Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

mittlern sollen beide Frauen gesagt haben,
so hätten sie A. »noch nie erlebt«. Als die
Beamten eintrafen, war er verschwunden.
Das Messer nahm er mit.
Die Polizei schrieb den 40-Jährigen zur
Fahndung aus, aber auf die Schweiz be-
grenzt. Die Fahndung wurde nicht öffent-
lich gemacht. Denn die Ermittler hielten
A. nicht für gefährlich.
Ein enger Freund des mutmaßlichen Tä-
ters, den ein SPIEGEL-Reporter am Mitt-
woch in Wädenswil traf, berichtet von mas-
siven psychischen Problemen von Habte
A. Vor einigen Monaten habe es angefan-
gen, dass A. immer wieder davon sprach,
irgendwelche fremden Leute würden über
ihn reden, sagt der 30-Jährige, dessen
Name dem SPIEGELbekannt ist und der
wie Habte A. aus Eritrea stammt. Er sagt,
A. sei seit zehn Jahren mit ihm befreundet
gewesen, und schildert ihn als einen sehr
ruhigen Typ, der größere Menschenan-
sammlungen gemieden habe. »Dann fühl-
te er sich verfolgt und glaubte, jemand wür-
de ihn abholen.«
In den vergangenen Monaten habe er
deutliche Wahnvorstellungen bemerkt.
»Einmal habe ich ihn ins Fitnessstudio mit-


genommen, und sofort zeigte er auf andere
Gäste, die über ihn reden würden.« Um
A. zu beruhigen, habe er die Leute direkt
angesprochen und gesagt: »Sieh, da redet
niemand über dich. Die kennen dich doch
gar nicht.« Sein Freund habe nach außen
ruhig gewirkt, aber man habe spüren kön-
nen, dass er innerlich bebte.
Er habe ihn gedrängt, zum Hausarzt zu
gehen, was Habte A. irgendwann getan
habe. Der Arzt habe ihn dann für weitere
Untersuchungen und eine Behandlung in
ein Krankenhaus in Horgen überwiesen.
Der Zürcher Tagesanzeiger schreibt, der
Hausarzt habe bei ihm Anzeichen einer
Paranoia festgestellt.

Während der Freund berichtet, kämpft
er immer wieder mit den Tränen. Er selbst
habe einen Sohn, der acht Jahre alt sei,
sagt er. Er trägt ein weißes T-Shirt mit der
Aufschrift »Freedom«, zuletzt habe er sei-
nen Freund seltener gesehen, weil es zu
schwierig geworden sei. Am letzten Don-
nerstag habe der ihn angerufen und be-
richtet, dass seine Frau die Polizei gerufen
habe. Er müsse weg, sonst werde er ver-
haftet. »Ich habe das wieder für eine seiner

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CHRISTOPH REICHWEIN / DPA

Inhaftierter Hapte A. in Frankfurt
Vom Vorzeigeflüchtling zum Gewalttäter

Angstvorstellungen gehalten und gesagt,
dass er zum Arzt gehen sollte.« Doch dies-
mal stimmte die Information.
Ein bekannter eritreischer Aktivist aus
der Schweiz erzählt, vor etwa zwei Mona-
ten habe ein Verwandter von A. bei ihm
angerufen. Habte A. fühle sich überall ver-
folgt und erzähle, er werde ständig rassis-
tisch angegangen, im Zug, im Bus. Könne
der Aktivist helfen? Er mache sich Sorgen.
Der Aktivist sagte, Habte A. solle sich
bei ihm melden. Doch A. rief nie an.
Der forensische Psychiater Hans-Lud-
wig Kröber hat in seiner Berufslaufbahn
schon Täter begutachtet, die Wildfremde
vor einen Zug stießen, manche waren tat-
sächlich schizophren. »Bei Taten, die sinn-
los oder motivlos erscheinen, muss man
an die Möglichlichkeit denken, dass der
Täter aus einer psychischen Krankheit he-
raus gehandelt hat«, sagt er.
Auch wenn die grausame Tat vom
Hauptbahnhof singulär wirkt, sie ist es
nicht. Im ersten Halbjahr dieses Jahres
starben in Deutschland mehrere Men-
schen, die von Unbekannten auf Bahnglei-
se geschubst wurden. In Nürnberg kamen
im Januar zwei 16-Jährige zu Tode, nach-
dem sie von zwei 17-Jährigen aus dem
Landkreis Fürth auf ein Gleis gestoßen
worden waren.
Im Januar 2016 schubste ein 28-Jähriger
mit iranischen Wurzeln am Berliner U-
Bahnhof Ernst-Reuter-Platz eine 20-Jäh-
rige vor einen einfahrenden Zug. Die Abi-
turientin war sofort tot. Vor Gericht er-
klärte der Mann, er habe sich verfolgt ge-
fühlt. Einen Tag zuvor war er aus einem
psychiatrischen Krankenhaus in Hamburg
entlassen worden. Wegen seiner Erkran-
kung hielt ihn das Gericht für nicht schuld-
fähig.
Doch längst nicht alle Täter sind krank,
es scheint auch kein einheitliches Täter-
profil zu geben. Unter ihnen sind Jugend-
liche, aber auch ältere Erwachsene, mehr-
heitlich Männer, aber auch Frauen. Deut-
sche und Ausländer.
Am 20. Juli, neun Tage vor der Frank-
furter Tat, schubste ein 28-Jähriger im nie-
derrheinischen Voerde eine 34-jährige
Mutter vor die einfahrende Regionalbahn
und tötete sie. Die Staatsanwaltschaft
sprach von Mordlust und Heimtücke. Der
Täter, ein in Deutschland geborener Serbe,
hatte Cocainmetabolite im Blut, Abbau-
produkte von Kokain.
Ein 18-Jähriger, der vergangenes Jahr
in Köln einen 43-Jährigen auf die Gleise
einer U-Bahn-Station gestoßen hatte, er-
klärte später vor Gericht, er habe aus Wut
und Aggressivität gehandelt, und entschul-
digte sich bei seinem Opfer. Er kam mit
einer Bewährungsstrafe davon und muss
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