, er sei
aber ȟberzeugt von der Sicherheit unse-
rer Flugzeuge«. Zum Auftakt der Air Show
bei Paris redete er von der Vergangenheit
gar nicht mehr, sondern nur noch von der
Zukunft. Man mache »gute Fortschritte«
bei der Wiederzulassung der 737 Max.
Ein mit Boeing-Sprecher Paul Bergman
verabredetes Gespräch mit dem SPIEGEL
am Rande der Air Show endete abrupt
nach etwa fünf Minuten, weil Bergman
keine Fragen zu den Abstürzen und ihren
Folgen für das Unternehmen beantworten
wollte. Die Stimmung in der Belegschaft?
»Dazu äußern wir uns nicht.« Die Ermitt-
lungen des US-Justizministeriums in Sa-
chen Zertifizierung der 737 Max? »Ich bit-
te um Verständnis, dass ich mich dazu
nicht äußern kann.« Wieso hat sich das
FBI eingeschaltet? »Dazu kann ich leider

nichts sagen.« Die anlaufenden Schadens-
ersatzverfahren? »Sorry«, sagte Paul Berg-
man, »zu Schadensersatzverfahren äußern
wir uns grundsätzlich nicht.«

Es gibt im Netz eine Debattedarüber, ob
Seattle den Beinamen »Rainy City« zu
Recht trägt oder nicht. Was die Regen -
mengen angeht, ist der Titel gewiss falsch,
was die Häufigkeit von Schauern anlangt,
könnte er durchaus verdient sein. An 152
Tagen im Jahr fallen Tropfen auf die Stadt
am Puget Sound, der wie ein riesiger aus-
gefranster Fjord in den Nordwesten der
USA eingeschnitten ist. Mitte Juni regnet
es einmal tagelang nicht in Seattle, statt-
dessen ist es heiß und trocken, und die
Menschen drängen sich auf den Terrassen.
Die Lokalzeitungen sind voll mit Geschich-
ten über das erstaunlich gute Wetter.
Die Gegend am äußersten nordwestli-
chen Zipfel der USA, die erst gegen Ende
des 19. Jahrhunderts der Wildnis entrissen
wurde, strotzt heute vor wirtschaftlicher
Kraft. Microsoft beschäftigt 47 000 Leute
hier, Amazon hat 45 000 Mitarbeiter. Die
Militärbasis Lewis-McChord am Pazifik
ist mit 56 000 Beschäftigten einer der größ-
ten Militärstützpunkte der Welt, der Flug-
hafen von Seattle-Tacoma ist ein weiterer
großer Arbeitgeber. Die Stadt und ihre
Umgebung dampfen vor Prosperität und
Wohlstand, die sie nicht zuletzt Boeing
verdanken, seinen 80 000 Beschäftigten
in und um den Puget Sound, an den Stand-
orten Seattle und Everett, Renton, Frede -
rickson und Auburn.
Wer vom Flughafen Tacoma kommt,
fährt auf der teils 14-spurigen Interstate 5
bald am Boeing-Field entlang, wo in der
»Plant 2« einst Tausende Bomber für den
Weltkrieg gebaut wurden. Später entstan-
den hier die ersten Prototypen der Boeing


  1. Wenn Kunden des Konzerns ihre neu-
    en Maschinen aus Seattle abholen, dann
    findet die Übergabe auf dem legendären
    Flugfeld statt.
    Der Flugzeugbau im 21. Jahrhundert
    folgt ruhigen, exakt getakteten Abläufen.


In Everett, eine gute halbe Stunde nördlich
von Downtown Seattle, werden in einer
dem Volumen nach angeblich größten Hal-
le der Welt die Boeing »wide bodies« ge-
baut, die großen Langstreckenflieger. Die
legendäre 747 wird noch immer in einzel-
nen Exemplaren gefertigt, ein ikonischer
Apparat, der aus sechs Millionen Einzel-
teilen besteht. Rohlinge der 767 gleiten im
Tagesverlauf gemächlich durch die »Buch-
ten« genannten Fertigungsstraßen, auch
die von vielen Kinderkrankheiten und
Pannen gebeutelte 787 ist von den Gale-
rien aus zu sehen, der »Dreamliner«.
An einem Mittwoch Mitte Juni wird ge-
rade das 879. Exemplar einer 787 fertig,
für den Kunden Turkish Airlines. Hinter
der Maschine liegen weitere Rümpfe mit
den laufenden Nummern 881 und 883 im
Dock, was sich so erklärt, dass in Everett
nur jeder zweite Dreamliner gefertigt wird.
Die Maschinen mit den geraden Nummern
werden seit 2011 am anderen Ende der
USA, an der Ostküste in North Charleston,
South Carolina, endmontiert.

Nach dem zweiten Absturzeiner 737
Max binnen fünf Monaten machten im
April auch noch Gerüchte die Runde, dass
das Werk in South Carolina fortgesetzt
minderwertige Ware abliefere. Von Mate-
rialfehlern war die Rede, und in den letz-
ten Junitagen wurde bekannt, dass die
wegen der Abstürze eingeleiteten Unter-
suchungen des Justizministeriums auch
auf die Produktion der 787 ausgeweitet
worden seien. Der SPIEGELhat Kenntnis
von weiteren schweren Vorwürfen, die bei
der europäischen Luftfahrtbehörde Easa
gegen Boeing erhoben worden sind.
Im Juni traf bei der Easa in Köln nach
SPIEGEL-Informationen die schriftliche Be-
schwerde eines hochrangigen, deutschstäm-
migen Boeing-Ingenieurs ein. Martin Bi-
ckeböller war bei der Entwicklung der 787
dafür zuständig, den Produktionsprozess
zu begutachten. Wer die Hallen in Everett
begeht, bekommt eine Ahnung von den
Bemühungen, die Flugzeugfertigung im-

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019 17
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