Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

zu fahren, zur Arbeit oder um die Familie
zu besuchen. Allein den Frankfurter Bahn-
hof passieren täglich bis zu 500 000 Men-
schen. Viele Menschen reagierten entsetzt,
fassungslos.
Es hätte wohl jeden treffen können. Der
Täter wählte das Kind und die Frau nach
allem, was bisher bekannt ist, willkürlich
als Opfer aus. Zufällig, wie jene 149 Men-
schen, die sterben mussten, weil sie aus-


gerechnet in der Germanwings-Maschine
saßen, die der Pilot Andreas Lubitz im
März 2015 in Suizidabsicht gegen einen
Berg lenkte. Auch in Frankfurt zeigt sich,
wie sehr Gewalttaten verstören, bei denen
ein Mensch Schicksal spielt und das Leben
anderer beendet, die ihm nichts getan ha-
ben, die er noch nicht einmal kannte. Es
ist eine Tat, die Urängste auslöst, weil sie
scheinbar ansatzlos passiert, ohne Grund,

wie aus dem Nichts. Und gegen die es kei-
nen absoluten Schutz geben kann, keine
Maßnahme, die so etwas sicher verhindert.
Dass der Tatverdächtige ein Eritreer ist,
trifft die deutsche Gesellschaft an einer be-
sonders empfindlichen Stelle. Die Flücht-
lingskrise 2015 hat die Ängste vor Fremden
befeuert, sie hat die Rechtspopulisten stark
gemacht. Bei jeder Straftat wird genau re-
gistriert, wer sie begangen hat. Viele Bürger
fürchten, die hohen Flüchtlingszahlen führ-
ten auch zu einer gesteigerten Kriminalität.
Das wird noch befeuert von schwerwiegen-
den Gewalttaten durch Asylbewerber, wie
im Fall des Irakers Ali B., der im Mai 2018
in Wiesbaden die 14-jährige Schülerin Su-
sanna vergewaltigt und ermordet haben soll.
Die Hasspolitiker von rechts nutzen die
Furcht aus und schüren sie, um Stimmung
zu machen gegen Flüchtlinge und um das
Land weiter zu spalten. Bereits Stunden
nach der Tat von Frankfurt prangerte AfD-
Fraktionschefin Alice Weidel die angeblich
»grenzenlose Willkommenskultur« an,
auch wenn der Eritreer, wie sich bald he-
rausstellte, gar nicht als Flüchtling in
Deutschland lebte.

Statistisch gesehenvergeht in Deutsch-
land kein Tag, ohne dass Menschen Opfer
eines Mordes oder Totschlags werden. Vie-
le der Taten kommen nur als Randnotiz
in den Medien vor. Was macht den Tod
von Gleis 7 so berührend?
»Ein solch unvorhersehbares Gewaltphä-
nomen, von einem Menschen ausgelöst,
zeigt uns, wie instabil und fragil unsere Welt
ist«, sagt der Bielefelder Gewaltforscher
Andreas Zick. »Dazu ist das Opfer ein Kind,
das besonderen Schutz genießen müsste.«
Der Bochumer Kriminologe Thomas
Feltes sagt: »Die Handlung verstößt gegen
alles, was uns als Mensch ausmacht. Für
Sexualdelikte oder häusliche Gewalt gibt
es Erklärungsschemata. Das sind Taten,
die noch in irgendeiner Form in unser
Denkmuster passen. Bei der Tat in Frank-
furt ist das anders.« In den meisten Fällen
von Gewalt kenne das Opfer den Täter.
Innenminister Horst Seehofer (CSU)
versprach nach der Tat mehr Sicherheit.
Doch wie kann es die geben vor mögli-
cherweise kranken Tätern, die nicht ein-
mal eine Waffe brauchen?
Am Tag nach dem Frankfurter Verbre-
chen baten reihenweise besorgte Eltern
die anwesenden Bahnmitarbeiter am
Bahnhof, sie zu den Gleisen zu begleiten
und auf die Kinder achtzugeben. Nach ei-
nem lauten Geräusch in der Bahnhofshalle
blickten Menschen angstvoll auf.
Dabei sind Bahnhöfe womöglich siche-
rer geworden. Wie aus dem internen

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Gedenkstätte am Frankfurter Bahnhof
Es hätte wohl jeden treffen können
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