Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

»Lagebild Bahn 2018« hervorgeht, ist die
Zahl der registrierten Straftaten auf Bahn-
anlagen »leicht rückläufig«. Die Polizei
verzeichnete deutlich weniger Diebstähle,
allerdings nahmen Drogen- und Sexual -
delikte zu.
Statistiken und Wahrscheinlichkeiten
beeinflussen unser Sicherheitsgefühl oft
weniger stark als grausame Einzeltaten.
Oder Fälle, die an vorhandene Ängste und
Vorurteile anknüpfen. Eine Rolle spielt da-
bei womöglich, dass unser Alltag sicherer
und gewaltärmer geworden ist. Nicht nur
registrierte Gewalttaten gingen seit 2007
zurück, auch die Zahl schwerer Unfälle,
im Verkehr und anderswo. Wir erwarten
als Gesellschaft, Risiken ausschließen zu
können, und reagieren umso emotionaler,
wenn die Realität uns vor Augen führt,
dass dies nicht immer gelingt.
Es ist Montagmorgen, 9.59 Uhr, als der
ICE 529 aus Düsseldorf an Gleis 7 des
Frankfurter Hauptbahnhofs einfährt. Ur-
laubsreisende, viele Familien mit Kindern
warten auf den Schnellzug nach München.
Äußerungen von Behördenvertretern legen
nahe, dass Überwachungskameras aufge-
zeichnet haben, was dann passiert. In Ab-
schnitt E steht Habte A. versteckt hinter
einem Pfeiler. Als der ICE auf seiner Höhe
ankommt, stößt A. kurz hintereinander
eine 40-jährige Frau und dann deren 8-jäh-
rigen Sohn aufs Gleis. Die Mutter kann sich
auf einen Fußweg retten, doch der Junge
wird vom ICE erfasst. Er stirbt am Tatort.
Habte A. versucht, noch eine weitere
Frau vor den Zug zu stoßen. Aber die 78-
Jährige wehrt sich. Sie verletzt sich dabei
an der Schulter und erleidet einen Schock.
Im ICE hören Zeugen die Schaffnerin: »Um
Gottes willen, der hat die vor den Zug ge-
schubst!« Der Zug bremst abrupt, laut einer
Durchsage habe es einen »Personenscha-
den« gegeben, berichten Zuggäste später.
Draußen flieht der mutmaßliche Täter, ver-
folgt von Passanten und einem Polizisten,
der privat unterwegs ist. Habte A. wird
noch in der Nähe des Bahnhofs gefasst.
Auf Gleis 7 brechen Zeugen in Tränen
aus, manche sinken in sich zusammen.
Polizisten und Feuerwehrleute eilen zum
Unfallort, Notfallseelsorger werden geru-
fen, Sicherheitsbeamte riegeln die Gleise
4 bis 9 für mehrere Stunden ab. Wegen
Handy-Gaffern werden weiße Wände als
Sichtschutz aufgestellt. Die Rettungskräfte
beziehen ihr Quartier in den Räumen der
Bahnhofsmission, einige von ihnen müs-
sen psychologisch betreut werden.
Allem Anschein nach ist Frankfurt am
Main, die Stadt, in der Menschen aus 177
Nationen zusammenleben, zufällig zum
Tatort geworden. Habte A. war wenige
Tage zuvor aus der Schweiz gekommen.
Zur Tatzeit stand er offenbar weder unter
Drogen, noch hatte er Alkohol getrunken.
Bei der Festnahme werden bei ihm weder


Handy noch Papiere gefunden. Ein Eri-
treer, der in einem Laden im Frankfurter
Hauptbahnhof arbeitet, meint, den Täter
kurz vor der Tat gesehen zu haben. »Der
hat auf dem Bahnhof rumgelungert«, sagt
er. Er habe ihn von der Kasse aus gesehen.
Der Mann sei ihm aufgefallen, weil er ein
Landsmann gewesen sei, der mehrmals
hin und her lief und einen verwirrten Ein-
druck machte.

Das steht im krassen Gegensatz zu sei-
nem bisher bekannten Leben in Europa,
das Habte A. erfolgreich zu meistern
schien. Er reiste 2006 in die Schweiz und
wurde 2008 als Asylbewerber anerkannt,
der Aufenthaltsstatus C erlaubte ihm, eu-
ropaweit zu reisen. Er kam in der Klein-
stadt Wädenswil unter und arbeitete als
Bauschlosser. Vorübergehend wurde er ar-
beitslos, doch im Januar 2017 nahm ihn
ein Jobprogramm für Erwerbslose beim
Schweizerischen Arbeiterhilfswerk SAH
auf. A. bekam einen Job-Coach an die Sei-
te, der sich nach einem geeigneten Arbeits-
platz für ihn umsah. Den fand man dann
bei den Verkehrsbetrieben Zürich in der
Karosseriewerkstatt.
Laetitia Hardegger, Kommunikations -
chefin des SAH Zürich, erinnert sich noch
gut an A. Sie hat ihn im Januar 2018 inter-
viewt für den Jahresbericht 2017, in dem
er als Vorbild vorgestellt wird. In der Bro-
schüre lobt ihn sein Chef, A. sei »immer
an der Büetz« bei der Arbeit, keiner, »der
rumplaudert oder rumsteht«.
»Er war ein sympathischer, ruhiger, of-
fener Mann, wir haben ihn als zuverlässige,
integre Person kennengelernt. Er war für
uns wirklich ein Beispiel für gelungene In-
tegration«, sagt Hardegger. A. habe dann
eine feste Stelle bekommen, was keines-
falls die Regel sei, aber er sei einfach gut
in seinem Job gewesen.
Er habe »sich durchgebissen«, um die
Anstellung zu bekommen, und warten
müssen, weil eine Stelle bei den Verkehrs-
betrieben erst frei wurde, als jemand in
Pension ging. Über die Festanstellung
habe er sich unglaublich gefreut. »Wir sind
alle völlig konsterniert und sehr traurig«,
sagt Hardegger.
Es scheint keine Verbindung zu geben,
vom Davor zum Danach, von dem Leben
eines Vorzeigeflüchtlings in den maleri-
schen Schweizer Voralpen zur brutalen
Gewalttat an Gleis 7 des Frankfurter
Hauptbahnhofs.
Der Schweißer lebte mit seiner Frau und
seinen ein, drei und vier Jahre alten Kin-
dern in einem rosa getünchten Haus im
Wädenswiler Ortsteil Tanne. Es ist eine
kleine Siedlung oberhalb der Stadt, ein
Dutzend Häuser, einige Bauernhöfe, ein
Restaurant und eine Gärtnerei. Von sei-
nem Balkon aus sah Habte A. auf eine grü-
ne Wiese und den Zürichsee.

Die Familie wohnte über einer italieni-
schen Gaststätte. Keiner der Nachbarn
möchte über Habte A. sprechen. Die Woh-
nung des mutmaßlichen Täters steht leer.
Gegen 22 Uhr durchsuchte die Polizei das
Apartment. Am nächsten Tag brachten die
Behörden die Frau und die Kinder an ei-
nen anderen Ort. Sie werden psycholo-
gisch betreut.
Habte A. ist nicht vorbestraft. Die Kan-
tonspolizei Zürich fand keine Hinweise auf
eine Radikalisierung oder ein ideologi-
sches Motiv. Er ist Mitglied der christlich-
orthodoxen Kirche in der Schweiz. Aber
laut den Schweizer Ermittlern hatte er zu-
letzt schwere psychische Probleme. Im Ja-
nuar dieses Jahres wurde er deswegen
krankgeschrieben.
Wie ernst sein Zustand war und dass er
für andere gefährlich werden konnte,
zeichnete sich am Donnerstag vergange-
ner Woche ab. Da ging in der Zürcher
Polizeizentrale für den Kanton ein Notruf
ein. Die Ehefrau des Eritreers berichtete,
A. habe sie und ihre Kinder bedroht und
in der Wohnung eingesperrt. Seine Nach-
barin soll er mit einem Messer bedroht
und ebenfalls eingesperrt haben. Laut Er-

32 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019

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