Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

ein Antiaggressionstraining absolvieren.
Sein Opfer, ein Mann, der gerade von der
Arbeit kam, hatte Glück, weil gerade keine
Bahn kam und Passanten ihm halfen.
Eine 38-jährige Frau warf vor rund zwei
Jahren in einer Münchner U-Bahn-Halte-
stelle einen Mann vor eine einfahrende
Bahn. Sie hatte zur Tatzeit knapp 1,8 Pro-
mille im Blut. Bevor die Ungarin den
Mann auf die Gleise stieß, attackierte sie
zwei weitere Personen. Auch sie war
psychisch krank. Ihr Opfer, ein Münchner
Unternehmer, wurde nur leicht verletzt,
weil der Zugführer eine Vollbremsung
gemacht hatte und drei Meter vor dem
59-Jährigen zum Stehen gekommen war.
Der U-Bahn-Fahrer hatte die 38-Jährige
bereits zuvor befördert und sagte vor Ge-
richt später aus, schon da ein »komisches
Gefühl« gehabt zu haben. Daher fuhr er
mit reduzierter Geschwindigkeit in den
Bahnhof ein, was dem 59-Jährigen wo-
möglich das Leben rettete.
Der Dresdner Rene Johne kann berich-
ten, was es heißt, Opfer einer solchen Tat
zu sein. Der 40-Jährige kam zwar mit dem
Leben davon, als ihn zwei Männer im
Frühjahr 2017 frühmorgens auf dem Weg
zur Arbeit an der S-Bahn zweimal ins
Gleisbett stießen. Doch danach war er jah-
relang traumatisiert und arbeitsunfähig.
Eine Woche nach der Tat brach er zu
Hause zusammen, wie er jetzt in einem
Telefongespräch berichtete. Mehrfach
habe er versucht, sich das Leben zu neh-
men. Häufig brechen seine Sätze ab, dann
spricht seine Frau für ihn weiter. »Mein
Mann ist heute ein anderer Mensch«, sagt
sie. Er halte es nicht mehr aus, wenn Män-
ner hinter ihm stehen. Mit der S-Bahn fah-
re er zwar wieder, steige allerdings sofort


aus, wenn sich zu viele Menschen im Wag-
gon befänden.
Die Täter, zwei Asylbewerber aus Ma-
rokko und Libyen, waren betrunken, als
sie Johne ansprachen und um ein Feuer-
zeug baten. Als er es ihnen nicht gab, wur-
den sie zornig und schubsten ihn ins Gleis.
Er konnte herausklettern, doch sie stießen
ihn erneut hinein. Erst als sich ein Zug
näherte, ließen die beiden Männer von
ihm ab.
Weil er wegen einer Armverletzung
nicht arbeiten konnte und nur Kranken-
geld bekam, wurde das Geld knapp. Die
AfD sammelte Spenden für ihn. Vor der
Bundestagswahl nutzte sie den »S-Bahn-
Schubser aus Dresden«, um gegen Asyl-
bewerber Stimmung zu machen.
Im Dezember 2017 verurteilte das Land-
gericht Dresden die Täter zu mehrjährigen
Freiheitsstrafen wegen gefährlicher Kör-
perverletzung und Nötigung. Einen Tö-
tungsvorsatz sah das Gericht nicht als er-
wiesen an. Johne sagt, er hoffe, dass die
Männer abgeschoben werden, wenn sie
freikommen.

Nach schweren Gewalttatenwird immer
gefragt, ob der Staat versagt hat. Im Fall
von Habte A. ist das bisher nicht zu erken-
nen. Die Schweizer Behörden und die Zi-
vilgesellschaft taten offenbar alles, um ihn
zu integrieren, was auch gelang.
Aber hätte die Schweizer Polizei über
die Schweiz hinaus nach ihm fahnden und
seinen Namen in das europaweite Schen-
gener Informationssystem eingeben sollen?
So wären deutsche Polizisten, falls sie ihn
an der Grenze, im Zug oder auf dem Frank-
furter Bahnhof kontrolliert hätten, mögli-
cherweise auf ihn aufmerksam geworden.

Innenminister Seehofer kritisiert die
Schweizer Kollegen nicht dafür, als er am
Dienstag in Berlin vor die Presse tritt,
trotzdem wird klar, dass er und die ver-
sammelten Sicherheitschefs mit der Ent-
scheidung der Nachbarn nicht glücklich
sind.
Seehofer ist es wichtig, der deutschen
Öffentlichkeit zu signalisieren: Der Staat
kümmert sich. Die Kanzlerin und fast alle
seine Kabinettskollegen sind im Urlaub,
auch Seehofer wollte sich ein paar Tage in
seinem Ferienhaus im Altmühltal erholen.
Stattdessen holt er die Chefs der Sicher-
heitsbehörden in Berlin zusammen. Offen-
bar spürt der Instinktpolitiker, dass nach
dem Mord am hessischen CDU-Politiker
Walter Lübcke und den Schüssen auf einen
Flüchtling im hessischen Wächtersbach die
Frankfurter Tat die öffentliche Stimmung
gefährlich aufheizen könnte.
Noch auf dem Weg nach Berlin ruft er
seinen Parteifreund, Verkehrsminister An-
dreas Scheuer, an. Der soll erreichen, dass
die Bahn mitzieht bei den schärferen Sicher-
heitsvorkehrungen, die Seehofer gern auf
den Bahnhöfen sähe. Die Bahnmanager
müssen wohl besonders überzeugt werden,
denn das wird teuer. Ȇber die Jahre wer-
den wir mit einem Millionenbetrag nicht
auskommen«, sagte Seehofer dem SPIEGEL.
Im September wolle er ein Spitzentreffen
mit Scheuer, dem Bahnvorstand sowie Ex-
perten für Bahnsicherheit einberufen.
Nicht gelten lassen will er den Einwand,
Kameras und mehr Polizei könnten Straf-
taten wie die in Frankfurt nicht verhindern.
»Wenn wir nur umsetzen, was hundertpro-
zentige Sicherheit verspricht, könnten un-
sere Behörden ihre Arbeit komplett ein-
stellen.«

34 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019


Tatort Bahnstation Voerde: Aus Mordlust vor den Zug gestoßen? Trauerfeier für getötete Jugendliche in

SASCHA STEINBACH / EPA-EFE / REX
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