Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

nalismus, sagt er, sei nur seine zweite
Karriere. Er hat einst in Afrika Mathe -
matik unterrichtet. Dort traf er seine Frau,
eine Journalistin aus Seattle, und sie war
schließlich der Grund, warum es ihn in den
Nordwesten der USA verschlagen hat.
Mittlerweile hat Gates Dutzende Infor-
manten hier, »sehr hilfreiche Leute«, sagt
er. Sie wohnen in Seattle, in Everett, in
Renton, in typischen Holzhäusern oder in
einem der riesigen Wohnviertel, die um
die Flugzeugwerften von Boeing in der
Region gewuchert sind. Er muss seine
Kontaktleute heimlich treffen, an unwahr-
scheinlichen Orten, oder muss verschlüs-
selt mit ihnen kommunizieren. Boeing-
Leute, die intern oder gegenüber Behör-
den Sicherheitsbedenken melden, gehen
ein großes Risiko ein. »Sie werden diskri-
miniert, geschnitten, und viele fliegen aus
der Firma raus«, sagt Gates. Boeing be-
streitet das, sagt stattdessen, der Konzern
habe starke Vorkehrungen zum Schutz
von Mitarbeitern, die sich mit Sicherheits-
bedenken an die Behörden wenden. An
diese Regeln halte man sich strikt.
So selbstbewusst das Unternehmen nach
außen auftritt, so ängstlich greift es nach


innen durch. Whistleblower gelten als Ver-
räter, und Verräter dürfen nicht auf Gnade
hoffen. Seit geraumer Zeit beobachtet
Gates allerdings, dass es hinter den Werks-
toren gärt. Er kann es ablesen an der Zahl
derer, die trotz großen persönlichen Risi-
kos mit ihm sprechen wollen. Ȇber viele
Jahrzehnte in Boeings Geschichte waren
die Mechaniker unglaublich stolz darauf,
wo sie arbeiteten«, sagt Gates. »Viele ha-
ben diesen Stolz verloren.« Eine Entfrem-
dung hat stattgefunden zwischen der Füh-
rung des Unternehmens und der Beleg-
schaft, ein Ermüdungsbruch.
Die Entfremdung begann mit dem Zu-
sammenschluss von Boeing mit McDonnell
Douglas im Jahre 1997 und dem immer
stärkeren Augenmerk auf die Aktiendivi-
dende, sagt Gates. Der langjährige Vor-
standschef James McNerney, Vorgänger
des aktuellen CEO Muilenburg, schwor das
Unternehmen auf einen radikalen Profit-
kurs ein. Der Ökonom McNerney legte
sich gezielt mit den Gewerkschaften an,
die bis dahin zum festen Bestandteil der
Unternehmenskultur und zum Stolz der
Belegschaft gehört hatten. Bis hoch in die
Chefetagen waren Boeing-Leute gewerk-

schaftlich organisiert, worauf McNerney
keinerlei Rücksicht nahm, im Gegenteil.
Schon einer von McNerneys Vorgän-
gern, Philip Condit, litt offenkundig am
traditionsreichen Standort im Puget Sound
und wollte raus aus der Seattle-Kultur.
Condit versetzte der Stadt einen schweren
symbolischen Tiefschlag, als er die Kon-
zernzentrale nach einer Art Städtewett -
bewerb im Jahr 2001 nach Chicago ver-
legte. In den grauen Bürotower dort zogen
zwar nur 500 Beschäftigte, aber die Geste
tat in Seattle vielen sehr weh. McNerney
führte Condits Abbrucharbeiten fort, in-
dem er einen Teil der 787-Produktion nach
Charleston umsiedelte – ungeachtet der
Tatsache, dass es dort gar keine qualifizier-
ten Mechaniker und Ingenieure im Flug-
zeugbau gab. Warum? Weil in South Ca-
rolina, sagt Gates, der Grad der gewerk-
schaftlichen Organisation der niedrigste in
ganz Amerika ist.
Bis Ende der Neunzigerjahre war Boeing
eher ein ingenieurgetriebenes Unterneh-
men. Danach arbeiteten Konzernchefs wie
Harry Stonecipher und sein Nach folger
Condit vor allem daran, den Flugzeugbau
auf Marge zu trimmen. »Als Anleger in-

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019 19


GARY HE / EPA-EFE / REX

Boeing-Produktion in Renton

Der US-Konzern zog in den Krieg, in der Hoffnung, den Konkurrenten niederringen zu können.

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