Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

30 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019


Deutschland

E


s ist Freitagnacht in der Frank -
furter City, drei Tage bevor am
Hauptbahnhof ein achtjähriger
Junge sterben wird, weil ihn ein
fremder Mann plötzlich vor einen einfah-
renden ICE stößt.
Ein 42-jähriger Eritreer, der seit 30 Jah-
ren in Frankfurt lebt, hält mit seinem Peu-
geot vor einem Hotel an der Messe. Dort
übernachtet eine Tante von ihm, seine
Freundin begleitet die Verwandte noch auf
ihr Zimmer. Er sei in der Zeit ausgestiegen,
erzählt er, um zu telefonieren. In diesem
Moment sei ein Mann aus Richtung Haupt-
bahnhof auf ihn zugerannt und auf seinen
Beifahrersitz gesprungen. Er habe Tigrinya
gesprochen, eine Sprache der Eritreer. »Er
sagte zu mir: Fahr los, die Polizei verfolgt
mich!« Dann »wollte er mich überreden,
ihn zur Schweizer Grenze zu fahren«. Als
der Peugeotfahrer dies abgelehnt und die
Portiers vor dem Hessischen Hof winkend
zu Hilfe gerufen habe, sei der Mann aus-
gestiegen und in die Dunkelheit gerannt.
Der eritreische Einwanderer ist über-
zeugt: Das war Habte A., jener Lands-
mann, der am Montagmorgen am Haupt-
bahnhof ein Kind getötet haben soll. Er
habe ihn auf den veröffentlichten Fotos
wiedererkannt. An jenem Freitag habe er
nicht verwirrt oder aggressiv gewirkt, nur
ängstlich, erinnert sich der Mann bei einem
Treffen in einem Frankfurter Restaurant.
Der Mann, den er beschreibt, Habte A.,
40 Jahre alt, geboren in Eritrea, sitzt seit
Dienstag in Untersuchungshaft. Die Staats-
anwaltschaft wirft ihm Mord und zweifa-
chen versuchten Mord vor. Zur Tat
schweigt er bislang. Er teilte lediglich mit,
Tage zuvor mit dem Zug aus Basel nach
Frankfurt gekommen zu sein, geschlafen
habe er auf der Straße.
Was Habte A. in den Tagen vor der Tat
in Frankfurt genau unternahm, ist noch
unklar. Und auch auf die drängende Frage,
warum er, selbst Vater von drei kleinen
Kindern, einen achtjährigen Jungen in den
Tod stieß, gibt es keine Antwort. Aussagen
deuten darauf hin, dass er psychisch krank
ist. Die Staatsanwaltschaft will ihn nun
psychiatrisch begutachten lassen.
Der Schock von Frankfurt trifft Deutsch-
land mitten in den Sommerferien, Millio-
nen stehen dieser Tage an Bahnhöfen auf
überfüllten Bahnsteigen, um in den Urlaub


Aus dem Nichts

VerbrechenHandelte der Mann vom Frankfurter Hauptbahnhof im Wahn, als er


eine Mutter und ihren achtjährigen Sohn vor einen ICE stieß? Der Fall
rührt an Urängste. Doch einen absoluten Schutz vor solchen Taten kann es nicht geben.

PATRICK SCHEIBER / IMAGO
Free download pdf