Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
Soziales

CDU-Ostpolitiker machen


Druck bei Grundrente


 Prominente CDU-Politiker aus den
neuen Ländern drängen die Große
Koalition zu einer Einigung im Grund-
rentenstreit. »Die Einführung der im
Koalitionsvertrag zugesagten Grundren-
te ist nichts weniger als eine Frage der
Glaubwürdigkeit und des Vertrauens«,
sagt Thüringens CDU-Chef Mike Moh-
ring. »Dieses Vertrauen fehlt derzeit den
Parteien der Großen Koalition, und das
spüren wir in den Ländern.« In Sachsen

und Brandenburg wird am 1. September
ein neuer Landtag gewählt, Thüringen
folgt Ende Oktober. Auch deshalb wird
das Schicksal der Grundrente dort auf-
merksam verfolgt. Die Union sperrt sich
bislang gegen den Plan von SPD-
Arbeitsminister Hubertus Heil, die neue
Leistung ohne Bedürftigkeitsprüfung
einzuführen. Diese Debatte sei bei Rent-
nern mit sehr niedrigen Alterseinkünf-
ten »lebensfremd«, sagt Mohring. Auch
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rei-
ner Haseloff fordert: »Die Grundrente
muss kommen.« Die Bedürftigkeitsprü-
fung sei vorwiegend ein westdeutsches
Problem und betreffe den Osten nur
wenig, da die Ver-
mögensverhältnis-
se andere seien.
»Dennoch braucht
es ein einfaches
Verfahren zur Ver-
hinderung von
Missbrauch«, sagt
der Landeschef.
Außerdem ver-
weist Haseloff auf
den Arbeitsmarkt.
Um das Problem
zu kleiner Renten
abzumildern,
müssten die Ost-
löhne sich dem
Westniveau an -
nähern. COS, RAN

JENS-ULRICH KOCH / PICTURE ALLIANCE / DPA
Mohring

27

Klimaschutz

»Nullwachstum wäre


hilfreich«


Monika Meyer, 58,
Architektin und
Leiterin des Instituts
Wohnen und Umwelt
in Darmstadt, über
die Folgen des stei -
genden Wohnraum-
konsums

SPIEGEL: In Deutschland bewohnt jeder
Einwohner im Schnitt 46,7 Quadratmeter,
Tendenz steigend. Was bedeutet das für
die Umweltbilanz?
Meyer:Je mehr Fläche zu beheizen ist,
desto mehr steigt der Energiebedarf und
damit die Treibhausgasemissionen. Das
gilt gleichermaßen für Altbauwohnungen
wie Niedrigenergiehäuser. Allerdings ist
der Energiebedarf im Altbau pro Qua-
dratmeter höher. Fast 90 Prozent unserer
Gebäude sind Altbauten. Eine Faustregel
sagt, dass wir seit Kriegsende pro Kopf
in jedem Jahrzehnt fünf Quadratmeter
mehr bewohnen. Der Effekt der energeti-

schen Sanierung wird so deutlich ab -
geschwächt. Ein Nullwachstum wäre hilf-
reich.
SPIEGEL:Lässt sich der Effekt beziffern?
Meyer:Zwischen 1995 und 2015 nahm
der Energieverbrauch der Haushalte
pro Quadratmeter Wohnfläche um etwa
30 Prozent ab. Gleichzeitig sank der
Energieverbrauch aber insgesamt nur um
13 Prozent. Grund: Die Zunahme an
beheizter Wohnfläche fraß den Effizienz-
gewinn teilweise wieder auf. Trotzdem
müssen wir natürlich mehr alte Gebäude
dämmen. Im Moment schaffen wir, etwa
ein Prozent des Bestands im Jahr energe-
tisch zu sanieren. Um die Klimaziele zu
erreichen, müssen wir das Tempo mindes-
tens verdoppeln.
SPIEGEL:In London, Paris oder Madrid
leben ganze Familien auf so viel Raum
wie ein Durchschnittsdeutscher. Sollten
wir neben »Flugscham« jetzt auch noch
»Wohnscham« entwickeln?
Meyer:Ich gebrauche scherzhaft den
Begriff »Flächenverbrauchsschweinchen«.
Aber wir sind nicht nur deshalb Schwein-
chen, weil wir in der Wohlstandsgesell-
schaft zu unserem Glück immer mehr
Wohnraum brauchen. Sondern es liegt

wesentlich an der deutlichen Zunahme an
kleinen Haushalten: Eine Durchschnitts -
familie zieht 1970 in ein 130-Quadratmeter-
Haus. Erst ziehen die Kinder aus, dann
stirbt einer der Partner, und der verbliebe-
ne zieht nicht um. Das hat psychologische
Gründe, aber häufig auch wirtschaftliche.
In den Ballungsräumen ist aktuell die Alt-
miete für eine 4-Zimmer-Wohnung oft
günstiger als die Neumiete für 1,5 Zimmer.
SPIEGEL:Bremsen die teuren Mieten den
Immer-größer-Trend gar nicht?
Meyer:Doch. In Frankfurt am Main bei-
spielsweise geht der Pro-Kopf-Flächen-
konsum aufgrund der hohen Wohnkosten
zurück. Auch deswegen werden kleinere
Neubauwohnungen angeboten. In der
Situation ist es hilfreich, wenn Wohnungs-
baugesellschaften alleinstehende alte
Menschen durch ein Umzugsmanagement
unterstützen, in eine kleine Wohnung
umzuziehen. Künftig dürfte sich der Trend
zum Umzug im Alter noch verstärken.
SPIEGEL:Setzen Sie auf Einsicht?
Meyer:Die heutigen Babyboomer, also
die 50- bis 60-Jährigen, scheinen flexibler,
als ihre Eltern es noch waren, von denen
es hieß: Einen alten Baum kann man nicht
verpflanzen. AB

DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

Batterieforschung

Altmaier rudert zurück


 Im Streit um die Vergabe der Batterie-
zellenforschung nach Münster und
Ibbenbüren räumt das Wirtschaftsminis-
terium ein, sich für den umstrittenen
Standort Münster ausgesprochen zu
haben. Demnach sei die Entscheidung
des Forschungsministeriums für Müns-
ter »nach einem Austausch mit dem
Wirtschaftsministerium getroffen und
von diesem mitgetragen« worden, teilt
das von Peter Altmaier (CDU) geführte
Haus mit. Während das Forschungs -
ministerium von Anja Karliczek (CDU)
die Vergabe unter umweltpolitischen
und forschungsrelevanten Gesichtspunk-
ten geprüft habe, war das Wirtschafts -
ministerium für die Bewertung aus
industriepolitischer Sicht zuständig. Das
Ministerium habe im Hinblick auf dieses
Kriterium »den Standort Münster als
geeignet eingestuft und den Standort-
vorschlag für Münster befürwortet«.
Karliczek war in die Kritik geraten, weil
Ibbenbüren in ihrem Wahlkreis liegt
und Münster an diesen grenzt (SPIEGEL
28/2019). Die Ministerpräsidenten von
Bayern, Baden-Württemberg und Nie-
dersachsen hatten die Vergabe kritisiert.
Das Wirtschaftsministerium hatte
bisher Karliczeks Darstellung wider-
sprochen und die eigene Präferenz für
Münster verschwiegen. ABE, MSA

ANDREAS KELM / IWU
Free download pdf