Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

well, kommissarischer Chef der FAA, vor-
her Vizechef der Behörde. Er saß 17 Tage
nach dem Absturz in Äthiopien vor dem
Luftfahrt-Unterausschuss des US-Senats
im Hart Senate Office Building von Wa-
shington und wand sich zweieinhalb Stun-
den lang.
Der Ausschussvorsitzende Ted Cruz
sagte zur Begrüßung und Einleitung be-
merkenswerte Sätze von großer Schönheit
über die Abstürze, über Vertrauen und Si-
cherheit, die von Elwell und den anderen
Offiziellen im Zeugenstand im Verlauf der
Sitzung nicht mehr überboten wurden. El-
well machte eine besonders jämmerliche
Figur. »Ich bin mir nicht sicher, was Sie
meinen«, entgegnete er manchmal auf Fra-
gen. »Das muss ich Ihnen später heraus-
finden.« Oder: »Die Antwort darauf, Herr
Senator, weiß ich nicht.«
Elwell sprach von der »Sicherheit über
alles«-Kultur der FAA und verwies auf den
großen Fortschritt in Sachen Sicherheit.
Seit 1997, sagte er, sei das Risiko eines töd-
lichen Unfalls in den USA um 94 Prozent
gesunken, und in den vergangenen zehn
Jahren habe sich nur ein einziger tödlicher
Unfall bei mehr als 90 Millionen Flügen
ereignet, als im April 2018 eine Frau ums
Leben kam, weil das Triebwerk einer Boe-
ing 737-700 in der Luft explodierte und
das Fenster neben ihr zerbersten ließ. El-
well war so zu verstehen, dass die Abstürze
zwar bedauerlich, aber doch nur Ausnah-
men von einer intakten Regel seien. Auch
die Prüfprozesse der FAA seien intakt.


Elwell hatte Zahlen zur 737 Max mitge-
bracht. Die FAA sei in den Entwicklungs-
prozess voll integriert gewesen. Mitarbei-
ter der Behörde seien bei 133 von 297 Test-
flügen an Bord gewesen, auch bei solchen,
bei denen die MCAS-Software geprüft
worden sei. Über MCAS produzierte El-
well an jenem 27. März im Anschluss al-
lerdings einen solchen Wortsalat, dass ihm
kaum mehr zu folgen war. Die Software
sei gar kein Programm, sondern diene le-
diglich dazu, sagte Elwell mehrfach, dass
sich die Steuerung des Flugzeugs »so an-
fühlt, wie sie sich anfühlen soll«, bezie-
hungsweise, damit sich die 737 Max »so
anfühlt wie die 737NG«. MCAS, sagte El-
well, sei auch kein System, sondern nur
ein Supplement, aktiv nur in einem »sehr
schmalen Flugsegment«, Elwell erntete lee-
re Blicke für seinen Vortrag.
Irgendwann schimpfte der demokrati-
sche Senator Richard Blumenthal: »Wenn
ich an Bord dieser Maschinen gewesen
wäre, hätte ich einen Fallschirm haben wol-
len.« Und Elwell antwortete auf die Frage,
warum es eigentlich gang und gäbe sei,
dass eine Firma ihre eigenen Produkte zer-
tifiziere: »Das machen wir seit 60 Jahren
so, es ist Teil des Systems, das zu der Si-
cherheit geführt hat, die wir heute haben.«
Das ist eine eigenwillige Version der
Wahrheit. Die FAA wurde 1958 vom US-
Kongress geschaffen, als Reaktion auf ei-
nen Zusammenstoß zweier Passagierflug-
zeuge über dem Grand Canyon, bei dem
128 Menschen umgekommen waren. Flug-

zeuge waren damals noch wesentlich primi -
tivere Apparate als heute, und so konnte
die Behörde ihrem Prüf- und Zulassungs-
auftrag stets genügen. Mit wachsender
Flotte und steigenden Flugfrequenzen
musste die FAA in zunehmendem Maße
Deals eingehen mit den Herstellern und
Kontrollarbeiten an sie delegieren. Seit
2005 darf die FAA Boeing und anderen
Konzernen erlauben, eigene Mitarbeiter
zur FAA-Tauglichkeitsprüfung zu »dele-
gieren«. Das Problem ist nur, dass dieses
System der delegierten Sicherheitsinge-
nieure in der Praxis nicht funktioniert.
Die »Authorized Representatives« (ARs)
mögen theoretisch an die FAA berichten,
weil sie aber Boeing-Mitarbeiter sind, ist
ihre Loyalität zum eigenen Laden im
Zweifelsfall höher – und der Druck durch
eigene Vorgesetzte größer. Ein Prüfbericht
von 2015 hielt fest, dass die FAA de facto
nur über vier Prozent aller bei Flugzeug-
zulieferern Delegierten wirklich die di -
rekte Aufsicht führte, ein noch früherer
Prüfbericht von 2011 listete für die Zeit
zwischen 2005 und 2008 unter anderem
45 Vorfälle auf, in denen der FAA man-
gelnde Sorgfalt vorgeworfen wurde. Kein
Wunder bei der schier unmöglichen Mis-
sion. 1300 Leute beschäftigt die FAA in
ihren Zertifizierungsbüros, Boeing hat
allein 56 000 Ingenieure. Augenhöhe zwi-
schen der Industrie und der Behörde ist
da kaum herzustellen.
Der Deregulierungsdrang von US-Prä-
sident Donald Trump droht die Verschmel-
zung von Kontrolleuren und Kontrollier-
ten weiter zu beschleunigen. Kurz nach
Amtsantritt unterzeichnete Trump zwei
folgenschwere Erlasse, Executive Order
13 771 und 13 777, die die unabhängige Au-
torität der FAA weiter untergraben könn-
ten, indem sie die drastische Reduzierung
von Regulierungsvorschriften bei allen Re-
gierungsstellen anordneten und so den
Auftrag der FAA noch weiter zur Industrie
hin verschieben dürften. In diese Richtung
geht auch der »FAA Reauthorization Act«
von 2018, verabschiedet wenige Wochen
vor dem Lion-Air-Crash.
Der politische Wille zum Outsourcing
ehedem hoheitlicher Aufgaben an die In-
dustrie hat das bislang gut funktionierende
globale Sicherheitssystem, in dem die FAA
als Hüterin des »Goldstandards« galt,
schwer erschüttert. Was die FAA geprüft
und für tauglich befunden hatte, wurde
von der Easa oder der chinesischen Luftsi-
cherheitsbehörde übernommen. Ob das
noch gilt, wird der Prozess der Wiederzu-
lassung der 737 Max zeigen.
Die Vorstellung, dass die FAA die Max-
Maschinen wieder zulässt, andere Behör-
den aber nicht mehr folgen, ist für die Luft-
fahrtbranche reiner Horror. Wenn Herstel-
ler künftig mehrere Behörden von der
Güte ihrer Ware überzeugen müssen, ver-

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019 23


STEPHEN BRASHEAR / GETTY IMAGES

Sensoren an der Außenhaut einer Boeing 737 Max

Abschied vom ehernen Prinzip der Redundanz.

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